Das Mangold-Urteil des Europäischen Gerichtshofs


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2010

32 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Mangold-Urteil des Europäischen Gerichtshofs stellt keine verfassungsrechtlich zu beanstandende Kompetenzüberschreitung dar*[1]/[2]

„Um einem Europa der Bürger näher zu kommen, bedarf es, woran zu arbeiten lange versäumt wurde: der Ausbildung einer europäischen Identität, aus welcher allein die Bereitschaft zur Einordnung in einen Staatenverbund erwachsen kann.“

Hans Hugo Klein.

„ Die Gewährleistung des gesetzlichen Richters ist eine besondere Ausprägung des allgemeinen rechtsstaatlichen Objektivitätsgebots und stellt sicher, dass der zuständige Richter generell vorbestimmt ist und nicht ad hoc und ad personam bestellt werden kann. Damit schützt Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG die rechtsprechenden Organe vor manipulierenden Einflussnahmen““.

„Das BVerfG wird als Mittler zwischen dem GG und der europäischen Rechtsordnung tätig und ist dabei an die Verfassung, insbesondere an die Grundrechte gebunden, die gem. Art. 1 Abs. 3 GG von allen Staatsgewalten zu beachten sind“.

„Im Schutz der demokratischen Selbstbestimmung einer politisch geeinten Gesellschaft über die ihr gemäße Ordnung findet die Souveränität heute ihre wichtigste Funktion.“[3] Dieter Grimm

1. Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kommt nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt.
2. Vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts ist dem Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art.267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Handlungen zu geben, soweit er die aufgeworfenen Fragen noch nicht geklärt hat. Zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes[4] ist zu erwägen, in Konstellationen der rückwirkenden Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union innerstaatlich eine Entschädigung dafür zu gewähren, dass ein Betroffener auf die gesetzliche Regelung vertraut[5] und in diesem Vertrauen Dispositionen getroffen hat.
3. Nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht stellt einen Verstoß gegen Art.101 Abs.1 Satz2 GG dar.[6] Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind. Dieser Willkürmaßstab wird auch angelegt, wenn eine Verletzung von Art.267 Abs.3 AEUV in Rede steht.[7] /[8]

Die Beschwerdeführerin ist ein Unternehmen der Automobilzulieferung. Sie beschäftigt in ihrer Produktionsstätte in Schleswig-Holstein über 1.200 Arbeitnehmer. Mit dem Kläger des Ausgangsverfahrens schloss sie am 18.Februar 2003 für den Zeitraum vom 19. Februar 2003 bis zum 31.März 2004 einen sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag. Der Kläger wurde als Aushilfe in der Produktion von Bremsbelägen eingesetzt. Insgesamt wurden zu diesem Zeitpunkt von der Beschwerdeführerin 56 befristete Arbeitsverträge mit zuvor arbeitslosen Personen abgeschlossen, um Produktionsspitzen abzudecken. Von diesen 56 neuen Mitarbeitern hatten 13 Arbeitnehmer -unter ihnen der Kläger des Ausgangsverfahrens- das 52.Lebensjahr bereits vollendet.[9] Die zusätzlichen Arbeitnehmer wurden nach den Angaben der Beschwerdeführerin bewusst auf der Grundlage des Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz - TzBfG) eingestellt, um Rechtssicherheit vor Entfristungsklagen zu erlangen. Solche Entfristungsklagen seien in der Vergangenheit gegen die Beschwerdeführerin erhoben worden und hätten im Erfolgsfall zu Verwerfungen bei der Personalplanung geführt. Der Kläger machte gegenüber der Beschwerdeführerin kurze Zeit später die Unwirksamkeit der Befristung seines Arbeitsvertrags geltend. Er berief sich auf die Unvereinbarkeit der Befristung auf der Grundlage von §14 Abs.3 Satz4 TzBfG mit der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28.Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl Nr.L 175/43) sowie der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl Nr.L 303/16). Das Arbeitsgericht Lübeck wies seine Klage auf Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses und auf Weiterbeschäftigung mit Urteil vom 11.März 2004 ab. Der Kläger könne sich nicht auf eine unmittelbare Wirkung der Richtlinien[10] im Verhältnis unter Privaten berufen. Die Berufung des Klägers wies das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein mit Urteil vom 22.Juni 2004 zurück. Neben dem Hinweis auf die Nichtanwendbarkeit von Richtlinien in privatrechtlichen Verhältnissen verwies das Landesarbeitsgericht zusätzlich auf die unzureichende inhaltliche Bestimmtheit und Unbedingtheit der Richtlinien. Hiergegen wandte sich der Kläger mit der Revision an das Bundesarbeitsgericht. Die Revision hatte in der Sache Erfolg.

[...]


* Mit Erläuterungen von Prof. Dr. Dr. Siegfried Schwab, Mag. rer. publ. unter Mitarbeit von Diplom-Betriebswirtin (DH) Silke Schwab und Referendarin Heike Schwab.

