Vom Nutzen und Schaden des Radikalen Konstruktivismus für die Sozialpädagogik

Perturbationen erkenntnistheoretischer Perturbationen


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2011

16 Seiten


Leseprobe


Vom Nutzen und Schaden des Radikalen Konstruktivismus für die Sozialpädagogik

– Perturbationen erkenntnistheoretischer Perturbationen -

Die Beobachtung negativer Auswirkungen der dominierenden erkenntnistheoretischen Abteilung der Systemtheorie, des radikalen Konstruktivismus, fordert dazu heraus, die Argumente, aus denen sich die Unerkennbarkeit der Welt herleiten lassen soll, einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dies geschieht im vorliegenden Artikel in der exemplarischen Auseinandersetzung mit ausgewählten Zitaten führender Vertreter des radikalen Konstruktivismus.

Anhand der systemtheoretisch-biologischen Konzeptualisierung von Wahrnehmung und Denken und der systemtheoretisch-soziologischen Unterscheidung von Inklusion und Exklusion werden Bedeutung und Nutzen dieser Abteilungen der Systemtheorie für die Wissenschaft im allgemeinen und für die Sozialarbeitswissenschaft/praktische Sozial-pädagogik im besonderen auf dem Hintergrund einer logischen Analyse der zitierten Argumentationen in Frage gestellt.

Observation of negative consequences of radical constructivism and it’s influence upon systems theory calls for a critical examination of arguments leading to the epistemological position of scepticism. For this purpose the present article takes issue exemplarily with selected quotations of leading exponents of radical constructivism.

The biological conception of perception and thought and the sociological distinction of inclusion and exclusion belonging to systems theory are logically analysed with regard to consistency.

So importance and benefit of these parts of systems theory for science and human diszipline on the whole and social work and it’s theoretical foundation in particular are called into question.

Einleitung

Ich kann es nicht mehr hören das systemtheoretische Gerede von „erkenntnistheoretischer Dekonstruktion von Objektivität“, von „Kontextualität“ und „Beobachterabhängigkeit“, vorgetragen mit dem schwer erträglichen Gestus unwidersprechlicher Offenbarung und unsäglicher Bereicherung all der hoffnungslos naiven Versuche, der Realität erkennend zu Leibe zu rücken. In Analogie zur Zulassung eines neuen Medikamentes auf dem Arneimittel-markt hätte die Systemtheorie ihre positive Wirksamkeit für die unterschiedlichen An-wendungsbereiche zu beweisen; sie scheint mir diesen Beweis ihrer positiven Wirksamkeit bisher schuldig geblieben zu sein, ja schlimmer noch, ich beobachte negative Wirkungen wie Irritation und Orientierungslosigkeit, schlecht begründeten Skeptizismus und Wissenschaftsfeindlichkeit, denen man nicht ohne weiteres den Charakter durch die Hauptwirkungen legitimierter Nebenwirkungen zusprechen kann.

Insofern sie eine – die wievielte? – Neuauflage der noch recht oberflächlichen Erkenntnis ist, dass jeder Mensch nur mit seinen eigenen Augen sehen und nur mit seinem eigenen Gehirn denken kann, ist sie zumindest nicht originell, insofern sie erkenntnistheoretisch darüber hinaus geht und die Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis aus der Erkenntnistätigkeit erkennender Subjekte ableiten will, sind ihre Argumente zu prüfen.

Der Versuch einer fundamental kritischen Auseinandersetzung mit ausgewählten Positionen des radikalen Konstruktivismus ist für mich sicher auch ein Stück Psychohygiene. Der aggressive Grundimpuls soll jedoch kognitiv sublimiert werden, indem er seine Energie argumentativ gegen einige zwar aus ihrem Zusammenhang gerissene, längere Zitate konstruktivistischer Protagonisten richten wird, diese jedoch in ihrer inhaltlichen Aussage ernst nehmend und in ihrem erkenntnistheoretischen Gehalt kritisch würdigend. Der Einwand, ich hätte mir den Popanz, den ich widerlegen möchte, vorher selbst aufgebaut, das zu Widerlegende sei schlicht meine Konstruktion, ist so einerseits nicht ganz unberechtigt – eine systematische Auseinandersetzung ist im vorgegebenen Rahmen tatsächlich nicht möglich -, andererseits finden sich in den gewählten Zitaten aber tatsächlich zentrale konstruktivistische Grundannahmen und Argumentationen, die sich einem roten Faden gleich durch die erkenntnistheoretischen Bereiche der Systemtheorie ziehen.

