Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Einführung in den Konstruktivismus
2.1. Theoretische Wurzeln
2.2. Allgemeine Merkmale des Konstruktivismus
2.3. Die Bezeichnung des Radikalen Konstruktivismus
3. Die Kritik an den Konstruktivismus
3.1. Die erkenntnistheoretischen Kernaussagen und ihre realistische Voraussetzungen
3.2. Rechtfertigungsprobleme der radikal-konstruktivistischen Erkenntnistheorie
3.3. Probleme des Radikalen Konstruktivismus als empirische Theorie
3.4. Fazit zur Kritik am Konstruktivismus
4. Die Kritik an der radikal-konstruktivistischen Pädagogik
4.1. konstruktivistische Pädagogik
4.2. Kritik an der radikal-konstruktivistischen Pädagogik
5. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Rahmen des Studiums einer Geisteswissenschaft, wie beispielsweise der Bildungs- und Erziehungswissenschaft, kommt man nicht umher, sich mit metatheoretischen Problemstellungen und Herangehensweisen auseinanderzusetzten. Auch in dem Bereich der Geisteswissenschaften - wie in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen - macht ein ‚Zauberwort‘ von sich reden: „Konstruktivismus“.1 Der Begriff des Konstruktivismus hat sich in den vergangenen Jahren als die allgemein übliche Bezeichnung für eine Reihe von sozial- und humanwissenschaftlichen Theoriebildungen durchgesetzt. Mit einem näheren Blick enthüllen sich diese Theoriebildungen als recht verschiedenartig, sie erstrecken sich über ein weit gefächertes Spektrum unterschiedlichster Standpunkte. Dieses Spektrum reicht von verhältnismäßig moderaten bis hin zu äußerst radikalen und kontroversen Positionen.2 Der Konstruktivismus bezeichnet daher primär einen bestimmten theoretischen und methodologischen Standpunkt der Gesellschafts- und Humanwissenschaften. Einen Großteil der Argumentationen bestreitet er jedoch mit Anleihen aus der Philosophie, darunter auch solch esoterischen Disziplinen wie der Sprachphilosophie und der Metaphysik. Das macht es nach Collin (2008) zu einer recht anspruchsvollen Aufgabe für einen Leser ohne Kenntnisse in der Philosophie zum Kern der konstruktivistischen Denkweise vorzustoßen und kritisch zu ihr Stellung zu nehmen.3 Die Beantwortung der beiden Fragen, was ist Wirklichkeit und wie kommt sie zustande, markiert den Schwerpunkt des Konstruktivismus und entfachte in den letzten Jahrzenten eine interdisziplinäre Debatte zwischen Hirnforschern, Psychologen, Philosophen und Sozialwissenschaftlern. Die Grundthese in dieser aktuellen Diskussion lässt sich nach Fischer (1995) auf den provokanten Satz reduzieren: „Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist konstruiert.“4 Das, was heute Konstruktivismus genannt wird, ist keineswegs eine einheitliche philosophische Schule, sondern es gibt eine „scheinbar unbegrenzt erweiterbare [...] Konstruktivismusfamilie“5. Daher hat sich in der Literatur der Begriff der verschiedenen Spielarten des Konstruktivismus etabliert. Wird aber im Zuge dieser Arbeit von Konstruktivismus gesprochen, so wird bloß der Anspruch erhoben, einen Konstruktivismus zu repräsentieren, der vielleicht Elemente verschiedener Varianten aufweist, aber nicht den Konstruktivismus.6
Die elaborierteste und prominenteste Spielart unter den verschiedenen Varianten des Konstruktivismus stellt der Radikale Konstruktivismus dar.7 Die Urväter des Radikalen Konstruktivismus sind vor allem Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld, die in ihren Arbeiten den radikalen Standpunkt entwickelt haben.8 Jedoch stoßen der Konstruktivismus und insbesondere der Radikale Konstruktivismus in wissenschaftstheoretischen Abhandlungen auch auf (starke) Kritik, da sich bei näherer Betrachtungsweise doch zum Teil beachtliche Probleme und Schwächen des Konstruktivismuskonzeptes darstellen. Unger (2005) schreibt sogar: „Der Konstruktivismus treibt seltsame Blüten.“9
Im Zuge des Moduls GS 03001 „Wissenschaftstheoretische, geistes- und erfahrungswissenschaftliche Grundlagen der Erziehungswissenschaft“ belegte ich das Seminar „Lernen als Konstruktion von Wirklichkeit? - Der pädagogische Konstruktivismus in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion“. In dieser Veranstaltung wurde ich das erste Mal mit dem komplexen Thema des Konstruktivismus vertraut gemacht, konnte aber nur im geringen Maße zum Kern der konstruktivistischen Denkweise vorzustoßen und blieb bis zur letzten Sitzung dem Konstruktivismus eher skeptisch eingestellt. Aus diesem Grund beschäftige ich mich in der vorliegenden Hausarbeit mit den kritischen Aspekten des Konstruktivismus. Daher stellt sich für mich die Frage, inwieweit der Konstruktivismus in seinen Argumenten Schwächen und Probleme aufzeigt und wie stark diese an dem Grundkonzept des Konstruktivismus zerren.