[1] Beschluss des BVerfG vom 06. Juli 2010 - 2 BvR 2661/06; vgl. Wahl, Das BVerfG im europäischen und internationalen Umfeld, B 37-38/2001 – die Verfassungsgerichtsbarkeit hat sich als adäquater Ausdruck und Schlussstein überzeugend bewährt, sie wurde zum Normalbestandteil der gewaltenbalancierenden Verfassung. Das BVerfG bewahrt und setzt das GG inhaltlich durch („Hüter der Verfassung“). Das BVerfG ist Teil einer Gesamtarchitektur von Verfassungsgerichten in Europa. In ihr prägt sich die horizontale Dimension des Verbundes und des Dialogs, Wahl, S. 51. Das BVerfG hat die Bedeutung der europäischen Integration früh erkannt, sich aber bereits in der Maastricht Entscheidung eine Art Notzuständigkeit vorbehalten um in Ausnahmefällen sicher zu stellen, dass die europäische Ebene ihre Kompetenzen nicht überdehnt und insbesondere grundrechtliche Mindeststandards garantiert bleiben. Das BVerfG verliert mit zunehmender Europäisierung der Rechtsordnung die Exklusivität der Prüfung und Kontrolle des in Deutschland geltenden Rechts.

[2] Das BVerfG, der EuGH und der EGMR nehmen mit Unterschieden funktional vergleichbare Rechtsschutzaufgaben wahr. Sollen kooperativ nicht gegeneinander im Rahmen eines europäischen Verfassungsverbundes tätig werden. Diese kooperative, ergänzende Gerichtspraxis findet ihre Grundlage in der Europafreundlichkeit des GG. Das Verhältnis zwischen dem BVerfG und dem EuGH ist spannen. Konkurrieren oder kooperier sie?, vgl. Kellerhof, Das BVerfG und der Kompetenzkonflikt mit dem EuGH – seit den Anfängen der europäischen Entwicklung hat sich der EuGH von den Anfängen eines „faily weak internation tribunal“ zu einem „usually influential court“ entwickelt. Inhaltlich ist der Kollisionskurs bestimmt durch die Doktrin vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts und dem Anspruch des BVerfG, über Kompetenzüberschreitungen entscheiden zu dürfen, vgl. Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, 665. Brisanz erhielt insbesondere das Lissabon – Urteil des BVerfG durch die Ausführungen zur eigenen Kompetenz bei ausbrechenden Rechtsakten der EU diese für die Rechtsordnung der BRD als unanwendbar zu erklären. Bezogen ist die Befugnis auf kompetenzwidrig ergangene Hoheitsakte und den Identitätswechsel der BRD von einem souveränen Staat zu einem europäischen Gliedstaat. Quis iudicabit – eine klassische politische Machtfrage!

