Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Überblick über die theoretischen und methodischen Grundzüge der feministischen Literaturwissenschaft und Gender Studies
2 Analyse der narrativen Struktur des Romans unter gender-orientierten Gesichtspunkten
2.1 Stimme
2.2 Blick auf Weiblichkeit (Fokalisierung)
2.3 Körperkonzepte
2.4 Plotstruktur und Handlungsermächtigung (agency)
2.5 Raumanalyse
3 Intertextualität
4 Schluss
5 Bibliographie
1 Einleitung
Benito Pérez Galdós Roman Tristana, der 1892 veröffentlicht wurde, erzählt die Geschichte der jugendlichen Tristana, die sich nach dem Tod ihrer Eltern in die Obhut von Don Lope Garrido, einem verarmten alternden Frauenheld, begeben muss. Dieser betrachtet Tristana als sein Eigentum und verführt sie nach kurzer Zeit auch sexuell. In Tristana erwacht schnell der Wunsch, die Ketten des durch ihr Geschlecht vorbestimmten eingeschränkten Lebens zu sprengen; dieses Begehren steigert sich, als sie den jungen Künstler Horacio kennen und lieben lernt. Durch die Liebe und das Verhältnis zu ihm entfaltet sich Tristana künstlerisch und begehrt für kurze Zeit auf, muss aber feststellen, dass die idealistische Vorstellung von ihrem Liebhaber nicht der Realität entspricht. Aufgrund dieser Enttäuschung und den Folgen einer schicksalhaften Erkrankung resigniert sie gänzlich und kehrt in ihr durch patriarchale Repression bestimmtes Leben zurück.
Gender-orientierte sowie intertextuelle Lektüren des Romans liefern sehr viele unterschiedliche Interpretationsansätze, in deren Zentrum jedoch meist die in der Forschung kontrovers diskutierte Frage steht, ob Galdós durch seine Darstellung der Figur Tristana einen feministischen Roman im klassischen Sinne erschaffen hat. Wie bereits Wolter festhielt, präsentiert sich der Roman im gender-orientierten Sinne als „Kumulationspunkt der Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten“.[1]
1.1 Überblick über die theoretischen und methodischen Grundzüge der feministischen Literaturwissenschaft und Gender Studies
Die feministische Literaturwissenschaft, die sich insbesondere nach der zweiten Frauenbewegung Ende der 1960er theoretisch und methodisch auskonturierte, hatte von Beginn an ein starkes gesellschaftskritisches Interesse und betrachtete deshalb Literatur nicht allein als Symbolsystem, sondern auch als Sozialsystem. Demnach wurden Texte einer Analyse nach inhaltlichen und strukturellen Aspekten im Hinblick auf die Kategorie Geschlecht unterzogen, gleichsam wurden aber auch die Prozesse der Produktion, Rezeption und Vermittlung literarischer Texte in Abhängigkeit vom patriarchalischen Geschlechterprinzip untersucht. Mit den vom männlichen Blickwinkel aus geprägten Geschlechterstereotypen und speziell der Vorstellung von Weiblichkeit beschäftigte sich die Frauenbildforschung, welche davon ausgeht, dass die Verbreitung von stereotypen Frauenbildern in der Literatur dazu beiträgt, das patriarchalische Denkmuster zu stützen und ideologisch zu legitimieren. Französische Literaturtheoretikerinnen griffen die psychoanalytischen Ansätze von Jacques Lacan auf und stellten die Annahme auf, dass die Geschlechterdifferenz bereits im Symbolsystem der Sprache angelegt sei, weshalb sich der Platz der Frau eher im Vorsprachlichen bzw. Semiotischen (Kristeva) befinde. Nur ein weibliches Schreiben , eine écriture féminine, sollte aus Sicht der Verfechterinnen des Differenzkonzeptes den Frauen einen Ausbruch aus diesem Schweigen ermöglichen.[2] Da weibliches Schreiben jedwede Form der Bedeutungsfixation vermeide, stelle es einen Kontrapunkt zum männlich-denotativen Gebrauch von Sprache dar.