Vielleicht führt der provokative Umgang mit den nachfolgenden Zitaten ja auch zu einem erneuten Nachdenken über wissenschaftliche Positionen, deren selbstbewusste Nach-drücklichkeit und Verbreitung in keinem Verhältnis zu ihrem Erkenntnisgewinn und zu dem so häufig proklamierten Irritationsnutzen – etwa im Hinblick auf den Bereich der Sozialen Arbeit – zu stehen scheinen.

Gehen wir also einmal skeptisch (mit dem Vorhaben des gedanklichen Nachvollzuges und der logischen Überprüfung der in ihnen vorgetragenen Argumente) an ausgewählte Zitate von führenden Vertretern der Systemtheorie zu den folgenden Fragekomplexen:

1.) Welche Bedeutung haben die erkenntnistheoretischen Abteilungen der Systemtheorie für die Wissenschaft im allgemeinen, für die Sozialarbeit im besonderen?
2.) Wie funktionieren Wahrnehmung und Denken aus systemtheoretischer Perspektive?
3.) Was trägt die Unterscheidung Inklusion/Exklusion zu einer professionell kompetenten Sozialarbeit bei?
4.) Was lässt sich resümierend über den Nutzen der konstruktivistischen Systemtheorie für die Sozialarbeit festhalten?

Doch zuvor noch einige Vorbemerkungen, in der Hoffnung, manchem Missverständnis damit erfolgreich entgegentreten zu können:

Natürlich sind auch meine kritischen Überlegungen meinem Hirn und der Betätigung meines Verstandes entsprungen, insofern notwendig subjektiv, allerdings sind sie dennoch nicht ohne Anspruch auf Erkenntnis der außerhalb ihrer selbst liegenden Gegenstandswelt, hier bestimmter systemtheoretischer Positionen.

Im Hinblick auf die Nützlichkeit systemischen Denkens für psychosoziale Kontexte bekenne ich mich dazu, die systemische Perspektive in vielerlei Hinsicht für konstruktiv und weiterführend zu erachten, allerdings mit der Einschränkung, dass diese brauchbaren, systemtheoretisch apostrophierten Theorien und Konzepte gerade nicht einem radikal konstruktivistischen Denken zugerechnet werden können, mit ihm – wie noch zu zeigen sein wird – eher logisch kollidieren.

Insofern verorte ich mich selbst auf dem Kontinuum von Repräsentationismus zu Solipsismus deutlich näher an ersterem als an letzterem, wenngleich der Gang der Untersuchung zeigen dürfte, dass das diesem Kontinuum zugrundeliegende erkenntnistheoretische Problem der Vermittlung von Subjekt und Objekt überhaupt andersartig angegangen werden sollte.

1.) Welche Bedeutung haben die erkenntnistheoretischen Abteilungen der Systemtheorie

für die Wissenschaft im allgemeinen, für die Sozialarbeit im besonderen?

Das folgende Zitat beschreibt gekonnt die Trendwende, die die Sytemtheorie auslösen wollte und wohl auch in vielen Bereichen ausgelöst hat:

„Ein Gespenst geht um – in Deutschland und anderswo. Sein Gewand lässt, wie es sich für ein Gespenst gehört, seine eigentliche Gestalt nur schwer bis gar nicht erkennen. Seine Auftritte entbehren der Bodenhaftung. Die Beobachter (!) dieser Erscheinung geben ihm verschiedene Namen: Selbstreferentialität, Autopoiesis, Konstruktivismus oder gar Radikaler Konstruktivismus.Der fortgeschrittene Intellektuelle denkt nicht mehr, sondern er „beobachtet“, denn das ist die Botschaft des Gespenstes: Denken ist ‚out’, Beobachten ist ‚in’. “(Gripp-Hagelstange 1995:9)