Am Anfang dieser Hausarbeit steht erstmal die kurze Betrachtung des Konstruktivismus als theoretisches Gebilde. Es werden in diesem Bereich die theoretischen Wurzeln analysiert und die Grundannahmen und Kernaussagen betrachtet, um auf der einen Seite einen für den Verfasser nötigen Einblick in das Konzept des Konstruktivismus zu bekommen und um sich im Zuge dieser Hausarbeit dann damit kritisch auseinander setzen zu können. Anschließend erfolgt eine kurze Untersuchung des Begriffs des Radikalen Konstruktivismus, aus der eine einheitliche Grundlage für die Arbeit geschaffen werden soll. Im Hauptteil richtet sich die Betrachtung auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus beziehungsweise an die kritischen Einwände gegen den konstruktivistischen Ansatz. Natürlich muss deutlich herausgestellt werden, dass diese Kritik mit den aufgeführten Punkten nur einen Versuch darstellen soll und bei weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit darzustellen vermag. Auch soll im Zuge des erziehungswissenschaftlichen Diskurses eine kurze Analyse der konstruktivistischen Pädagogik erfolgen, um dann auch in diesem Punkt kritische Stimmen zu erheben. Mit einer kurzen inhaltlichen Zusammenfassung sowie der persönlichen Meinung in Bezug auf die Fragestellung soll diese Arbeit beendet werden.
2. Einführung in den Konstruktivismus
Der Konstruktivismus ist zum dominierenden Konzept in den Wissenschaften vom menschlichen Wissen und seiner Entwicklung geworden.10 Der Konstruktivismus antwortet auf die Frage „Was können wir von der Welt wissen?“ lakonisch mit „wenig bis gar nichts“. Der Konstruktivist begründet seine erkenntnis-pessimistische Haltung mit Hinweis auf die aktiv-gestaltende Tätigkeit des Menschen beim Erkennen der Welt. Er geht davon aus, dass es nicht so ist, dass der Mensch Daten aus seiner Welt empfängt und dass diese Daten dann vom Menschen zu einem korrektiven Abbild der Wirklichkeit konstruiert werden. Weiterhin geht der theoretische Ansatz nicht davon aus, dass der Mensch in der Lage ist, seine Umwelt teilweise in der Wahrnehmung oder im Denken zu rekonstruieren.11 Es ist vielmehr so: „Der Mensch hat beim Erkennen unglaublich viele Freiheitsgrade. Er rekonstruiert die Welt deshalb nicht, er schafft sie sich aus sich selbst heraus als ‚freie‘ Konstruktion. Alles, was sich über diese Konstruktionen sagen lässt, ist, dass sie irgendwie durch zutun der Welt zustande gekommen sind. Alle weitergehenden Ansprüche aber, etwa solche der Übereinstimmung von Welt und Erkannten, sind abzulehnen. Die Welten, in denen verschiedene Menschen leben, sind voneinander grundverschieden. Von diesen grundverschiedenen Welten ist keine den anderen vorgeordnet oder überlegen.“12 Nach Diesbergen (2000) erkennen wir also die Welt, „so wie sie ist, weil wir sie so gemacht haben, und etwas anderes als was wir gemacht haben, können wir nicht kennen. Das Erkennen entspricht damit dem Machen; die Welt erkennen heisst, die Welt zu konstruieren“13. Das Bild, das wir uns von der Welt machen, haben wir nicht von ihr sozusagen abgezogen, sondern wir haben es konstruiert. Dies gilt nicht nur für das einzelne Individuum in seiner alltäglichen Wahrnehmung, es gilt genauso für die wissenschaftliche Theorie, „sie wird nicht aus der Beobachtung gewonnen, sondern an die Beobachtung herangetragen“14. Aus diesem Grund kann der Mensch nur erkennen, was er selber gemacht hat und „darum ist die Welt und muß die Welt, die der Mensch erlebt, so sein, wie sie ist, weil der Mensch sie so gemacht hat“15. Der Gegenspieler zum Konstruktivismus ist der Realismus. Diese Bezeichnung ist in mannigfacher Bedeutung gebräuchlich und repräsentiert in diesem Zusammenhang den Standpunkt, „dass die Existenz und die Eigenschaften der Wirklichkeit unabhängig von unserer Erkenntnis seien“16.