[3] Aufgrund der vernetzten Rechtsordnungen und komplexen Zuständigkeitsvorbehalte ist die Rechtswegfrage im europäischen Mehrebenensystem nicht einfach, vgl. Sauer, Jurisdiktionskonflikte, 2008; Temming, EuZW 2009, 369. Hesse hat bereits Mitte der 1990er Jahre von einem Wandel der Aufgaben, der Stellung und der Wirkungsmöglichkeiten des BVerfG gesprochen, der auch auf den Bedeutungszuwachs des europäischen Rechts und des EuGH zurückzuführen ist. Nationalstaatliche Vorwürfe von ausufernden Rechtsakten werden die Frage auf, wie die drei Gericht im europäischen Verfassungsraum abgegrenzt werden können, vgl. Wahl, ApuZ 2001, 45, 48. Das europäische Recht ist durch die Rezeption nationaler Rechtsprinzipien, insbesondere den Grundrechtsschutz geprägt. So hat sich die Individualbeschwerde zum EGMR mittlerweile zu einem die Verfassungsbeschwerde ergänzenden Rechtsschutz fortentwickelt. Im Mittelpunkt des komplexen Zuständigkeitsgefüges nationaler und supranationaler Organe steht auch die nationale Identitätskontrolle als Verfassungsprinzip. Damit sollen die äußersten Grenzen europäischer Integration überwacht werden. Jurisdiktionskonflikte haben eine destruktive Wirkung, gefährden zukunftsorientierte Einigungs- und Gestaltungsprozesse und unterlaufen die Idee, dass Rechtsprechung eine streitschlichtende Instanz ist. Dies kann nur verhindert werden, wenn ebenenübergreifend, loyal Entscheidungskompetenzen strikt beachtet werden. Im Lissabon-Urteil behält sich das BVerfG vor, die europäischen Kompetenzen oder die nationale Verfassungsidentität überschreitende Unionsrechtsakte in Deutschland für unanwendbar zu erklären. Diese Ultra-vires - und Identitätskontrolle des BVerfG erstreckt sich auch darauf, dass Organe, wozu nach Art. 13 EUV i.d.F. des Vertrages von Lissabon (Art.7 EG i.d.F. des Vertrages von Nizza) auch der Gerichtshof der EU gehört, „Zuständigkeiten neu begründen, erweiternd abrunden oder sachlich ausdehnen” und damit „das vorherbestimmte Integrationsprogramm … überschreiten und außerhalb ihrer Ermächtigung … handeln”, BVerfG v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., RN 238, 240f. Ist das Urteil Mangold als sog. ausbrechendes Gerichtsurteil, BVerfGE 89, 188 ultra vires und kann damit für die Rechtsordnung in Deutschland für unanwendbar erklärt werden. Hat er mithin am allgemeinen Anwendungsvorrang des Europarechts nicht Teil und entfaltet in Deutschland keine Wirkung mehr?; vgl. Sauer, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil - Ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht? ZRP 2009, 195 – Das GG will, ja fordert die Beteiligung Deutschlands am europäischen Integrationsprozess, setzt ihr aber auch Grenzen. In dieser Gemengelage zwischen staatlicher Integrität und überstaatlicher Integration zeigen Art. 23 Abs. 1 und 3 GG die Integrationsgrenzen deutlich auf. Die Struktursicherungsklausel formuliert die Voraussetzungen für die Einbindung Deutschlands in die EU, während die Bestandssicherungsklausel der Integration und der inhaltlichen Übertragung von Kompetenzen absolute Grenzen setzt, damit dem Bundestag und den demokratisch legitimierten Abgeordneten Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben, BVerfG, NJW 1993, 3050f – „Art. 23 Abs. 1 GG stellt eine besondere Ermächtigung zur Mitwirkung bei der Entwicklung der Europäischen Union zur Verwirklichung eines vereinten Europas dar (vgl. Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, BT-Dr 12/3338, S. 6). Diese Ermächtigung ist jedoch nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG ausdrücklich an die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden; diese aber bestimmen die Schranken der verfassungsändernden Gewalt. Damit kann eine Diskrepanz zwischen dem demokratischen Kerngehalt des Art. 38 GG und dem neuen Art. 23 GG nicht entstehen. Zu dem gem. Art. 79 Abs. 3 GG nicht antastbaren Gehalt des Demokratieprinzips gehört, dass die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse sich auf das Staatsvolk zurückführen lassen und grundsätzlich ihm gegenüber verantwortet werden. Dieser notwendige Zurechnungszusammenhang lässt sich auf verschiedene Weise, nicht nur in einer bestimmten Form, herstellen. Entscheidend ist, dass ein hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau, erreicht wird, vgl. BVerfGE 83, 72 = NJW 1991, 159. Wird die Bundesrepublik Deutschland Mitglied einer zu eigenem hoheitlichen Handeln befähigten Staatengemeinschaft und wird dieser Staatengemeinschaft die Wahrnehmung eigenständiger Hoheitsbefugnisse eingeräumt - beides wird durch das Grundgesetz für die Verwirklichung eines vereinten Europas ausdrücklich zugelassen (Art. 23 Abs. 1 GG) -, kann insoweit demokratische Legitimation nicht in gleicher Form hergestellt werden wie innerhalb einer durch eine Staatsverfassung einheitlich und abschließend geregelten Staatsordnung. Werden supranationalen Organisationen Hoheitsrechte eingeräumt, verliert das vom Volk gewählte Repräsentationsorgan, der Deutsche Bundestag, und mit ihm der wahlberechtige Bürger notwendig an Einfluss auf den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess“ Die Einräumung von Hoheitsbefugnissen hat zur Folge, dass deren Wahrnehmung nicht mehr stets vom Willen eines Mitgliedstaates allein abhängt. Hierin eine Verletzung des grundgesetzlichen Demokratieprinzips zu sehen, widerspräche nicht nur der Integrationsoffenheit des Grundgesetzes, die der Verfassungsgeber des Jahres 1949 gewollt und zum Ausdruck gebracht hat; es legte auch eine Vorstellung von Demokratie zugrunde, die jeden demokratischen Staat jenseits des Einstimmigkeitsprinzips integrationsunfähig machte“. Rechte und Pflichten, aber auch das rechtsverbindliche, unmittelbare Tätigwerden der EU im/für den innerstaatlichen Rechtsraum müssen voraussehbar im Vertrag und Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmbar normiert worden sein, vgl. BVerfG, NJW 1993, 3052. Das BVerfG erweitert seine Kompetenzkontrolle um eine Identitätskontrolle als Notfallvorbehalt bei Rechtsschutzlücken. Soll dieser wirksam instrumentalisiert werden, darf er nicht von einem vorherigen Befassen des EuGH über das Vorabentscheidungsverfahren abhängig gemacht werden, vgl. Aufruf aus Wissenschaft und Praxis, die Vorlageverpflichtung des BVerfG in einem § 13a BVerfGG festzuschreiben, http://www.whi-berlin.de. Die Konzeption des BVerfG, nach der kompetenzwidrige EU-Rechtsakte in Deutschland nicht gelten, steht zwar mit der ultra vires Lehre im Einklang, doch folgt aus der materiellen Rechtslage nicht zwangsläufig die Zuständigkeit, so Sauer, der ein Kontrolldefizit verneint. Die Prozessualisierung von Kompetenzkontrollen könnte über Verfassungsbeschwerden und die Geltendmachung von subjektiven Rechtsverletzungen aus Art. 2 Abs. 1 GG, Richtervorlagen Art. 100 Abs. 1 GG oder im Organstreitverfahren erfolgen. Mit der Bejahung der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden schließt das BVerfG von Wirkungsgleichheit auf Kontrollgleichheit und ersetzt Grundrechtsbindung durch Grundrechtsrelevanz, vgl. Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag, 2003, S. 182. Die Kontrollvorbehalte für das BVerfG gesetzlich festzuschreiben und damit mit unmittelbarer demokratischer Legitimität zu versehen, wäre ein negatives Signal für die Rechtseinheit in der EU.

[4] Rechtsprechungs- und Gesetzesänderungen sind oft wirkungsgleich, aber nicht funktionsgleich, Maurer, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bad III, RN 108; Fischer, DStR 2008, 699. Die Gerichte sind nicht für die Rechtsschöpfung, sondern die Rechtsfindung und Streitentscheidung zuständig. Vertrauensschutz in die bisherige Rechtsprechung würde u. U. bedeuten, dass sehenden Auges die Gerichte rechtswidrig entscheiden müssten. Der Verwender von AGB, die sich auf Grund einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung als unwirksam erweisen, kann keinen Vertrauensschutz geltend machen, BGH, NJW 1996, 924. Höchstrichterliche Urteile sind kein Gesetzesrecht und erzeugen folglich keine vergleichbare Rechtsbindung, so der BGH, NJW 2008, 1439. Rechtsanwender können nicht darauf vertrauen, dass eine Rechtsprechung nicht wankt und gezielt fortgeführt wird. Eine Orientierung an der Rechtsprechung beinhaltet damit keine Richtigkeitsgewähr. Inbegriffen ist vielmehr ein Rechts und Gestaltungsrisiko.

[5] Richterrecht kann Grundlage schutzwürdigen Vertrauens sein, da das Rechtsstaatsprinzip und daraus abgeleitet der Grundsatz des Vertrauensschutz (er beinhaltet die Erwartung nicht durch Entscheidungen staatlicher Organe überrascht zu werden) Grenzen setzen, BVerfG, NZA 1987, 347; BAG, NZA 1991, 477. Der Rechtsverkehr kann im Grundsatz auf den Fortbestand höchstrichterlicher Rechtsprechungspraxis (eingeschränkt) vertrauen, so Höpfner, NZA 2009, 420. Insoweit handelt es sich nicht nur um bloße Billigkeitserwägungen, sondern rechtsstaatlich schützenswerte Erwartungen, BVerfG, NZA 347; BGH, NJW 2003, 1803 – zu prüfen ist, ob eine Rechtsprechungsänderung den Betroffenen unverhältnismäßig hart treffen würde, weil er keine Vorkehrungen für die neu festgestellte rechtliche Situation treffen konnte. Der Umfang des Vertrauensschutzes muss sich an den beteiligten und betroffenen Interessen orientieren. Ein Gesichtspunkt ist das Alter der Entscheidungen. Je älter ein Urteil ist, umso fragwürdiger ist, ob die Rechtsprechung an der Spruchpraxis festhält. Dennoch gibt es Beispiele aus der Rechtspraxis (etwa die Entscheidungspraxis des BAG zur Abgeltung von Urlaubsansprüchen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses), dass dies nur ein Indiz sein kann, vgl. auch BAG, NZA 2005, 478. Rechtssprechungsänderungen erfolgen im Regelfall nur dann, wenn „zwingende Gründe“ vorliegen, BAG, NZA 1984, 159, sodass der durchschnittlich beratene Betroffene ohne für ich erkennbaren, konkreten vertrauenszerstörenden Anlass grundsätzlich Vertrauensschutz genießt. Vertrauenszerstörend ist etwa die Ankündigung einer Rechtsprechungsänderung.

[6] Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG soll der Gefahr vorbeugen, dass aus sachfremden Motiven in die Gerichtsorganisation eingegriffen wird und rechtsprechende Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt werden, BVerfGE 118, 239. Verhindert werden soll bereits die Möglichkeit einer Manipulation, BVerfGE 95, 330. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG enthält ein Gebot, den gesetzlichen Richter zu bestimmen und ihn im Voraus durch generelle Regelungen festzulegen. Das Recht auf den gesetzlichen Richter als eine der zentralen Ausprägungen der rechtsstaatlichen Rechtssicherheit, BVerfGE 20, 344 und des rechtsstaatlichen Objektivitätsgebots, BVerfGE 82, 194, kann auch durch die Rechtsprechung verletzt werden (error in procendo; Entzug des gesetzlichen Richters). Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG begründet ein grundrechtsgleiches Recht, das die Beschwerdebefugnis nach § 90 Abs. 1 BverfGG für eine Verfassungsbeschwerde begründet. Gemäß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darf „niemand” seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Der personale Schutzbereich dieses grundrechtsgleichen Rechts ist damit denkbar weit, Morgenthaler, BeckOK-GG, Art. 101 RN 7. Er umfasst jede nach den Verfahrensnormen parteifähige Person, BVerfGE 3, 359 – gleich ob es sich um eine natürliche oder juristische, inländische oder ausländische Person handelt, Morgenthaler, Art. 101 GG RN 8. Der gesetzliche Richter wird dem Kläger insbesondere dann entzogen, wenn eine Vorlage trotz entsprechender Vorlagepflicht an den EuGH unterbleibt, vgl. zum EuGH als gesetzlicher Richter, BVerfGE 82, 105; BVerfG (K), NJW 2001, 1267 = JZ 2001, 923 mit Anm. Voßkuhle; BVerfG, NVwZ 2003, 111. Keine Vorlagepflicht besteht allerdings in Eilverfahren, BVerfG, ZUM 2006, 919. Das BVerfG geht seit über 50 Jahren von einem Entzug des gesetzlichen Richters erst bei einer besonders groben, ja willkürlichen Verletzung der entsprechenden Verfahrensvorschrift aus. Diese Einschränkung haben die Karlsruher Richter mehrfach auch für den Fall der Missachtung einer Vorlagepflicht an den EuGH bestätig, BVerfGE 73, 339 = NJW 1987, 577 – Solange II; BVerfGE 75, 223. ach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist der EuGH gesetzlicher Richter i. S. von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Unterlässt es ein deutsches Gericht, ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu stellen, obwohl es gemeinschaftsrechtlich dazu verpflichtet ist, werden die Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsverfahrens ihrem gesetzlichen Richter entzogen, vgl. BVerfGE 73, 339; BVerfGE 75, 233ff.] = NJW 1988, 1459; BVerfGE 82, 192ff = NVwZ 1990, 53. Allerdings stellt nicht jede Verletzung der sich aus Art. 234 EG (jetzt 267 AEUV) ergebenden Vorlagepflicht einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG dar. Das BVerfG beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind, vgl. BVerfGE 82, 194; NVwZ 1990, 53. Die Vorlagepflicht wird insbesondere in denjenigen Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der gemeinschaftsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des EuGH noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des EuGH nicht nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind, BVerfGE 82, 195 = NVwZ 1990, 53. Das BVerfG wird durch die grundrechtsgleiche Gewährleistung des 101 Abs. 1 S. 2 GG jedoch nicht zu einem Kontrollorgan, das jeden einem Gericht unterlaufenen Verfahrensfehler korrigieren müsste. Es beanstandet vielmehr die Auslegung und Anwendung von Verfahrensnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind, vgl. BVerfGE 82, 194; BVerfGK 8, 404. Das BVerfG ist selbst im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde keine Superrevisionsinstanz, es kontrolliert allein, ob spezifisches Verfassungsrecht verletzt wurde, BVerfGE 2, 339 = NJW 1953,1097. Bei Unvollständigkeit der Rechtsprechung des EuGH wird Art. 101 Abs. 1 S. 2 nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Gericht seinen Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat – insbesondere wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind, vgl. BVerfG , NVwZ 2001 , 1149 . In diesen Fällen verstößt das Gericht bereits dann nicht gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 , wenn es die gemeinschaftsrechtliche Rechtsfrage in zumindest vertretbarer Weise beantwortet hat. Ein nationales Gericht darf danach bei einer unvollständigen EuGH -Rechtsprechung nur dann davon ausgehen, dass die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts offenkundig ist, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde: Hiernach muss ein Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in dem bei ihm anhängigen Verfahren eine entscheidungserhebliche Frage des Gemeinschaftsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die betreffende Bestimmung des Gemeinschaftsrechts bereits Gegenstand einer Auslegung des EuGH war oder dass die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt, vgl. EuGH v. 6.10. 1982, Slg.1982, 3415 = NJW 1983, 1257 RN 21; EuGH, Urt. v. 15.9. 2005 – C-495/03, BeckRS 2005, RN 33. Davon darf das innerstaatliche Gericht aber nur dann ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen. Ein letztinstanzliches nationales Gericht, das von einem Vorabentscheidungsersuchen absieht, wird dem Recht der Prozessparteien auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG in der Regel nur dann gerecht, wenn es nach Auswertung der entscheidungserheblichen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts eine vertretbare Begründung dafür gibt, dass die maßgebliche Rechtsfrage durch den EuGH bereits entschieden ist oder dass die richtige Antwort auf diese Rechtsfrage offenkundig ist. Die gemeinschaftsrechtliche Rechtsfrage wird hingegen nicht zumindest vertretbar beantwortet, wenn das nationale Gericht eine eigene Lösung entwickelt, die nicht auf die bestehende Rechtsprechung des EuGH zurückgeführt werden kann und auch nicht einer eindeutigen Rechtslage entspricht. Dann erscheint die fachgerichtliche Rechtsanwendung nicht mehr verständlich und ist offensichtlich unhaltbar, BVerfG , NZA 2010, 439 = NJW 2010, 1268 RN 16 -Ein letztinstanzliches Hauptsachegericht verletzt Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, wenn es in Fällen, in denen zu einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage des Gemeinschaftsrechts noch keine einschlägige Rechtsprechung vorliegt oder die entscheidungserhebliche Frage noch nicht erschöpfend beantwortet ist, den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen überschreitet. Der Beurteilungsrahmen wird überschritten, wenn das nationale Gericht eine eigene Lösung entwickelt, die nicht auf die bestehende Rechtsprechung des EuGH zurückgeführt werden kann, Baeck, Winzer, Gleiss, BVerfG, Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 234 Abs. 3 EG, NZG 2010, 461; Schindele, ArbRAktuell 2010, 301021 - die Entscheidung verdeutlicht, welche Bedeutung die Auslegung der in vielen Bereichen des Arbeitsrechts relevanten EG-Richtlinien für das arbeitsrechtliche Mandat hat.

Zusammenfassend: Maßgebend ist im Einzelfall, ob die Vorlagepflicht in offensichtlich unhaltbarer Weise gehandhabt wurde

- das entscheidende Gericht hat die Pflicht trotz Entscheidungserheblichkeit verkannt
- bei bewusstem Abweichen von der Rechtssprechung des EuGH, Jarass, in Jarass/Pieroth, Art. 101 GG, RN 12
- das Gericht stellt das Fehlen einschlägiger Rechtsprechung des EuGH fest. Bei Vorlage ist eine Fortentwicklung der Rechtsprechung denkbar, vgl. Degenhart, in Sachs, Art. 101 GG, RN 19.

[7] Bestätigung von BVerfGE 82, 194. Außerdem sind alle innerstaatlichen Gerichte zur Vorlage verpflichtet, wenn sie eine Handlung von Gemeinschaftsorganen für fehlerhaft halten; die nationalen Gerichte können die damit verbundenen Rechtsfolgen nicht selbst feststellen.

[8] Abweichende Meinung des Richters Landau zum Beschluss des Zweiten Senats vom 06. Juli 2010 - 2 BvR 2661/06.

Entgegen der Ansicht der Senatsmehrheit ist die Verfassungsbeschwerde begründet. Das angefochtene Urteil verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Art.12 Abs.1, Art.2 Abs.1 GG, weil das Bundesarbeitsgericht §14 Abs.3 Satz4 TzBfG ohne verfassungsrechtlich tragfähigen Grund unangewendet gelassen und sich so der Bindung an Gesetz und Recht (Art.20 Abs.3 GG) entzogen hat. Auf das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Gerichtshof) in der Rechtssache Mangold konnte sich das Bundesarbeitsgericht von Verfassungs- wegen nicht berufen. Die Senatsmehrheit überspannt die Anforderungen an die Feststellung eines Ultra-vires-Handelns der Gemeinschafts- oder Unionsorgane durch das Bundesverfassungsgericht und weicht insofern ohne überzeugende Gründe von dem Senatsurteil zum Vertrag von Lissabon ab. Zu Unrecht verneint sie eine Kompetenzüberschreitung seitens des Gerichtshofs in der Rechtssache Mangold. Auch das Bundesarbeitsgericht hat diese Kompetenzüberschreitung und die hieraus resultierenden Handlungsoptionen verkannt.

Mit dem Urteil zum Lissabon-Vertrag vom 30.Juni 2009 ist in Erinnerung zu rufen, dass das Handeln von Organen der Europäischen Union nur so lange demokratisch legitimiert ist, wie es sich im Rahmen der Kompetenzen hält, die die Mitgliedstaaten der Union übertragen haben. Die Einhaltung von Zuständigkeitsgrenzen ist nicht allein eine Frage des Austarierens der Machtbefugnisse von Verfassungs- und Gemeinschaftsorganen. Im demokratischen Regierungssystem folgt der Geltungsanspruch einer Norm nicht aus einer einseitigen Machtunterworfenheit des Bürgers, sondern aus ihrer Rückführung auf den Bürger selbst. Demokratische Legitimation erfordert deshalb eine tatsächliche, durchgehende Anknüpfung an das Staatsvolk. Sie darf nicht nur - und sei es im Wege des Ausschlusses einer Überprüfbarkeit - konstruiert sein. Ihre Notwendigkeit endet nicht an der Grenze des nationalen Zustimmungsgesetzes und dem Verbot der Blankettermächtigung, sondern setzt sich innerhalb der Staatengemeinschaft fort. Tätigkeiten, die von den übertragenen Aufgaben nicht umfasst werden, sind dadurch nicht mitlegitimiert, vgl. BVerfGE 93, 37 <68>. In diesem Sinne vermitteln und begrenzen die der Union von den Mitgliedstaaten verliehenen Kompetenzen den (sachlichen) Legitimationszusammenhang, in dem jedes Hoheitsgewalt ausübende Organ stehen muss, vgl. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S.307, und dessen Wahrung auch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als Ausdruck der staatsverfassungsrechtlichen Grundlage aller Unionsgewalt zum Ziel hat. Denn die Ermächtigung, hoheitliche Gewalt supranational auszuüben, rührt von den Mitgliedstaaten als den Herren der Verträge her, BVerfGE 123, 267 <349>; für die europäische Unionsgewalt gibt es kein Legitimationssubjekt, das sich unabgeleitet von der Hoheitsgewalt der Staaten auf gleichsam höherer Ebene verfassen könnte. Der Lissabon-Vertrag hat in Art.5 Abs.1 Satz1 und Abs.2 EUV das Prinzip begrenzter und kontrollierter Einzelermächtigung bestätigt. Zuständigkeitsausübungsregeln wie Art.5 Abs.3 und Abs. 4, Art.4 Abs.2 EUV gewährleisten zudem, dass übertragene Kompetenzen in einer die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten schonenden Weise wahrgenommen werden. Darüber hinaus enthält der Vertrag - bei verfassungsgemäßer Interpretation - keinerlei Vorschriften, die den Unionsorganen die Kompetenz-Kompetenz verschaffen würde, vgl. BVerfGE 123, 267 <392f.>; zustimmend v. Bogdandy, NJW 2010, S.1, 4. Dafür wäre auch die Verknüpfung von demokratischer Legitimation mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt, die die Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hervorhebt, nicht hinreichend ausgeprägt. Der Anwendungsvorrang, der durch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelt wurde, bleibt ein völkervertraglich übertragenes und damit abgeleitetes Institut, BVerfGE 123, 267 <400>. Er ändert gerade nichts an der Pflicht zur Einhaltung der Kompetenzordnung. Er reicht für in Deutschland ausgeübte Hoheitsgewalt nur so weit, wie die Bundesrepublik dem zugestimmt hat oder zustimmen durfte, BVerfGE 123, 267 <402>. Insbesondere auch die dem Gerichtshof übertragene Kompetenz zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts ist nicht schrankenlos. Die ihr durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen unterliegen letztlich der Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 75, 223 <235>; 123, 267 <344>. Verfassung und völkerrechtlicher Vertrag begründen Kompetenzen, um damit im Umfang der jeweiligen Zuschreibung rechtmäßige, das heißt rechtsstaatlich und demokratisch legitimierte Hoheitsgewalt zu begründen. Dies stand dem Senat in seinem Urteil vom 30.Juni 2009 vor Augen und hat seine Linienführung bestimmt. Durch die Zuschreibung von Kompetenzen werden unterschiedliche supranationale und nationale Funktionen einander zugeordnet. Sie wollen damit eine sachgemäße Kooperation, sichtbare Verantwortlichkeit gegenüber dem Bürger und gegenseitige Kontrolle sichern und im Ergebnis so den Missbrauch hoheitlicher Gewalt verhindern. Ein Übermaß an Verflechtungen und Überlagerungen höhlt die Substanz demokratischer Verantwortlichkeit aus und verletzt das aus demokratischer Rechtsstaatlichkeit fließende Gebot, dass Organe - nationale oder supranationale - für ihre Entscheidungen Verantwortung zu tragen haben.