Gripp-Hagelstange beschreibt hier metaphorisch ein offensiv vorgetragenes erkenntnis-theoretisches Paradigma, dass zunehmend auch Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit beeinflusst und bei Studierenden und PraktikerInnen gleichermaßen zu nachhaltigen Irritationen führt. Die folgenden Überlegungen versuchen gewissermaßen eine Entlarvung oder Demaskierung des Gespenstischen, indem sein tatsächlicher Gehalt, man könnte auch sagen, seine Botschaft, aus der Perspektive der alteuropäischen Logik herausgearbeitet wird. Möglicherweise wird sich dann ergeben, dass weder Anlaß zu Irritation noch zu Respekt besteht, leistet sich dieses Gespenst in seinem Auftreten doch so viele Widersprüche und Kuriositäten, dass es nur sehr furchtsame und theoriegläubige Geister zu ängstigen vermag.

Aber reden wir nicht in unverdaulichen Abstraktionen und gehen wir mitten hinein in das Gespenstische, indem wir an einen radikalen Konstruktivisten anschließen, der den praktischen Nutzen seines theoretischen Ansatzes in einem „Beobachtungen der Soziale Arbeit“ betitelten Sammelband theoretischer Provokationen zunächst ex negativo bestimmt, wenn er ausführt, worin dieser Nutzen jedenfalls nicht bestehen kann:

„Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, zunächst darauf zu achten, dass universal angesetzte Theorien mit außerordentlich hohem Abstraktionsgrad, niemals irgendeine Art von Praxis

instruieren können. Das ist gar nicht ihre Funktion. Man darf also, wie ich es sehe, keine Handlungsanweisungen oder Handlungsoptimierungsvorschläge von der Systemtheorie

erwarten, so als wäre sie in der Lage, das Gespräch mit einem Obdachlosen, einem Drogenkranken, einem gewaltbereiten Jugendlichen sozusagen besser zu strukturieren und effizienter zu machen.“(Fuchs 2005:13)

Die positive Fassung des Nutzens wird sodann in einer erklärungsbedürftigen Verschränkung des Systems Sozialer Arbeit mit seiner Umwelt gesehen:

„Aber selbstverständlich ist es denkbar, dass sich das System Sozialer Arbeit durch diese Form der Soziologie irritieren lässt, dass es auf die Theorie mit Eigenresonanz (Hervorhebung durch d. Verf.) reagieren kann. Aus meiner Sicht können sich dabei neben allgemeinen Ordnungsgewinnen, die man in einem Interview schlecht darlegen kann, vor allem zwei Effekte ergeben. Der eine Effekt wäre ein cooling-out im Blick auf die Moral, die das System nachgerade parasitär besetzt und – aus meiner Sicht – weitgehend lähmt. Der andere, damit zusammenhängende Effekt wäre vermutlich, dass mit dem Wegpumpen von Moral (und das leistet die Systemtheorie vorzüglich) der Weg frei würde für eine Professionalisierung, aus der - neben einer minimalen Ethik – insbesondere resultieren könnte, dass man endlich dazu übergeht, festzulegen, was man können muss (!), wenn man diesen Job machen will.“ (Fuchs 2005: 13)

[...]

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Vom Nutzen und Schaden des Radikalen Konstruktivismus für die Sozialpädagogik
Untertitel
Perturbationen erkenntnistheoretischer Perturbationen
Hochschule
Hochschule Neubrandenburg  (Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung)
Autor
Jahr
2011
Seiten
16
Katalognummer
V165956
ISBN (eBook)
9783640817344
ISBN (Buch)
9783640820832
Dateigröße
482 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konstruktivismus, Sozialpädagogik Erkenntnistheorie
Arbeit zitieren
Prof. Dr. phil. Roland Haenselt (Autor:in), 2011, Vom Nutzen und Schaden des Radikalen Konstruktivismus für die Sozialpädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/165956

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