2.1. Theoretische Wurzeln
Unter den Wissenschaften, auf die sich der Konstruktivismus und seine Verfechter berufen, sind einschlägige Natur- und Geisteswissenschaften vertreten. Auf den ersten Blick mag das nach Neuhäuser (2003) erstaunlich sein, denn die Auffassung, dass wir unser Wissen konstruieren, scheint eher nahezulegen, dass es sich um Eigenschaften des Menschen handelt, also Fähigkeiten, die sich im Laufe der Kultur- und Geistesgeschichte herausbilden. Daher müssten sie vor allem kultur- geisteswissenschaftliche Forschungsgegenstände sein, „tatsächlich aber dominiert dieses Wissenskonzept in den Naturwissenschaften von Menschen“17. Der Radikale Konstruktivismus kann gar als Sammelbegriff für naturalistische Erkenntnistheorien gelten, die zwar in klassisch- philosophischer Weise danach fragen, wie Erkenntnis erlangt und gerechtfertigt werden kann, aber keine spekulativen Antworten geben. Die Konstruktivisten fragen stattdessen vielmehr: wie erzeugt der ‚Organismus Mensch‘ tatsächlich Erkenntnis? Bei der Klärung dieser Frage wird bevorzugt auf die Biowissenschaften von Menschen zurückgegriffen: die Neurobiologie und dabei insbesondere die Gehirnforschung. Weiterhin zählen dazu die Evolutionsbiologie und die Kognitions- und Entwicklungspsychologie. Diese ‚Biologie der Erkenntnis‘ hängt zumeist an einer Annahme der Kognition, in der die Funktionswiese des Gehirns bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung eine wesentliche Rolle spielt.18 „Konstruktivistische Philosophen vertreten die Auffassung, daß alles, was Einzelwissenschaften wie etwa die Neurobiologie an Einsichten über den Beobachter und seine Kognition beibringen können, gründlich erwogen werden muß, will man über Wahrnehmung, Erkenntnis, Wirklichkeit und Wahrheit philosophieren.“19 Die Reihe der Disziplinen ist mit der Humanbiologie allerdings noch nicht ausgeschöpft. Auch in der Synergetik, der Kognitionswissenschaft, der Chaostheorie, sogar der Systemtheorie existieren inzwischen konstruktivistische Ansätze.20
Bei einigen Autoren werden die Grundannahmen des Konstruktivismus durch genetische und evolutionäre Gesichtspunkte ergänzt, wie beispielsweise bei Seiler (1994). So existiert der phylogenetische Konstruktivismus der Evolutionären Erkenntnistheorie, der die gattungsgeschichtliche Entstehung der menschlichen Kognition untersucht. Eine weitere Form ist der kulturhistorische Konstruktivismus, der sich mit „der Entstehung und Veränderung von kulturspezifischen Erkenntnisformen und Erkenntnisinhalten“21 beschäftigt. Auch die Wissenschaftsgeschichte ist ebenfalls Gegenstand konstruktivistischer Untersuchungen. Der ontologische Ansatz nimmt an, dass der Mensch seine Erkenntnisse und Sichtweisen nicht einfach von der Wirklichkeit abzieht und auch nicht aufgrund seiner evolutionär entstandenen Ausstattung mitbringt, sondern im Verlauf seines Lebens konstruiert.22
Die gängigste Form der konstruktivistischen Theoriebildung ist das Zurückgreifen auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Doch daneben gehen einige Autoren einen weiteren Weg: die Lektüre philosophischer Texte. Höchst unterschiedliche Philosophen, wie der Kritizismus Kants oder der Pessimismus Schopenhauers, haben eine Neigung zum konstruktivistischen Denkansatz. Vor allem Kants Philosophie enthält viele Grundeinsichten des Konstruktivismus, „er hat sie zum ersten Mal konsequent gedacht“23.
[...]
1 Vgl. Diesbergen 2000, S. 13
2 Vgl. Collin 2008, S. 1
3 Vgl. Collin 2008, S. 7
4 Fischer 2005, S. 9
5 Schmidt 1987, S. 330
6 Vgl. Mitterer 1999, S. 486
7 Vgl. Diesbergen 2000, S. 13
8 Vgl. Schnell/Hill/Esser 2008, S. 111
9 Unger 20005, S. 7
10 Vgl. Hoppe-Graff/Edelstein 1993, S. 9
11 Vgl. Buschlinger/Conradi/Rusch 2009, S. 200
12 Buschlinger/Conradi/Rusch 2009, S. 200
13 Diesbergen 2000, S. 27
14 Seiler 1994, S. 79
15 Schmidt 1985, S. 121
16 Collin 2008, S. 11
17 Neuhäuser 2003, S. 124
18 Vgl. Neuhäuser 2003, S. 123-124
19 Schmidt 1987, S. 327
20 Vgl. Neuhäuser 2003, S. 124
21 Seiler 1994, S. 80-81
22 Vgl. Seiler 1994, S. 80-82
23 Neuhäuser 2003, S. 125