Die Gender Studies, die sich vor allem in den 1980ern etablierten, analysieren
„das hierarchische Verhältnis der Geschlechter, wie es sich in den verschiedenen Bereichen einer Kultur manifestiert. Die Grundannahme dabei ist, dass sich Funktionen, Rollen und Eigenschaften, die Männlichkeit bzw. Weiblichkeit konstituieren, nicht kausal aus biologischen Unterschieden zwischen Mann und Frau ergeben, sondern gesellschaftliche Konstrukte und damit veränderbar sind“.[3]
Demnach untersuchen die Gender Studies die Geschlechtlichkeit als historisch wandelbares Konstrukt und fordern Gleichberechtigung von Frauen. Besonders wichtig sind bei der Gender-Untersuchung die Funktion und die spezifische Ausformung der Geschlechterdifferenz in der jeweiligen Gesellschaft bzw. dem jeweiligen Kulturkreis. Die Anthropologin G. Rubin prägte das gender (gesellschaftliches Subjekt) und sex (biologisches Geschlecht) Begriffssystem. Dieses Konzept wurde von Judith Butler aufgegriffen, die die Auffassung vertritt, dass auch das vermeintlich faktisch biologische Geschlecht letztlich ein soziales, diskursiv erzeugtes Konstrukt ist. Laut Butler trägt die Vorstellung, es existiere ein biologisches Geschlecht, das schon vor Wirksamwerden sozialer Diskurse existiere, zur Verfestigung der Vorstellung der Geschlechterdichotomie bei (Vgl. Feldmann/Schülting, 2004).
„Für die Methodik der Textinterpretation bedeutet die Prämisse der Gender Studies, dass ein besonderes Augenmerk auf die im Text zu identifizierenden Prozesse der Konstruktion von Geschlecht und Geschlechterdifferenz zu richten ist“ (Gymnich, 2010: 255). Die gender-orientierte Textanalyse kaprizierte sich in der Frühphase ihrer Auskonturierung fast ausschließlich auf inhaltsbezogene Aspekte, um zu untersuchen, welches Bild der Frau auf dieser Ebene rekonstruiert wurde. Der neuere Ansatz der gender-orientierten Narratologie widmet sich jetzt insbesondere der Frage, wie erzählt wird, um zu analysieren, inwiefern bereits die Art und Weise der erzählerischen Vermittlung Ausdruck der Geschlechterkonstruktion des Textes sein kann.
Anhand des von Marion Gymnich bei Nünning/Nünning (2010) vorgestellten Modells der gender-orientierten Narratologie soll nun Tristana auf narrativer Ebene untersucht werden, um zu eruieren, ob Galdós ein neues Frauenbild entworfen und damit einen klassisch feministischen Roman geschaffen hat. Dabei werden die Aspekte Stimme und Fokalisierung als Leitkategorien der Untersuchung dienen, ausgehend von der These, dass bereits die erzählerische Vermittlung Teil der Geschlechtskonstruktion des Textes ist. Darüber hinaus beabsichtige ich auch die Raumkonstrukte und Plotstrukturen auf ihre Bedeutung als Träger des textuellen Geschlechtsdiskurses hin zu befragen. Abschließend sollen die intertextuellen Verweise des Werkes bezüglich ihrer Bedeutung für die Konstruktion von Weiblichkeit in Tristana unter Rückgriff auf Judith Butlers Konzeption von Travestie analysiert werden.
2 Analyse der narrativen Struktur des Romans unter gender-orientierten Gesichtspunkten
2.1 Stimme
Im Folgenden soll der Roman bezüglich der in ihm artikulierten Erzählerstimmen untersucht werden. Dabei orientiert sich die Analyse an folgenden Leitfragen: Welches Geschlecht weist der (empirische) Leser den Erzählinstanzen zu? Inwiefern trägt dieses gendering der Erzählerstimmen dazu bei, die Geschlechterdichotomie zu bestätigen oder zu subvertieren? Welche Rolle spielen die Stellung der einzelnen Stimmen zum Geschehen sowie die Reihenfolge ihrer Artikulation für die Konstruktion des Geschlechtskonzeptes?
[...]
[1] Wolter, Birgit (1997): Geschlechterspezifik, Sprache, literarische Konstruktion. Empathiestrukturen bei Emilia Pardo Bazán und Benito Pérez Galdós. Berlin: ed. tranvía: 69. (Gender Studies Romanistik, Band 2).
[2] Vgl. Gymnich, Marion (2010): Methoden der feministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies. In: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar: Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze – Grundlagen - Modellanalyse. Stuttgart: Metzler: 251ff.
[3] Feldmann, Doris/Schülting, Sabine (32004): Gender Studies. In: Nünning, Ansgar: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler.