„Es war einmal (…)“ – mit diesen für das Volksmärchen typischen Worten wird "Das schwarze Schäflein" eingeleitet. Dem Volksmärchen zuordnen lässt es sich jedoch nicht, sondern der Gattung des Kunstmärchens, die sich laut dem Literaturwissenschaftler Volker Klotz um das sechzehnte Jahrhundert herum etablierte. Trotz der formalen Orientierung am Volksmärchen, zum Beispiel an seinem Motivrepertoire, deren ‚Originaltreue‘ variieren kann, unterscheiden sich Volks- und Kunstmärchen in vielerlei Hinsicht, unter anderem im Aspekt der Autorschaft. Die für das Volksmärchen charakteristische mündliche Tradierung, welche die genaue Rückverfolgung der Erzählungen zu einem einzelnen Urheber praktisch unmöglich macht, ist beim Kunstmärchen in dieser Form nicht vorhanden. Der produktive Ursprung von Das schwarze Schäflein ist bekannt, es handelt sich hierbei um die Verfasserin dieser Hausarbeit, wodurch die Kategorisierung als Volksmärchen bereits ausgeschlossen wird. Dies ist jedoch für die Unterscheidung der beiden Märchentypen nicht ausreichend. Im Vergleich zum Volksmärchen können Kunstmärchen einen höheren Grad der Komplexität aufweisen.
Inwiefern diese Komplexität mit der naiven Ästhetik seines Vorbildes, die von Klotz als „(…) das Gesetz, wonach das [Volks-]Märchen antritt (…)“ bezeichnet wurde, vereinbart werden kann, wird anhand des Beispiels von Das schwarze Schäflein untersucht. Dafür werden zunächst die Begriffe der naiven Moral und der naiven Ästhetik sowie die Merkmale des Typus Kunstmärchen in einem theoretischen Teil erklärt. Auf der Basis dieses kurzen Theorieblocks wird das Verhältnis des vorliegenden Märchens zu besagter Ästhetik im zweiten Kapitel dieser Hausarbeit, mithilfe einer narratologischen Untersuchung und einer näheren Betrachtung der typischen Märchenelemente, literaturwissenschaftlich analysiert.
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- Leonie Wagner (Author), 2024, Naive Ästhetik in Kunstmärchen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1675529