Was ein Seligenstädter Mönch im Dreißigjährigen Krieg erlebte

Die Chronik des Leonhard Walz (1631 - 1646)


Elaboración, 2001

57 Páginas


Extracto


Die Chronik des Leonhard Walz

Einleitung

Der Dreißigjährige Krieg im Zerrspiegel der Ideologien

Man sollte annehmen, dass elementare dramatische Geschehnisse eine unzweideutige und tiefe Spur im historischen Bewusstsein eines Volkes hinterlassen haben, zumal dann, wenn diese sich vor mehreren Jahrhunderten zugetragen haben und das Feldgeschrei der damaligen Kontrahenten verklungen ist und einer ruhigen Betrachtung Platz gemacht hat.

Dass diese Vermutung nicht in jedem Falle zutrifft, beweist der Dreißigjährige Krieg. Trotz einer unübersehbaren Fülle von Gesamt- und Einzeldarstellungen zu jedem erdenklichen Aspekt dieses Krieges, trotz der annähernden Klärung bisher lange umstrittener Sachverhalte ist die Bewertung des Gesamtkomplexes und der führenden Persönlichkeiten kontroverser denn je.

War man sich bisher wenigstens in der Beurteilung des Westfälischen Friedens als einer Katastrophe für die deutsche Staatlichkeit einigermaßen einig, so hat auch in diesem Punkt die 1945 verordnete Umdeutung der deutschen Geschichte bei manchen beflissenen Historikern einen Wandel der Auffassungen herbeigeführt, der vor allem die französische und schwedische Politik in ein mildes Licht rückte. Sprach man vorher beispielsweise von französischem Expansionsdrang an den Rhein, von Raubkriegen und Hegemonialstreben, war nun nur noch von berechtigten französischen Sicherheitsinteressen die Rede. Aber nicht nur die Motive von Schweden, Franzosen, Dänen und Niederländern zur Einmischung in den deutschen Bürgerkrieg, der Westfälische Frieden selbst erfuhren eine völlige Umwertung. Am konsequentesten hat sich meines Wissens Günther Barudio in seinem Buche „Der Teutsche Krieg“ diese neue Sicht zu eigen gemacht (1). Erklärtermaßen will er kein „Machthistoriker“ sein, nicht an der „Ideologie des Nationalstaats“, der ja vermeintlich 1945 unterging, festhalten, sondern die Geschichte „im Lichte des Natur- und Völkerrechts“ betrachten (S.572). Dieses wurde – so findet er heraus – von der Protestantischen Union und besonders von deren schwedischen und französischen Verbündeten vertreten, während die deutschen Kaiser Ferdinand II. und III. dem bösen Prinzip der Alleinherrschaft huldigten und eine absolute Militärdiktatur errichten wollten (S. 501). Gustav Adolf und die Schweden betrieben eine Politik, „die sich eine fortwährende Gestaltung des Gerechten zum Ziele setzte“ (S. 411), die beiden Ferdinande hingegen hatten den Krieg angezettelt (S. 497) und trugen für seine lange Dauer die alleinige Verantwortung (S. 490), doch glücklicherweise achteten die Franzosen und Schweden darauf, dass „der Krieg seinen friedensgerichteten Sinn nicht verlieren sollte“ (S.503). Politik „auf ethischer Grundlage“ (S.479) war natürlich mit dem deutschen Kaiser nicht zu machen, wohl aber mit Richelieu und Oxenstierna, dem schwedischen Reichskanzler. Ihnen ging es „um echten und gerechten Frieden“, dem Kaiser um absolute Tyrannei. Es verstrichen noch Jahre, ehe dieser gerechte Reichsfriede, „von Oxenstierna und anderen ausgehandelt, Land und Leute politisch bessern half“ (S. 429). Sätze wie dieser sind für sich genommen unsinnig, erst im Lichte der Umerziehungsdogmatik der Jahre nach 1945 erhalten sie einen spezifisch politischen Sinn.

Der Westfälische Friede also, „ein rechtliches Kunstwerk“ (S. 589), steht „im Dienst der Menschenrechte“ (S. 592) und hat Deutschland zu „einem modernen Staat“ (S. 587), einem „parlamentarisierten Staat“ (S. 588) gemacht, der seinen Nachbarn weit voraus war (S. 592). All diese köstlichen Früchte waren mit Hilfe von Schweden und Frankreich „den Mächten der Finsternis“ (gemeint sind die Habsburger) abgetrotzt worden (S. 582). Ein solch glänzendes Ergebnis rechtfertigt natürlich auch die unvermeidlichen Opfer, die ohnehin beträchtlich geringer waren, als die „Legenden“ und „Zwecklügen“ der Historiker wahrhaben wollen (S. 590). Die Kriegsschäden wurden „mit ausländischer Hilfe“ (S. 591 !!) rasch beseitigt, so dass ein Reisender 1657 z.B. die Kurpfalz als ein blühendes Land erlebte (S. 590). Wägt man also die geringen Opfer gegen die wertvollen Gewinne ab, so erweist sich der Dreißigjährige Krieg geradezu als Segen für das deutsche Volk, als Ursprung von Recht und Freiheit, die „den libertären Kräften unter den Deutschen und Europäern“ (S. 582) zu verdanken sind.

Die zeitgenössischen Quellen – auch Walz – berichten etwas anderes. Wir geben angesichts der verwegenen Interpretationsakrobatik, der die Geschichte bisweilen ausgeliefert ist, den unmittelbaren Zeitzeugen den Vorzug und empfehlen im übrigen die sehr lesenswerte und sachlich einwandfreie Abhandlung von C. V. Wedgwood (‚ Der dreißigjährige Krieg’ 1998 in 10. Auflage).

