Iphigenie in Aulis - Versuch einer Darstellung aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht


Term Paper (Advanced seminar), 2001

43 Pages, Grade: sehr gut


Excerpt


INHALTSVERZEICHNIS

1. VORWORT

2. DIE REZEPTION EINES MYTHOS
2.1. Allgemeines zu Motiven und Stoff
2.1.1. Allgemeine Erläuterungen zu den Begriffen „Stoff“ und „Motiv“
2.1.2. Überlegungen zu Leitmotiven und Neubehandlungen eines bestimmten Stoffes
2.2. Der Mythos der Iphigenie in Aulis
2.2.1. Kurze Inhaltsangabe der Iphigeniensage
2.2.2. Über das Kernmotiv im Iphigenienstoff
2.2.3. Mythos, Ritual und Menschenopfer – Initiation und Königsersetzung bei Iphigenie
2.3. Der Iphigenienstoff als Werkvorlage
2.3.1. Antike Fassungen und Bearbeitungen des Stoffes
2.3.2. Die Iphigenie des Euripides

3. JEAN RACINE UND „IPHIGÉNIE“
3.1. Autor und Werk
3.1.1. Kurzer Lebenslauf
3.1.2. Kurze Bemerkungen zu Racines Werk
3.2. Racines “Iphigénie en Aulide”
3.2.1. Der Inhalt von Racines Iphigenie
3.2.2. Formaler Aufbau des Dramas
3.2.3. Die Charaktere – Schrecken und Mitleid, Sehen und Erkennen
3.2.4. Kommunikationsformen
3.2.5. Über Racines Verwirklichung der Iphigenie und seine euripideische Vorlage

4. IPHIGENIE BEI GLUCK
4.1. Bemerkungen zur Entwicklung von Drama und Libretto
4.1.1. Über das geistige Umfeld des antiken griechischen Dramas und der Oper
4.1.2. Renaissancehafte Wiederaufnahme, barocke Entfremdung, gluck´sche Reform
4.1.3. Zur Entstehung und Uraufführung von Glucks Iphigenie
4.2. Die textliche Vorlage im Libretto Bailli du Roullets
4.2.1. Beschaffenheit und Wirkung des Mythos
4.2.2. Gegenüberstellung von Racines und du Roullets „Iphigénie en Aulide“
4.3. Glucks Vertonung des Librettos
4.3.1. Musik und Sprache
4.3.2. Analyse eines Ausschnitts der Oper in Bezug auf Musik und Sprache

5. BEISPIELE DER BEHANDLUNG DES STOFFS NACH RACINE IM DEUTSCHSPRACHIGEN
SPRECHTHEATER
5.1. Friedrich Schiller, Iphigenie in Aulis, übersetzt aus dem Euripides
5.2. Gerhart Hauptmann, Iphigenie in Aulis

6. NACHWORT

7. LITERATURVERZEICHNIS
7.1. Primärliteratur
7.2. Sekundärliteratur
7.3. Lexika

IPHIGENIE IN AULIS

1. VORWORT

Warum der „Versuch einer Darstellung aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht“?

In der vorliegenden Arbeit wollen wir vor allem das Drama “Iphigénie en Aulide” von Jean Racine und seine “Librettoform” von Jean du Roullet für der Vertonung von Christoph Willibald Gluck unter die Lupe nehmen.

Wir wollen hierbei – wie es dem Untertitel dieser Arbeit zu entnehmen ist – versuchen, die Betrachtung des Dramas (und des Librettos) in eine Einführung über seine stoffliche Herkunft einzubetten, was auch mit dem Versuch in Verbindung steht, wesentliche Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte allgemein und zur speziellen Rezeptionsgeschichte des Stoffes der Iphigenie nicht auszulassen.

Als Ergebnis möchten wir mit dieser Zielsetzung dem Leser die Tatsache vor Augen führen und verständlich machen, dass ein Jahrhunderte alter Mythos auch heute noch aktuell sein kann und dies in der Regel auch ist, und, dass – so alt ein Mythos/ein Stoff auch sein mag – es immer wieder Menschen gab, gibt und geben wird, die sich mit alten Stoffen beschäftigen, um diese alten Stoffe auf ihre Weise in ihrer jeweiligen Epoche zu verwerten und für die jeweilige Zeit auszudeuten und zu adaptieren.

Um nun das Phänomen der Aktualität und der Aktualisierung von antiken Stoffen besser verstehen zu können, beginnen wir mit unserer Einführung in die Rezeptionsgeschichte, bevor wir uns der Iphigenie bei Racine und Gluck widmen.