Im Falle von Grenzdurchbrechungen - die diese Verantwortlichkeiten verwischen - hat das Bundesverfassungsgericht die Pflicht zur Ultra-vires-Kontrolle, BVerfGE 123, 267 <353f.>. Beim derzeitigen Entwicklungsstand des Unionsrechts kommen allein die nationalen Höchstgerichte, insbesondere die Verfassungsgerichte, als Instanzen für die Ausübung einer Kompetenzkontrolle gegenüber den Unionsorganen in Frage, nachdem auf der europäischen Ebene der Gerichtshof den Schlussstein des Systems bildet und diese Position tendenziell gemeinschaftsfreundlich genutzt hat, vgl. Grimm, Der Staat 48 <2009>, S.475 <494>. Die exekutiven und judikativen Instanzen der Europäischen Union haben weithin die Möglichkeit, das Unionsrecht in der von ihnen für richtig gehaltenen Interpretation durchzusetzen, ohne dass die politischen Instanzen über effektive Mechanismen zur Gegensteuerung für den Fall verfügen würden, dass sie die Folgen der Interpretation für schädlich erachten. Die Möglichkeit, eingetretenen Kompetenzaushöhlungen legislativ oder durch Vertragsrevisionen zu begegnen, ist angesichts der hierfür bestehenden hohen Hürden in einer Union mit 27 Mitgliedstaaten von geringer praktischer Wirksamkeit, vgl. Grimm, a.a.O. <493f.>; Scharpf, Legitimität im europäischen Mehrebenensystem, Leviathan 2009, S.244 <248ff.>.

Bei der Ausübung dieser Prüfungskompetenz ist der Grundsatz der Europafreundlichkeit des Grundgesetzes als Korrelat des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit (Art.4 Abs.3 EUV) zu beachten und fruchtbar zu machen, BVerfGE 123, 267 <354>. Das hier auftretende Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip der Wahrung demokratischer Legitimation und der Funktionsfähigkeit der Union, vgl. Folz, Demokratie und Integration, 1999, S.395, löst die Mehrheit einseitig zu Gunsten der Funktionsfähigkeit auf. In der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon hat der Senat ein ausgewogenes Modell entwickelt, das die Kontrolle in materieller Hinsicht auf ersichtliche Grenzdurchbrechungen gegenüber den Mitgliedstaaten beschränkt und sie in formeller Hinsicht unter den Vorrang des Rechtsschutzes auf Unionsebene stellt, BVerfGE 123, 267 <353>. Erfasst ist damit jede ausdehnende Auslegung der Verträge, die einer unzulässigen autonomen Vertragsänderung gleichkommt, vgl. Everling, EuR 2010, S.91 <103, FN62>. Kompetenzverletzungen peripherer Natur, die einen offensichtlichen und eindeutigen Charakter vermissen lassen und die Substanz demokratischer Verantwortlichkeit nicht in Frage stellen, bleiben außer Betracht; das gleiche gilt selbstverständlich für Kompetenzüberschreitungen, die nur von unionsinterner Bedeutung sind und sich auf die Freiräume der Mitgliedstaaten nicht auswirken. „Ersichtliche“, also klare und eindeutige Verletzungen, sind zunächst einer Beurteilung durch den Gerichtshof zugänglich zu machen, wobei die Möglichkeit besteht, bestehende Bedenken in kompetenzieller Hinsicht zu artikulieren. Am vorliegenden Fall zeigt sich geradezu exemplarisch, wie der Vorrang des Rechtsschutzes auf Unionsebene zu realisieren gewesen wäre und welches konstruktive Potential dessen Ausschöpfung gehabt hätte. Auf diesem Wege lässt sich hinreichend sicherstellen, dass eine Aktivierung der Reservekompetenz (BVerfGE 123, 267 <401>) des Bundesverfassungsgerichts zur Feststellung der Nichtanwendbarkeit von Unionsrecht wegen Kompetenzüberschreitung auf Ausnahmefälle beschränkt bleibt (vgl. Wahl, Der Staat 48 <2009>, S.587 <594>). Die Senatsmehrheit geht über das Erfordernis einer ersichtlichen - also klaren und offensichtlichen - Kompetenzüberschreitung hinaus und verlässt den der Lissabon-Entscheidung zu Grunde liegenden Konsens, indem sie nun einen „hinreichend qualifizierten“ Kompetenzverstoß fordert, der nicht nur offensichtlich ist, sondern zudem zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und supranationaler Organisation führt. Damit schießt die Senatsmehrheit über das Ziel einer europarechtsfreundlichen Ausgestaltung der Ultra-vires-Kontrolle hinaus. Sie verkennt die in der Lissabon-Entscheidung hervorgehobene wesentliche Voraussetzung einer zwingenden demokratischen Legitimation bei Ausübung aller hoheitlichen Gewalt, die bei jeder Kompetenzverletzung durchbrochen ist; wird die Ausübung hoheitlicher Gewalt ohne hinreichende demokratische Legitimation zugelassen, so widerspricht dies der Kernaussage des Senatsurteils vom 30.Juni 2009.

[9] Der Gesetzgeber erweiterte den personellen Anwendungsbereich des §14 TzBfG im Dezember 2002 (Erstes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.Dezember 2002, BGBlI S.4607). Für den Zeitraum vom 01.Januar 2003 bis zum 31.Dezember 2006 wurde die Altersgrenze einer sachgrundlosen Befristungsmöglichkeit vom vollendeten 58. auf das vollendete 52.Lebensjahr abgesenkt. Zu diesem Zweck wurde ein vierter Satzin §14 Abs.3 TzBfG eingefügt: Bis zum 31.Dezember 2006 ist Satz1 mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle des 58.Lebensjahres das 52.Lebensjahr tritt. Mit dieser Änderung, die Bestandteil der Arbeitsmarktreformen war, verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, die statistisch deutlich erhöhte Arbeitslosigkeit unter älteren Menschen durch niedrigere Barrieren für deren Wiedereintritt in das Berufsleben zu verringern. Die über 50-Jährigen seien nicht nur länger arbeitslos als andere Altersgruppen, sondern sie stellten auch einen deutlich größeren Anteil der Langzeitarbeitslosen. Der Gesetzgeber verwies darauf, dass die geringe Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber im Wesentlichen auf eine „psychologische Einstellungsbarriere“ zurückzuführen sei, die ihre Ursache in der unzutreffenden
Überzeugung habe, ältere Arbeitnehmer könnten bei einem späteren Personalabbau nicht mehr entlassen werden (BTDrucks 15/25, S.40). Da die Erfahrung gezeigt habe, dass die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen die Einstellungsbereitschaft anhebe und die befristeten Arbeitsverhältnisse im Durchschnitt etwa zur Hälfte in unbefristete Beschäftigungen einmündeten, sei §14 Abs.3 TzBfG entsprechend zu erweitern. Der Gesetzgeber hielt die mit dieser Regelung verbundene Ungleichbehandlung älterer Arbeitssuchender mit Blick auf das beschäftigungspolitische Ziel, die Chancen älterer Menschen auf einen Arbeitsplatz zu verbessern, für gerechtfertigt. Dies entspreche auch einem wichtigen Ziel der europäischen Beschäftigungspolitik (BTDrucks 15/25, S.40). Deutschland sei mit Beschluss 2001/63/EG des Rates vom 19.Januar 2001 über die Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (ABl Nr.L 22/18) ausdrücklich aufgefordert worden, Hindernisse und negative Faktoren für die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitsloser zu verbessern.

[10] Primär ist der nationale Gesetzgeber zur Umsetzung der Richtlinie verpflichtet. Ihn trifft aufgrund der zugewiesenen Umsetzungspflicht auch das damit verbundene Irrtumsrisiko. Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung beginnt mit Ablauf der Umsetzungsfrist, vgl. Ruffert, in Callies/Ruffert, Art. 249 EGV, RN 119 – der Rechtsklarheit ist eher gedient, wenn die Umsetzungsbemühungen von Judikatur und Exekutive qua richtlinienkonformer Auslegung nicht vor denen der Legislative beginnen. Auch die Rechtsprechung des EuGH unterstreicht, dass die Mitgliedstaaten vor Fristablauf verpflichtet sind, den mit der Richtlinie verfolgten Zweck nicht zu vereiteln. Sie ist auf das effektive Wirksamwerden der Richtlinie nach Fristablauf bezogen und enthält keine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung vor Fristablauf. Richtlinien sind gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, gleich ob die nationalen Rechtsvorschriften vor oder nach Erlass der Richtlinie in Kraft getreten sind. Die aus dem EG-Vertrag herzuleitende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihr nationales Recht nach Möglichkeit den Vorgaben der Richtlinie anzupassen und hierdurch Umsetzungsdefizite abzumildern, bleibt hiervon indes unberührt, EuGH Slg. 1994, I-3347, 3357, RN26 - Dori; s. ferner EuGH Slg. 1990, I-4135, 41458f, RN 8ff. - Marleasing; EuGH ZIP 2004, 2342, 2344, RN116, Pflicht, Reichweite einer richtlinienwidrigen Bestimmung durch Anwendung nationaler Auslegungsmethoden ggf. einzuschränken; s. ferner EuGH Slg. 2002, I-6325, 6358, wonach sich der Einzelne auch dann auf richtlinienkonforme Auslegung berufen kann, wenn die Richtlinie zwar ordnungsgemäß umgesetzt, das der Umsetzung dienende Gesetz aber nicht richtlinienkonform ausgelegt wurde. Die Verpflichtung, nationale Vorschriften unter Beachtung von § 249 Abs. 3 i. V. mit Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV auszulegen, ist keine Berechtigung für eine Auslegung contra legem, EuGH, NJW 2006, 265 = EuZW 2006, 730; Faust, JuS 2009, 275. Die Grenze des „contra legem“ Judizierens ist in einem funktionellen Sinn zu verstehen. Höpfner, EuZW 2009, 158ff – Art. 249 Abs. 3 rechtfertigt kein „contra legem Judizieren“ Die innerstaatliche Kompetenzverteilung darf nicht angetastet werden.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Das Mangold-Urteil des Europäischen Gerichtshofs
Hochschule
Duale Hochschule Baden-Württemberg Mannheim, früher: Berufsakademie Mannheim
Note
1,1
Autor
Jahr
2010
Seiten
32
Katalognummer
V162267
ISBN (eBook)
9783640763702
ISBN (Buch)
9783640764129
Dateigröße
613 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mangold-Urteil, Europäischer Gerichtshof, EuGH, Gemeinschaftsrecht, Arbeitsvertrag, § 14 Abs. 3 TzBfG, Richtlinie 2000/78/EG, Richtlinie 1999/70/EG, Gleichbehandlung, Ungleichbehandlung, Diskrimminierung, Grundgesetz
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Dr. Assessor jur., Mag. rer. publ. Siegfried Schwab (Autor:in), 2010, Das Mangold-Urteil des Europäischen Gerichtshofs , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162267

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