Wie sehr zeitgebundene ideologische Vorgaben der Würdigung der entscheidenden Personen ihren Stempel aufdrücken, lässt sich auch an den beiden Feldherrn zeigen, die von Leonhard Walz, unserem Chronisten, neben Tilly, Wallenstein, Pappenheim, Horn und Lamboy namentlich erwähnt werden: Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar und Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel. Galten beide Fürsten der katholischen, an Habsburg orientierten Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als Vaterlandsverräter und Charakterlumpen, so wurden sie von den evangelischen, an den Hohenzollern orientierten Historikern als beispielgebende Lichtgestalten in finsterer Zeit gefeiert (2). Im ‚Dritten Reich’ schließlich hieß es dann, die „undeutsche außenpolitische Orientierung“ der Habsburger, welche „die inneren Werte des Deutschtums“ verrieten, sei vom Protestantismus, „in dem die germanische Seele zu sich selbst zurückzufinden begann“, in Schach gehalten worden. „Bernhard von Weimar und Wilhelm von Hessen standen nebeneinander als Verteidiger des Protestantismus, als Vorkämpfer für Recht und Glaube.“ „Freiheit und Nähe zu Gott sind Ureigenstes der germanischen Seele“. Und: „Diese kostbaren Güter des deutschen Volkes aber waren in Gefahr...“ (3). Man muss weder eifernder Papist sein noch Jesuitenknecht oder gar Antifaschist, um solche Beweihräucherung als unpassend zu empfinden. Hier wird Geschichte zur Karikatur ihrer selbst. Eine originelle Erklärung für derlei schräge Hymnen gibt die Engländerin C. V. Wedgwood, wenn sie in ihrem oben genannten Buche auf S.454 schreibt: „Es überrascht nicht, dass der nüchterne Egoismus einer Herrscherin wie der Landgräfin (Amalie) von Hessen-Kassel (vgl. Anmerkung zum Text Nr. 70) oder sogar eines Abenteurers wie Bernhard von Sachsen-Weimar (Anmerkung zum Text Nr. 43) gelobt und in einen Beweis für deutschen Patriotismus verdreht wurde, denn es ist in diesem höllischen Zwielicht verworrener Absichten eine gewaltige Erleichterung, irgend einen Herrscher mit einer klaren politischen Auffassung zu finden“. Es ist schon eine Wohltat, solche Sätze zu lesen; leider stammen sie meist von nichtdeutschen Autoren, gilt doch in Deutschland das Erkennen der banalen Wirklichkeit seit jeher als Ausdruck spießiger und kleinkarierter Denkungsart.

Das Übel einer ideologisch bestimmten Sichtweise ist nun allerdings nicht neu. Schon 1912 hat einer der kenntnisreichsten und einfühlsamsten Landesgeschichtler, Wilhelm Diehl, den Sinn seiner Forschungen darin gesehen, „einer tendenziösen Geschichtsbetrachtung den Rest zu geben“. In diesem Punkte war Diehl wohl etwas zu optimistisch; er konnte ja nicht wissen, was das Jahrhundert noch zu bieten hatte. Unübertroffen aber sind seine Worte, mit denen er die von ihm verachtete Tendenzschreiberei bedachte, der er zu Recht vorwarf, sie sehe nicht das als groß an, „was wirklich groß war, sondern nur das, was sich in der geschichtlichen Entwicklung als Vorstufe zu dem darstellt, was heute als groß gilt“ (4).

Überhaupt ist es m. E. völlig verfehlt, eine historische Würdigung auf den Absichten und Zielen der Handelnden aufzubauen; denn diese klingen stets überzeugend. Der Hinweis auf ‚das gemeine Beste’ bei allen fürstlichen Instruktionen der Zeit ist inflationär. Selbst die Taten oder Unterlassungen der handelnden Personen fallen hier wenig ins Gewicht. Was zählt, das sind die Ergebnisse, die sich am Ende einstellen. Man möchte es den Lobrednern von Bernhard und Wilhelm gerne abnehmen, wenn sie beteuern, ihre Helden hätten den Zustand des deutschen Reiches und Volkes von 1648 nicht herbeigewünscht. Denn die Bilanz nach 30 Jahren Krieg fällt so vernichtend aus, dass sich die Beurteilung der politisch handelnden Elite fast von selbst ergibt. Wer als Heerführer und Reichsfürst am Ende eines kampferfüllten Lebens sich eingestehen muss: das habe ich nicht gewollt!, stellt sich selbst das Zeugnis politischer Dummheit aus. Keine Konfession, keine Dynastie, keine ‚fürstliche Libertät’ waren es wert, dass ihretwegen die eine Hälfte des deutschen Volkes zugrunde gehen, die andere großenteils im Elend versinken musste. Es war das Verhängnis der Zeitgenossen des Leonhard Walz, dass diese banale Einsicht nur von wenigen geteilt wurde. Höher als das Wohlergehen von Mensch und Natur stand die politische oder konfessionelle Ideologie. Ihr wurde alles geopfert. Wie sich der Untertan, der vielberufene ‚Gemeinsmann’ dabei befand, das erfahren wir auch aus den Kanzleien der Fürsten, deutlicher aber aus den zahlreichen Chroniken, die in jenen schlimmen Zeiten entstanden. Und damit sind wir bei unserem Autor Leonhard Walz und seiner Chronik.

Die Handschrift und ihr Verfasser

In den „Regesten zur Geschichte von Seligenstadt am Main“ (4) findet sich auf Seite 156 der folgende Eintrag: „Nr.850: (um1650) Manuskript einer Chronik der Geschichte des Klosters Seligenstadt (Fragment) für die Jahre 1630 bis 1646, verfasst von dem Seligenstädter Prior Leonhard Walz (lat.)“. Die Handschrift umfasst 14 Blätter und wird unter der Signatur C1C Nr.66 im Staatsarchiv Darmstadt aufbewahrt. Wie in dem Regest angegeben, ist die Handschrift nur bruchstückhaft überliefert und zählt 14 vollbeschriebene Blätter, ist also 28 Seiten stark.

Der Verfasser der Handschrift, Leonhard Walz, war 1605 in Obernburg geboren und während des Dreißigjährigen Krieges Subprior im Kloster Seligenstadt, wie er selbst angibt, später Prior und seit 1653 Abt. Er starb am 16. Mai 1666.

Leonhard Walz verfasste seinen Bericht in lateinischer Sprache, was in der Mitte des 17. Jahrhunderts zwar noch nicht die seltene Ausnahme, aber doch nicht mehr allgemein üblich war. Er wandte sich also nur an die ‚gebildeten Stände’, nicht an das gemeine Volk. Deshalb ist er auch nie recht volkstümlich geworden (5) und wohl aus diesem Grund ist seine Schrift – abgesehen von Auszügen, die mein Vater 1988 in seiner Publikation ‚Seligenstadt im „Evangelischen“ und „Dreißigjährigen“ Krieg’ veröffentlicht hat (6) – auch noch nie ins Deutsche übersetzt worden.

Mit seinem Latein möchte der Verfasser den Leser, den er des öfteren anspricht, beeindrucken und sich ihm als kenntnisreicher, an den Klassikern geschulter und vertrauenswürdiger Gewährsmann empfehlen. Hier schreibt nicht einer, dem aus vollem Herzen das grauenhaft Erlebte unmittelbar in die Feder fließt, nein, hier türmt jemand in der Abgeschiedenheit des Studierkämmerleins seine Satzkonstruktionen nach langer, gründlicher Reflexion kunstvoll, oft gekünstelt, auf. Der Leser soll es schon merken, in welchem Maße der Verfasser seinen klassischen Vorbildern und ihren raumgreifenden Satzperioden nacheifert. Bisweilen verliert er angesichts der grammatischen Wucherungen den Überblick, was einige seiner verschlungenen Satzgebilde strenggenommen unübersetzbar und gelegentlich auch mehrdeutig oder unverständlich macht.

Die einfache Ausdrucksweise verschmäht er; vielmehr möchte er den rhetorischen Glanz seines überreichen Wortschatzes vor dem Leser ausbreiten. Er benutzt z.B. nie das Verb ‚sterben’ (mori). Stattdessen fallen ihm zehn Spielarten ein, nämlich

1. dem Schöpfer seinen Geist zurückgeben (creatori spiritum reddere)
2. dem Schicksal entgehen (fatis excedere)
3. den Sterblichen Lebewohl sagen (mortalibus valefacere)
4. sein Leben zu Ende bringen (vita fungi)
5. im Herrn (dem Tod) entgegengehen (in domino obire)
6. von den Lebenden weggerissen werden (e vivis rapi)
7. untergehen (interire)
8. ausgelöscht werden (exstingui)
9. von den Lebenden weggenommen werden (e vivis tolli)
10. das Leben mit dem Tode vertauschen (vitam cum morte commutare)

Für ‚aufschreiben’ steht ‚den Papieren einflößen’ (chartis inicere) oder statt ‚niederbrennen’ heißt es ‚dem (Feuergott) Vulkan weihen’. Die Pest ist der ‚unzertrennliche Begleiter des (Kriegsgottes) Mars’, die Morgenröte ‚der Herold des neuen Tages.’ In reizvollem Kontrast zur barocken Fülle seiner Ausdrucksweise steht die durchgearbeitete Form des Satzbaus. Folgt man dem Duktus seiner Sprache (und seiner Handschrift?), so möchte man sich einen Mann vorstellen, der seine Gefühlswelt, jede spontane Regung, einer strengen Zucht unterworfen hat. Leidenschaftlichkeit ist ihm zuwider, und wo ihn das Entsetzliche, das er überliefern will, aus dem Gleichgewicht zu bringen scheint, da beachtet er immer noch die klassische Stilkunde, so, wenn er etwa seine Entrüstung mit ‚Eheu!’ einleitet. Das schlimmste Wort, mit welchem er das Treiben der Soldaten geißeln kann ist ‚debacchari’; was bedeutet ‚im Rausch herumtorkeln’.

Walz schreibt also für seinesgleichen, den klassisch gebildeten Humanisten. Oft gewinnt man den Eindruck, er meine – wenn er ‚die Nachwelt’ (posteri, posteritas) beschwört – nur seine klösterlichen Nachfolger, denen er ans Herz legt, die Berechtigungen des Klosters gegen alle Begehrlichkeiten der Nachbarn zu schützen. Andererseits zieht er den Leserkreis doch etwas weiter, wenn er „dem geneigten Leser“ zu bedenken gibt, was es bedeuten muss, wenn ganze Ortschaften und Landstriche auf ein Zehntel ihrer Einwohnerzahl zusammenschmelzen. So, wie Überlebende einer hereingebrochenen Tragödie ihr eigenes Überleben oft als unverdientes Geschick empfinden und daraus für sich die Verpflichtung ableiten, dem als sinnlos erfahrenen Tod ihrer Kameraden dadurch einen Wert und Sinn beizumessen, dass sie das gemeinsam Erlittene der Nachwelt überliefern, so schreibt Walz. ‚Seht her’ möchte er sagen, ‚das haben wir durchgemacht, das Opfer der Vielen war nur dann umsonst, wenn es der Vergessenheit anheim fällt. Wir müssen es in unser kollektives Gedächtnis hineinnehmen, die Toten dadurch ehren, dass wir ihrer gedenken’.

Walz will dem Leser eine ‚Ausbeute’ der Ereignisse (compilatio historiae) bieten und lässt durchblicken, dass er sich dabei an ein durchdachtes Konzept hält; mehrmals betont er, er wolle sich um Kürze bemühen, Umschweife vermeiden, von seinem Vorhaben (propositum scopum) nicht abweichen; seine Sache sei es nicht, wahllos alles zu berichten, sondern er beschränke sich auf die Begebenheiten, die sich im Kloster und seiner unmittelbaren Umgebung zugetragen hätten. Bei diesem Anliegen, der Nachwelt einen Abriss der örtlichen Kriegsereignisse zu überliefern, stützt er sich naturgemäß auf drei Quellen: erstens auf Selbsterlebtes, zweitens auf Berichte von Zeitzeugen aus dem Kloster, der Stadt Seligenstadt und anderen Orten, drittens schließlich auf gedrucktes Material, etwa auf die in großer Zahl umlaufenden Flugschriften, in denen die Kriegsparteien ihre jeweiligen Erfolge und die Misserfolge ihrer Gegner publizistisch auswerteten. Walz war aber auch schon 1649 in der Lage, Bücher über den Dreißigjährigen Krieg heranzuziehen. Bereits während des Krieges erschienen in der Meriandruckerei zu Frankfurt die Prachtbände des „Theatrum Europaeum“ (7). 1647 lagen bereits fünf reich illustrierte Bände vor, jeder vom Format und Umfang einer Lutherbibel. Der erste Band behandelte den Zeitraum von 1617 bis 1629 und erschien 1635; der zweite Band folgte 1637 für die Jahre 1630 bis 1633, der dritte 1639 für 1633 bis1638, der vierte 1643 für 1639 bis 1642 und schließlich der fünfte 1647 für 1642 bis 1647. Ob Walz dieses aufwendige und teuere Werk benutzt hat, ist fraglich. Jedenfalls lassen sich keine besonderen Übereinstimmungen oder Anklänge bei Walz finden, obwohl Seligenstadt im Theatrum Europaeum dreimal erwähnt wird (8). Anders steht es mit einem Buch, das 1648, ebenfalls in Frankfurt, unter dem Titel „Everhardi Wassenbergii Embricensis Commentariorum de Bello inter Invictissimos imperatores Ferdinandos II. & III. et Fridericum Palatinum, Gabrielem Bethlenum, Daniae, Sueciae, Franciae reges & Georgium Ragotzky liber singularis“ erschienen ist. Dieses Werk hat Walz benutzt und ungeniert aus ihm ganze Passagen wörtlich abgeschrieben (9). Er übernimmt sogar Sätze, in denen Eberhard Wassenberg von sich selbst in der ersten Person spricht: „ich weiß nicht, was ich der Nachwelt mitteilen soll, da die einen behaupteten...“. Wassenberg haben gewiss widersprüchliche Berichte über Gustav Adolfs und Pappenheims Soldatentod bei Lützen 1632 vorgelegen, die ihn zu diesem Satz bewogen haben. Indem Walz das persönliche Bekenntnis Wassenbergs zu seinem eigenen macht, schmückt er sich mit fremden Federn; denn Quellenforschung nach Art des Historikers hat Walz nicht betrieben und konnte diese in Seligenstadt damals wohl auch gar nicht betreiben. Nach heutigen Maßstäben müsste man unseren etwas eitlen Autor des Plagiats in einem besonders peinlichen Falle bezichtigen. Im übrigen hat Walz seine Vorlage eher flüchtig genutzt. Nicht nur, dass er gelegentlich beim Abschreiben Wörter vergisst (was dem Übersetzer Rätsel aufgibt), er hat auch solche Gesichtspunkte beiseite gelassen, die Wassenberg wichtig erschienen und die den Zusammenhang verdeutlicht hätten.

Walz selbst hat seine Chronik ohne Zwischentitel in rund fünfzig Abschnitte gegliedert. Diese Zergliederung macht es schwierig, Schwerpunkte zu setzen. Aufs Ganze gesehen, reiht Walz folgende Themen aneinander:

1. Gustav Adolf schlägt Tilly bei Breitenfeld, erobert Würzburg und zieht nach Mainz, ohne von Tilly daran gehindert zu werden.
2. Panik unter den Mönchen auf Grund wilder Gerüchte über schwedische Ausschreitungen, die sich aber beim tatsächlichen Einmarsch der Schweden in Seligenstadt nicht wiederholen.
3. Trotzdem kommt es zu Plünderungen, an der sich vorrangig Seligenstädter Bürger beteiligen, und zu ausgelassenen Siegesfeiern der Schweden.
4. Babenhausen und Dieburg werden von Hanau aus erobert, Seligenstadt geplündert.
5. Wie Leonhard Colchon nach Seligenstadt kam.
6. Menschenverluste in der Zent Seligenstadt.
7. Das Leben unter schwedischer Besatzung (1632-1634).
8. Die Pest 1631 –1633.
9. Neuer Truppendurchzug und Ärger mit Babenhäuser Jägern wegen des Stockstädter Abtswaldes.
10. Schlacht bei Lützen und Nördlingen, Folgen der Schlacht für die Schweden und die Kaiserlichen; Auswirkungen auf Seligenstadt (1632-1635).
11. Belagerung Hanaus und Entsatz durch Hessen-Kassel (1636-1637).
12. Seligenstadt wieder hanauisch; Verfolgung der Mönche; Bosheit Ramsays (1637).
13. Hungersnot (1637-1639).
14. Erneute Rückeroberung Seligenstadts durch die Kaiserlichen (1637).
15. Streit mit der Stadt wegen der Zehnterhebung und des Abtswalds.
16. Der Konflikt zwischen Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt zieht Schweden und Franzosen ins Land; Eroberung Steinheims (1646).

Diese Übersicht zeigt: Walz verfasst keine reine Kriegschronik, indem er nämlich auch Themen aufgreift, die mit dem Kriegsverlauf nichts zu tun haben, nämlich: die Persönlichkeit des Abts Colchon und sein Wirken in Flandern und Köln, die Praxis der Zehnterhebung in Seligenstadt, der Streit zwischen dem Kloster und Hanau-Babenhausen wegen des Stockstädter Waldes und ein ähnlicher Streit mit der Stadt wegen des Seligenstädter Forstes.

Fasst man die Walzschen Themen nach Schwerpunkten zusammen, so bietet sich die folgende Gliederung an:

Erste Kriegszeit: die Schweden kommen (1-4)

Erstes Zwischenspiel: Vorläufige Bilanz des Krieges und innere Verhältnisse (5-9)

Zweite Kriegszeit: die großen Schlachten, das Ringen um die militärische Vorherrschaft (10)

Zweites Zwischenspiel: Hungersnot, Belagerung Seligenstadts durch Graf Dohna, Zehntstreit und scheinbare Normalisierung (Altarweihe) (11-15)

Dritte Kriegszeit: der sogenannte ‚Hessenkrieg’; Eroberung Steinheims; Schweden und Franzosen erneut am Main (16)

Dieses Schema scheint auf ein wohlkomponiertes Ganzes hinzuweisen; dem ist aber nicht so. Manche Themen führt Walz ziemlich breit aus, andere streift er nur flüchtig, wieder andere übergeht er völlig, - und das nicht nur aus dem Grund, den er selbst angibt, dass ihn seine Quellen teils reichlich, teils dürftig mit Material versorgten. Weitere Gründe kommen hinzu. Da Walz vor dem Einmarsch der Schweden mit Abt Colchon und anderen das Kloster verließ und fünf Jahre im Exil in St. Trudo (10) verbrachte, konnte er über die Zeitspanne vom November 1631 bis Frühjahr 1636 nichts Selbsterlebtes aus Seligenstadt berichten, sondern musste mit Nachrichten aus zweiter Hand vorlieb nehmen. Er füllte diese Lücke teils mit Schilderungen der Schlacht von Lützen (November 1632) und der Kämpfe um Nördlingen (August/September 1634), teils mit der Ausmalung der Begleitumstände, die der schwedische Rückzug im Herbst 1634 für das Kloster und die sechs dort lebenden Mönche mit sich brachte.

Höchst bedauerlich ist es, dass das einschneidendste Ereignis jener Jahre, die furchtbare Pestepidemie von 1631 bis 1633, nur mit zwei Sätzen abgetan wird. Walz berichtet nur, dass von den damals im Kloster lebenden sechs Mönchen vier gestorben seien. Das entspräche im kleinen der Sterberate im großen; denn von den Orten, von denen genaue Statistiken vorliegen, wie z.B. für Gr.-Bieberau, Gr.-Umstadt, Wenigumstadt, Alsbach, Stockstadt a. Main, Dieburg, Babenhausen und viele andere Orte, ist allerdings erwiesen, dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung der Seuche zum Opfer fielen. So können wir wohl annehmen, dass Seligenstadt hinsichtlich der Pest ähnliche Menschenverluste zu verzeichnen hatte. Walz schreibt nur, „eine große Menge Volks“ sei an der Seuche zugrunde gegangen. In dieser Kürze liegt nun allerdings keine Würze, sondern eher Scheu, sich der Wirklichkeit zu stellen. Wie anders, lebensnah und eindringlich, schildert z.B. Heinrich Kunkel, ein Ratsherr aus Gr.-Umstadt, in seiner (ungedruckten) Chronik die Pest und die verzweifelten Versuche, sie einzudämmen, ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen! Dieser im Vergleich zu Walz ungebildete Mann erfasste mit klarem Blick das ganze Ausmaß des Verhängnisses, das über seine Generation hereinbrach. Im übrigen drängt sich der Eindruck auf, als wollte Walz diesem Thema aus dem Weg gehen. Überlebende Zeitzeugen, deren Aussagen er hätte verwerten können, wären gewiss auch nach seiner Rückkehr 1636 noch anzutreffen gewesen. Vermeidet er dieses Thema aus religiösen Skrupeln? Etwa, um nicht sein Bild vom ‚lieben Gott’ in Zweifel ziehen zu müssen? Wir wissen es nicht; aber denkbar ist es schon, dass selbst bei einem so ideologiefreien Manne wie Walz die verinnerlichte Zensur gewirkt hat.

Für andere auffallende Lücken gibt es keine befriedigende Erklärung. So fehlen beispielsweise die Jahre 1634 bis 1636, die ja insofern Beachtung verdienen, als in dieser Zeit die schwedisch-protestantische Herrschaft in Franken und am Untermain (außer Hanau) zusammenbrach. Hochfliegende Pläne erwiesen sich als Illusion, z.B. das Herzogtum Franken des Bernhard von Weimar oder die schwedische Reichshauptstadt Mainz. Dafür erlebte scheinbar Totgeglaubtes eine unverhoffte Auferstehung, so etwa der Mainzer Kurstaat, dessen einzelne Ämter bereits an Parteigänger Gustav Adolfs verschenkt worden waren (11), oder das Kloster Seligenstadt. Die Fürsten der Region, allen voran Graf Johann von Hanau, die sich erwartungsfroh an die Rockschöße des Schwedenkönigs und seines Kanzlers gehängt hatten, mussten sich eingestehen, aufs falsche Pferd gesetzt zu haben. All dies hätte in einer Chronik seinen Platz finden können. Noch bemerkenswerter ist der Zeitsprung vom Jahr 1637 (Ende der ‚Fischer-Episode’) bis zum Jahr 1646 (Beginn des ‚Hessenkrieges’). Dieses Jahrzehnt füllt Walz nur mit der Darstellung des Zehntstreits zwischen Kloster und Bürgern sowie des Konflikts um den Abtswald. Anschließend berichtet er noch von der Neuweihe der sieben Altäre der Klosterkirche. Kein Wort dagegen verliert Walz über die starken Einquartierungen und Durchzüge, die mit den Namen Jan de Werth und Franz v. Mercy (12) verknüpft sind, zwei Truppenführern, die auf kaiserlicher Seite die zweite Hälfte des Dreißigjährigen Krieges ebenso stark prägten wie Tilly oder Wallenstein die erste. Niemand wird ernstlich behaupten wollen, diese militärischen Aktionen – so vergeblich sie im Endergebnis auch waren – wären spurlos an der Bevölkerung vorübergegangen. Allein die Art und Weise der Beitreibung der Kriegskontribution hätte ein trauriges Kapitel der Chronik bilden können. War Leonhard Walz zu wenig ein Mann des Alltags und der Praxis, da er selbst keinem Privathaushalt vorzustehen und sich um die geldlichen Aspekte wenig zu kümmern hatte? Wie dem auch sei, es bleibt festzuhalten, dass Walz einige reizvolle Themen unbeachtet ließ und damit den Wert seiner Chronik ohne ersichtlichen Grund beeinträchtigt hat.

Geschichte als Lehrbuch?

Niemand schreibt eine Chronik für sich selbst, sondern für andere. Zu deren Unterhaltung und sittlichen Erbauung war ein Stoff wie der vorliegende freilich nicht angetan. Was bleibt, ist die Belehrung des Lesers. Aber welche Lehren aus der Geschichte will Walz uns vermitteln? Da der Autor nicht politisch denkt – was später noch ausgeführt wird – bleibt ihm nur der Rückgriff auf die traditionelle theologische Argumentation: Der Krieg ist demnach eine Geißel Gottes, ja, der erzürnte Gott straft sein „ungerechtes Volk mit dreifacher Geißel, nämlich mit Krieg, Hunger und Pest!“. Betrachtet man die Dinge so, dann kann das Gebot nur lauten: Bessert euch! Lebt nach dem Willen Gottes! Dann wird auch wieder sein Segen auf euch ruhen... . Um diese ‚Lehre aus der Geschichte’ innerlich zu bejahen, dazu bedurfte es freilich eines so unerschütterlichen Gottvertrauens, wie es seinerzeit der Dulder Hiob bewiesen hatte. Nicht jedermann war dazu aufgelegt, wie zeitgenössische Schilderungen andernorts belegen (13). Zu viele Fragen blieben ohne Antwort. Warum musste der „dreifach gute und große Gott, der alles zum Besten lenkt“, die Sünder so gnadenlos abstrafen, dass – z.B. in Südhessen – nur jeder Zehnte den Zorn Gottes überlebte, dass Gott damit die ‚Verhältnismäßigkeit der Mittel’, wie wir heute sagen würden, so gröblich außer Acht ließ? Ebenso unerklärlich, weshalb nur die Deutschen von diesem Strafgericht heimgesucht wurden, während ihre doch wohl ebenso sündigen Nachbarn ihren Gewinn aus ihm zogen. Das fiel auch schon dem oben erwähnten Wassenberg auf; er schrieb kurz und bündig: „Während es also überall drunter und drüber ging, lebte allein Schweden in tiefstem Frieden, es freute sich ungemein und ergötzte sich an den reichen Schätzen Deutschlands, an Gold, Silber und kostbarem Hausrat aus der Fremde“ (S.402). Die offenkundigen Ungereimtheiten einer ‚heilsgeschichtlichen’ Bewertung der Kriegsereignisse bleiben bei Walz, aber auch bei all seinen Zeitgenossen, unerörtert. Walz reflektiert nicht den Inhalt, sondern nur die äußere Form seiner Sätze. Einige Jahrzehnte später wird Spinoza diese Denkweise, alles mit dem Glauben Unvereinbare oder Unfassliche dem ‚unerforschlichen Ratschluss Gottes’ anheim zu stellen, als „Zuflucht der Unwissenheit“ (asylum ignorantiae) verspotten.

Eine weitere, für die theologische Weltsicht Walz´ bezeichnende Schwachstelle stellen wir in folgendem fest: Wenn der Dreißigjährige Krieg ein von Gott verhängtes Strafgericht war, entfällt jede ‚Kriegsschuldfrage’, dann gab es keine Fehlentscheidungen, kein Versagen politischer Machtträger, - damit aber auch keine Kritik an den Fürsten. Diese waren aller lästigen Fragen nach ihrer Verantwortlichkeit enthoben. So unterband die theologische Deutung der Geschichte jeden reformerischen oder gar revolutionären Ansatz zur Neugestaltung der binnenstaatlichen Strukturen im ‚Heiligen Reich’.

Andererseits hatte es Walz als Katholik in der Frage nach Freund oder Feind leichter als seine evangelischen Kollegen. Für ihn war der konfessionelle Gegner gleichzeitig auch der Reichs- und Landesfeind. Nationaler und konfessioneller Standpunkt deckten sich: die ‚Acatholici’ waren identisch mit den ‚hostes’. Loyalitätskonflikte waren hier also – anders als bei den Protestanten – ausgeschlossen. Diese nämlich betrachteten Schweden und Franzosen einerseits als Retter in der Not, mussten sich aber andererseits im stillen eingestehen, dass diese Mächte nur ihren Vorteil auf deutsche Kosten suchten und auch fanden. Verbanden sich deutsche Fürsten mit dem Ausland, so schützten sie die Belange ihrer Konfession, verübten aber doch gleichzeitig Landes- und Hochverrat. Um mit diesem Zwiespalt zurechtzukommen, musste man mit einem gespaltenen Bewusstsein leben. Zu welchen ideologischen Verrenkungen eine solche doppelte Sichtweise führen musste, lässt sich z.B. an dem Groß-Bieberauer Pfarrer Daniel Mink veranschaulichen, der – ein Zeitgenosse von Walz – ebenfalls nach dem Ende des Krieges eine Chronik verfasste. Als evangelisch-lutherischer Geistlicher begrüßte er natürlich das Erscheinen Gustav Adolfs, dieses „löblichen, glorwürdigsten Helden“, aus vollem Herzen, andererseits schildert er mit bitteren Worten, wie schädlich die praktische Politik dieses Helden und vor allem seiner Verbündeten, nämlich des Herzogs Bernhard von Weimar und besonders des Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel, für die Menschen in Deutschland gewesen ist. „Gott verzeihe es denen von Kassel“ lautet sein Stoßseufzer. Dass der Landgraf Gustav Adolfs ältester und treuester Parteigänger gewesen war? Dass ‚die Kasseler’ die Schweden nach Kräften unterstützt hatten – und auch umgekehrt? Wenn Gott das verzeihen soll, war es wohl eine Sünde. Aber wie konnte die Unterstützung eines so ‚frommen Königs’, für den die evangelische Christenheit vielerorts „das Paternoster in die Hand nehmen und das Ave Maria (hat) beten müssen“, sündhaft sein?

Praktische Erfahrung und Ideologie liegen aber nicht nur bei Mink in argem Widerstreit. Auch Friedrich Schiller, der 140 Jahre nach Mink seine „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ niederschrieb, verstrickt sich in Widersprüche. „Damit Schweden sich bereichern und Eroberungen machen konnte, musste Deutschland unter der Geißel des Krieges bluten“ schreibt er richtig (14), aber gleichzeitig teilt er die Befürchtung, die Schweden könnten „ohne Dankbarkeit aus dem Reich gewiesen werden, für welches sie bluteten“. Wer blutete da für wen? fragt sich der irritierte Leser. Ähnlich widersprüchlich die Bewertung der deutschen Fürsten. In allgemeinen Wendungen verurteilte er ihre landesverräterischen Absprachen schonungslos, z.B. mit den Worten: „So schimpflich wurden Deutschlands Rechte von deutschen Ständen an diese habsüchtige Macht (= Frankreich) verkauft“. Sobald er aber konkret werden musste, ändert sich der Ton. Herzog Bernhard, der militärische Führer eben dieser ‚deutschen Stände’ ist „ein edler Reichsfürst, der in der neueren Geschichte als ein schönes Bild jener kraftvollen Zeiten dasteht, wo persönliche Größe noch etwas ausrichtete“. Und ein weiterer Vasall der Franzosen, der mehrfach erwähnte Landgraf Wilhelm, ist es sogar „wert, zur Unsterblichkeit zu gehen“. Wie passt das zusammen? Natürlich gar nicht! Schiller fehlt der Mut zur Konsequenz. Als protestantischer sachsen-weimarischer Untertan und Professor in Jena betet er pflichtgemäß die protestantische Kriegspropaganda und Verherrlichung ihres weimarischen Oberfeldherrn nach, als Historiker dagegen sieht er tiefer. Er sieht schäbigen Eigennutz, Jagd nach dem schnellen Geld, die Intrigen und den Verrat, Lügen und falsche Versprechungen. Beides, Ideologie und Realpolitik, stehen bei Schiller unverbunden und unvermittelbar nebeneinander. Da gibt es den schimpflichen Verrat, aber keine Verräter, einen dreißig Jahre dauernden Krieg, aber keine Kriegsverlängerer, fürstlichen Eigennutz, aber keine Egoisten. So wird die Lektüre von Schillers Dreißigjährigem Krieg zu einer schwer verdaulichen Kost. Die Walzsche Chronik dagegen ist – um im Bilde zu bleiben – schlichte Hausmannskost.

Ihr Wert beruht nicht auf einer scharfsichtigen Analyse der machtpolitischen Schach- und Winkelzüge der Kriegsgegner, sondern auf der gewiss naiven, aber unmittelbaren Schilderung von Vorgängen, die sonst ganz unbekannt wären, und in der Wahrheitsliebe des Chronisten. Seine Sache ist Schwarz-Weiß-Malerei nicht, es überwiegen die Grautöne. Weder kommen die Schweden ganz schlecht weg, noch die Kaiserlichen ganz gut. Mehrmals rühmt er die Disziplin und Verlässlichkeit der Schweden, obwohl er die wilden Szenen bei der Besetzung der Stadt nicht totschweigt. Es liegt ihm aber fern, Auswüchse propagandistisch herauszuputzen. Die Kaiserlichen werden zwar als Befreier von der ‚schwedischen Verfolgung’ gebührend herausgestellt, ihr abermaliges Erscheinen weckt bei Walz aber eher Bedenken als Frohlocken. Nach keiner Seite hin spürt man bei Walz eine apologetische Tendenz, wie es etwa bei Steiner der Fall ist, der bei der Schilderung der Zeit des Dreißigjährigen Krieges die Walzsche Chronik zugrundelegt (15). Was bei Walz als objektive Würdigung gedacht ist, wird in den Händen von Steiner zu einer Rechtfertigung, ja Lobrede der Schweden und ihres Königs. Auch die Brandschatzung von 1200 Reichstalern wird als besonders niedrig hervorgehoben, ebenso wird die monatlich zu zahlende Kriegssteuer mit 100 anstelle von 300 Gulden angegeben; im übrigen zitiert Steiner aus Walz nur diejenigen Stellen, welche die Schwedenzeit in einem positiven Licht erstrahlen lassen, alles Belastende wird ausgespart, so z.B., als Walz die Disziplin der Schweden rühmt, die es nicht einmal gewagt hätten, einen Kohlkopf aus den Gärten zu stehlen. Steiner unterdrückt aber den daran anschließenden Nebensatz: „...was zur Folge hatte, dass einige Leute leichtfertigerweise dem fatalen Irrtum anhingen, Exzesse dieser Art seien unterbunden, und später einem schrecklichen Tod entgegengingen“.

Walz ist kein Pamphletist, er schreibt nicht als Polemiker, führt keinen Krieg mit Worten, indem er Tatsachen bewusst wegließe, verdrehte oder verfälschte, Geschehnisse einseitig darstellte oder mit zweierlei Maß mäße. Die Geschichte erscheint ihm nicht als ein Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis, wie es Fanatiker und Propagandisten aller Zeiten ihren Lesern auftischen (16). Walz will nicht als Richter, sondern als Chronist seiner Zeit im Gedächtnis der Nachwelt weiterleben. In besonderem Maße gilt es daher von ihm, dass er ‚sine ira et studio’, also ohne eifernde Parteinahme, seinen Bericht abfasst. Natürlich kennt (und nennt) Walz die Kriegsparteien: auf der einen Seite die „Kaiserlichen“ (Caesariani), auf der anderen „die Feinde“ (hostes) oder auch „Nichtkatholiken“ (Acatholici). Worum es in diesem Krieg allerdings geht, das liegt außerhalb seines Blickfelds. Im Grunde seines Herzens ist er Moralist, auch wenn er nicht mit der Moralkeule auf die Gegner eindrischt. Der Begriff des Politischen ist ihm fremd. Wohl kannte man – allerdings nicht in Deutschland – seit hundert Jahren Machiavelli und seine Lehre. Was sagte der große Florentiner anderes, als dass die Kunst der Politik darin bestehe, die den Menschen innewohnende Dynamik durch geschickte Aktivierung der beiden Triebkräfte Habsucht und Angst wachzurufen und auf die eigenen Mühlen zu lenken? Jeder Tag des Krieges bewies es aufs neue, wie richtig der Florentiner Meister das Weltgetriebe durchschaut hatte. Waren es nicht Gier und Angst, welche die deutschen Fürsten an die Seite Schwedens oder Frankreichs trieben? Gier nach mehr Macht, mehr Land, mehr Einfluss, Furcht vor der angeblich drohenden habsburgischen Tyrannei? Man musste nur die Begehrlichkeit der Fürsten reizen, ihre Angst vor dem Kaiser recht schüren, und schon waren sie bereit, sich und ihre Länder zum Wohle von Schweden und Franzosen zu ruinieren. Den richtigen Köder ausgelegt, schwammen die Fische bereitwillig in die Reusen und merkten erst, wenn sie im Netz zappelten, welches Spiel mit ihnen getrieben wurde (17). All das hätte Walz am Verhalten der beiden Fürsten Bernhard von Weimar und Wilhelm von Hessen-Kassel, die er ja mehrfach nennt, studieren können, wenn er mit dem scharfen Blick eines Machiavelli Schein und Sein getrennt hätte. Aber den Krieg in dieser Weise politisch aufzufassen, dazu ist er außerstande. Diesen Mangel teilt er freilich mit seinen Zeitgenossen, und daher ist das eben Gesagte auch nicht als Kritik aufzufassen, was in diesem Falle wohlfeile Besserwisserei wäre.

Es bleibt noch ein Letztes: Hält die Walzsche Chronik einem Vergleich mit anderen Chroniken stand? Denn ihr Wert und Gehalt bestimmt sich ja nicht nach einem Urteil aus heutiger Sicht; vielmehr ist zu fragen: Wie gehen andere Chronisten dieser Zeit mit ihrem Thema um? Zum Vergleich können wir aus Südhessen nur zwei bisher gedruckte Chroniken heranziehen, nämlich die „Reichenbacher Chronik“ des Pfarrers Martin Walther und die bereits zitierte Gr.-Bieberauer Chronik des Pfarrers Daniel Mink (18). Die erstere Chronik teilt insofern das Schicksal der Walzschen, als auch sie nur als Fragment erhalten ist. Es fehlen ihr die Jahre 1621 bis 1648, während unsere Chronik erst mit 1631 einsetzt. So bietet sich nur Mink zum direkten Vergleich an. Auffallend ist zunächst das, worin beide Autoren übereinstimmen: Der Krieg ist ein Strafgericht Gottes an den sündigen Menschen. Anders als Walz widmet Mink der Pest aber drei Kapitel mit detaillierten Angaben über die Zahl der Überlebenden. Auch für den wirtschaftlichen und moralischen Verfall im Land hat Mink ergreifendere Worte gefunden als Walz. Im übrigen räumt Walz allgemeinen Kriegsereignissen einen breiteren Raum ein und wendet sich häufiger strategischen Erwägungen zu. Kurz: Walz wirkt auf uns etwas distanzierter, ‚gelehrter’, d.h. aber auch, etwas weniger moralisierend als der Pfarrer aus Gr.-Bieberau.

Am Ende lässt sich sagen: Die Walzsche Chronik steht in der Tradition ihrer Zeit nicht als einmaliges Werk da, wohl aber als Dokument einer zutiefst verunsicherten und aufgewühlten Epoche. Da sucht ein Davongekommener dadurch Halt und Trost zu finden, dass er – indem er die ganze Halt- und Trostlosigkeit seiner Zeit zu Papier bringt – sich von ihr löst und auf diese Weise innerlich befreit.

[...]

Final del extracto de 57 páginas

Detalles

Título
Was ein Seligenstädter Mönch im Dreißigjährigen Krieg erlebte
Subtítulo
Die Chronik des Leonhard Walz (1631 - 1646)
Autor
Año
2001
Páginas
57
No. de catálogo
V164186
ISBN (Ebook)
9783640791910
ISBN (Libro)
9783640791606
Tamaño de fichero
665 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Dreißigjähriger Krieg, Prior Leonhard Walz, Festung Hanau, Ramsay, Lamboy, Gustav Adolf in Seligenstadt, Abt Leomhard Colchon
Citar trabajo
Manfred Schopp (Autor), 2001, Was ein Seligenstädter Mönch im Dreißigjährigen Krieg erlebte, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/164186

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