2. DIE REZEPTION EINES MYTHOS

2.1. Allgemeines zu Motiven und Stoff

2.1.1. Allgemeine Erläuterungen zu den Begriffen „Stoff“ und „Motiv“

Bevor mit dem[1] im Vorwort angekündigten Versuch der stoffgeschichtlichen Untersuchung des antiken Mythos von Iphigenie in Aulis begonnen werden kann, muss noch die Bedeutung der Grundbegriffe „Motiv“ und „Stoff“ genau geklärt werden.

Der „Stoff“ ist eine „sinnvolle Verbindung vorher unverknüpfter Elemente aus allen Wirklichkeitsbereichen“[2]. Er ist dem Dichter durch historische Begebenheiten, Mythen, Überlieferungen, Ereignisse, Erlebnisse, schon existierende Behandlungen des Stoffes durch Vorgänger und dergleichen mehr oder weniger gut zugänglich. Das auf diese Weise vorhandene Ensemble von verschiedensten Elementen bietet dem Dichter eine Vorlage und einen Anstoß zum kreativen künstlerischen Schaffungsprozess.

Der Begriff „Stoff“ ist vielleicht am besten erklärbar, wenn man ihn in Bezug auf eine konkrete Verwirklichung betrachtet: Unter dem Stoff des Mythos der Iphigenie in Bezug auf die Textfassung des Euripides versteht man grundsätzlich alles, was dem Dichter über dieses Thema zugänglich war und das sind nicht nur sämtliche literarische Bearbeitungen seiner Vorgänger, sondern auch Überlieferungen und „Reflexe von Mythos und Kulturlegenden“[3].

Das Motiv hingegen ist die Grundlage für die Entstehung eines Stoffs. Ein Stoff ist genau genommen nichts weiter, als die Kombination mehrerer verschiedener Motive, er setzt sich also – gleich einem Puzzle – aus mehreren verschiedenen Motiven zusammen. Die Aneinanderreihung, Verkettung und Verknüpfung einiger Motive bildet im Prinzip das Grundgerüst eines jeden Stoffes.

Verständlicherweise lässt sich demnach ein bereits vorhandener Stoff auch abwandeln und verändern, indem man Motive hinzugibt, sie gegen andere austauscht, sie anders gewichtet, etc. Dadurch verändern sich in der Regel – zumindest in irgendeiner Form – der Handlungsverlauf, die Position der verschiedenen Figuren bzw. vor allem die Position der Protagonisten zueinander und meist auch die Zielsetzung bzw. die Grundaussage des Stückes.

2.1.2. Überlegungen zu Leitmotiven und Neubehandlungen eines bestimmten Stoffes

Was nun könnten[4] Gründe dafür sein, dass antike Stoffe – oder betrachten wir es etwas allgemeiner – bereits vorhandene Stoffe immer wieder von zahlreichen Dichtern aufgenommen und neu verwertet werden?

Zuallererst sei eines klargestellt: Ein Dichter, der sich dazu entschließt, einen bereits vorhandenen Stoff erneut zu behandeln, macht dies sicherlich nicht einfach aus Einfallslosigkeit oder Bequemlichkeit. Die Behandlung eines bereits vorhandenen Stoffes ist wahrscheinlich sogar eine viel größere Herausforderung als das Schaffen eines Neuen (das doch wiederum in seinen Grundzügen aus schon vorhandenen Grundmotiven bestehen würde). Denn die Beschäftigung mit etwas Vorhandenem erfordert die genaue Auseinandersetzung mit den im Stoff vorhandenen Motiven. Man ist somit unweigerlich gefordert, zu überlegen, wie diese zueinander gewichtet sind und wie diese sinnvoll anders ausgelegt oder verpackt werden könnten.

Genauso vielseitig, wie ein und dasselbe Motiv verwendbar ist, sind auch die Beweggründe des Dichters, einen Stoff zu behandeln: Vielleicht erschient dem Dichter das Vorhandene zu widersprüchlich und/oder zu wenig zeitgemäß, oder vielleicht soll ein anderer Sinn ausgedrückt werden, vielleicht sollen verschiedene Motive stärker betont werden. Vielleicht soll eine andere Geschichte erschaffen werden, die nur mehr auf der Grundlage des ursprünglichen Mythos basiert. Vielleicht aber auch will der Dichter hinter dem Deckmantel des Althergebrachten aktuelle gesellschaftliche und soziale Mißstände oder ähnliches aufzeigen, um vor der Zensur bewahrt zu bleiben. Dies sei nur als kurzer Abriß der Möglichkeiten angeführt.

Die Behandlung eines bereits mehrfach verwirklichten Stoffes – wie dies bei Euripides und Racine mit Iphigenie der Fall ist (auf die konkrete Situation wird weiter unten noch eingegangen) – passiert also nicht nur mit Absicht und Hintergedanken, sie ist für den Dichter auch als besondere Herausforderung zu sehen, denn schließlich betreibt der Dichter damit aktive Rezeptionsgeschichte, und das nicht nur in Bezug auf den Stoff, sondern vor allem auch in Bezug auf die literarischen Verwertungen seiner Vorgänger.

2.2. Der Mythos der Iphigenie in Aulis

2.2.1. Kurze Inhaltsangabe der Iphigeniensage

Im Hafen[5] der Insel Aulis befinden sich die zur Abfahrt nach Troja bereiten Schiffe des griechischen Heeres, das den Verrat des Paris, der die schöne Helena geraubt hat, an Menelaos rächen soll. Doch die Schiffe können nicht ablegen, da die Göttin Artemis seit Tagen eine Windstille über Aulis gelegt hat. Sie ist erzürnt, weil Agamemnon eine ihr geweihte Hirschkuh erlegt hat und mit seiner Treffsicherheit prahlt.

In der bedrückenden Ratlosigkeit sucht Agamemnon den Seher Kalchas auf, der ihm zu verstehen gibt, dass die beleidigte Göttin nur damit versöhnt werden könne, dass er ihr sein liebstes Kind, Iphigenie, opfere. Schweren Herzens und nicht ohne Gewissensbisse beschließt Agamemnon schlußendlich, dem Orakelspruch Folge zu leisten, um nicht das gesamte Heer gegen sich und sein Geschlecht aufzuwiegeln. Unter dem Vorwand der bevorstehenden Hochzeit Iphigenies mit Achill, beordert Agamemnon Iphigenie und ihre Mutter Klytämnestra nach Aulis.

Doch das Herz des Vaters bereut sehr bald seinen Entschluss und versucht, mit Hilfe eines Briefes Mutter und Tochter zu warnen und deren Ankunft auf Aulis verhindern. Agamamnons Bruder Menelaus fängt den Brief aber ab, da er eine baldige Abfahrt des Heeres zur Rettung seiner Helena in Troja wünscht.

Als Klytämnestra und Iphigenie also nichtsahnend in Aulis ankommen, sieht Agamemnon trotz des Meinungsumschwungs und des Abratens seines Bruders keinen Ausweg mehr und beschließt schweren Herzens, seine Tochter zu opfern. Auch der Versuch Klytämnestras, Iphigenie durch Achills Hilfe zu retten, bleibt vergebens, da Iphigenie sich schließlich als einsichtige Tochter ihrer töchterlichen Pflicht bewusst zeigt und aus freien Stücken beschließt, für Griechenland zu sterben. In letzter Sekunde wird Iphigenie jedoch am von Artemis, der die Entscheidung des Vaters genügt, auf wundersame Weise entrückt und eine Hirschkuh an ihrer Stelle geopfert.

2.2.2. Über das Kernmotiv im Iphigenienstoff

Das Kernmotiv[6] im Iphigenienstoff ist das Ritual des Menschenopfers bzw. im speziellen Fall die Verwandtenopferung. Bei aller Freiheit, die dem Dichter, der den Iphigenienstoff als Grundlage für ein Werk heranziehen möchte, für die konkrete Verwertung und Gestaltung bleibt, muss dieses Leitmotiv Grundlage der literarischen Verwirklichung des Stoffs bleiben, denn schließlich ist das Opfermotiv die Grundthematik, weshalb der Stoff überhaupt existiert. Ihm sind in diesem Fall alle anderen Motive und Motivstränge untergeordnet – wie dies bei Dramen üblich ist (dieser Aspekt könnte vielleicht interessant sein im Hinblick auf die Forderungen der klassischen Tragödie nach einem einheitlichen Handlungsstrang).

Wie und wodurch der jeweilige Dichter die Opferung begründet oder die Art und Weise, wie er sie geschehen oder enden lässt, bleiben seinem Wunsch und seiner Kreativität überlassen.

Dies sei nur ein kleines Beispiel für die Fülle von Variationsmöglichkeiten, die ein Motiv bietet. Es soll vor allem ein wenig betonen, was bereits in Kapitel 2.1.2. beschrieben wurde, nämlich, dass die Adaption eines „alten“, eines bereits vorhandenen Stoffes in der Regel sehrwohl seine guten Gründe und Zielsetzungen hat und keineswegs willkürlich passiert.

2.2.3. Mythos, Ritual und Menschenopfer – Initiation und Königsersetzung bei Iphigenie

Die Begriffe[7] Ritual, Religion und Opfer stehen seit jeher in engem Zusammenhang. Das zentrale Geschehen des Mythos der Iphigenie in Aulis bildet das Opfer als religiöse Handlung. Das „Jungfrauenopfer“ in der Iphigenie könnte also als versöhnendes Opfer verstanden werden: Als Sündenbock verdammt, werden Gewalt und Gewaltgelüste auf das Opfer konzentriert und am Opfer ausgetragen, um die Gemeinschaft davor zu bewahren und davon zu reinigen und somit das Wohl aller zu garantieren und wiederherzustellen.

Mindestens ebenso wichtig wie das Motiv des Sündenbocks, der für die Gemeinschaft stirbt, ist aber folgender Faktor zu bewerten: Opferriten sind prinzipiell auch mit Initiationsriten und Königsersetzungsriten vergleichbar, um nicht zu behaupten, dass ein Opferritus unter anderem auch als Initiationsritus und/oder Königsersetzung zu verstehen ist.

Dass der Iphigenienstoff als ein solches Konglomerat aus Opfer-, Initiations- und Königsersetzungsritus zu verstehen ist, sei anhand der folgenden Beispiele, die als typische Elemente bzw. Grundmotive solcher Riten gelten, belegt:

Erstens findet eine Initiation immer an einem abgeschiedenen, für außenstehende kaum erreichbaren Ort statt (Insel Aulis, Iphigenie und Klytämnestra finden beinahe nicht hin).

Der Mann (Achilles; derjenige, der die Initiation durchmachen soll) muss als Vorbereitung der Tat durch das Opfer der Jungfrau seinen Liebesverzicht demonstrieren (dies ist wie eine Probe, die er zu bestehen hat, um sich als würdig für die im Initiationritus vorgesehene Läuterung zu erweisen). Erst dann wird er – aufgrund der durch das erbrachte Opfer erwiesenen Stärke (das Wohl der Gemeinschaft ist ihm wichtiger als sein eigenes) – im Krieg und bei der Jagd (qualvoller Weg der Läuterung und Erkenntnis) erfolgreich sein, und so den unerlässlichen Beweis für seine Würdigkeit erbringen können.

Gleichzeitig ist vor allem auch das Opfer (also Iphigenie selbst) als Initiandin zu sehen. Schließlich macht sie – wenn auch nur andeutungsweise – die Qual des Todes durch, was als Weg der Läuterung und der anschließenden Erkenntnis interpretiert werden kann.

Neben diesen im Drama vorzufindenden Aspekten der Initiation ist auch der Aspekt der Königsersetzung nicht zu vergessen. Dieser beinhaltet das Motiv des alten Herrschers, dessen Macht am schwinden ist und der seiner Aufgabe als Herrscher nicht mehr gerecht werden kann (Agamemnon; das Land ist in einer Krise, die nicht bewältigbar erscheint – bevorstehender Krieg – bis Achilles sich der Sache annimmt. Achilles muss sich allerdings zuvor noch als würdig erweisen und sich der Läuterung unterziehen).

2.3. Der Iphigenienstoff als Werkvorlage

2.3.1. Antike Fassungen und Bearbeitungen des Stoffes

Der Iphigenienstoff[8] war zweifellos sehr beliebt in der Antike, denn es gibt von zahlreichen großen Dichtern der Antike eigene Behandlungen dieses Stoffes. Die erste ausführliche literarische Behandlung der Opferung der Iphigenie in Form eines Exzerpts aus den Kyprien stammt von Proklos, den man im 2. Jahrhundert vermutet.

Homer behandelt die Opferung der Iphigenie interessanterweise weder in der Ilias noch in der Odyssee, wobei es ungeklärt scheint, ob er von der Sage über Iphigenies Opferung nichts wusste oder ob er diese aus bestimmten Gründen absichtlich nicht behandelt hat, vielleicht deshalb, weil er Zeit seines Lebens eine abweisende Haltung gegenüber barbarischer Menschenopfer vertreten hat.

Weitere Behandlungen des Stoffes in unterschiedlichen Formen gibt es bei Hesiod, Stesicheros und Pindar und auch bei Aischylos. Sophokles liefert sogar zwei verschiedene Werke (Iphigeneia uns Elektra), wo er Elemente des Iphigenienstoffs einfließen lässt.

Wir wollen uns hier allerdings auf die Fassung des Euripides konzentrieren und beschränken, denn sie gilt als eine der bekanntesten und bedeutendsten Verwirklichungen des Iphigenienstoffs. Dies ist sicherlich nicht zuletzt deshalb der Fall, weil viele spätere Dichter, wie auch Racine, die Fassung der Iphigenie des Euripides als Vorlage für ihre eigene Neubehandlung herangezogen haben und Euripides in dieser Hinsicht eine wichtige Vorbildfigur darstellt bzw. zu einer wichtigen Vorbildfigur gemacht wurde.

Vor allem für uns in dieser Arbeit ist die Beschäftigung mit Euripides‘ Iphigenie unerlässlich, da diese Racines Iphigenie, die wir später untersuchen werden, zugrunde liegt.

2.3.2. Die Iphigenie des Euripides

Die Tragödie des Euripides beginnt mit dem Dialog Agamemnons mit einem Greis und dem Prolog, in dem Agamemnon vom Raub der schönen Helena und vom Orakelspruch des Kalchas erzählt. Die Tatsache, dass dem Orakel zufolge Agamemnon seine Tochter der Göttin Artemis opfern muss, um seiner festsitzenden Flotte die Weiterfahrt zu ermöglichen, wird im Prolog eigentlich ganz sachlich und trocken geschildert.

Agamemnon schickt daraufhin – dem Rat von Menelaos, Kalchas und Odysseus folgend – trotz Zweifel seiner Frau Klytämnestra einen Brief, in dem er diese unter dem Vorwand einer geplanten Vermählung Iphigenies mit Achill auffordert, mit Iphigenie unverzüglich nach Aulis zu kommen. Doch die väterliche Liebe veranlasst Agamemnon dazu, seiner Frau in einem geheimen Brief die Verschiebung der Hochzeit vorzutäuschen mit dem Hintergedanken, das Eintreffen der Iphigenie in Aulis doch noch zu verhindern. Menelaos jedoch, der seine Helena so schnell als möglich zurück haben möchte und deshalb eine baldige Abfahrt der Flotte wünscht, fängt den Brief ab und vereitelt so den Rettungsversuch des Vaters.

Als ein Bote das Eintreffen von Iphigenie, ihrer Mutter und ihrem Bruder ankündigt und Menelaos plötzlich die Verzweiflung des Agamemnon zu erkennen scheint, rät ihm dieser doch von der Opferung seiner Tochter ab. Doch Agamemnon fürchtet die Rache des mittlerweile aufgebrachten Heeres und hat bereits beschlossen, sich dem göttlichen Willen der Artemis zu fügen.

Der Versuch, Mutter und Tochter aus dem Wege zu gehen, schlägt natürlich fehl. Iphigenie ist vom seltsamen, fast feindlichen Verhalten des Vaters ihr gegenüber erstaunt und bestürzt, da sie ihren Vater über alles liebt und diese Liebe auch zurückzubekommen gewöhnt ist. Die nichtsahnende Mutter ist bestürzt, als sie schließlich vom grauenvollen Plan des Königs erfährt und stellt diesen vor den Augen der verzweifelten Iphigenie zur Rede. Agamemnon beteuert, dass ihm der Entschluss schwerfällt, er sich aber nach langem Überlegen für das Vaterland und somit für den Tod seiner Tochter entscheiden musste.

Achill hingegen verspricht Klytämnestra, alles ihm mögliche zu unternehmen, um Iphigenie am Leben zu erhalten. Doch das Heer ist bereits in großer Aufruhr und fordert das Opfer.

In dieser ausweglosen Situation erkennt Iphigenie ihre Pflicht und entschließt sich zum freiwilligen Opfertod, um nicht ihre Familie, Achill und ganz Griechenland ins Verderben zu stürzen.

Als Iphigenie so am Opferaltar hingerichtet wird, tritt ein Bote auf, der von der wundersamen Entrückung Iphigenies zu den Göttern berichtet.

3. Jean RACINE und „IPHIGéNIE“

3.1. Autor und Werk

3.1.1. Kurzer Lebenslauf

Jean Racine[9] wird am 21. Dezember 1639 in La Ferté – Milon als Sohn einer Beamtenfamilie geboren. Seine Mutter, gebürtige Sconin, stirbt etwa ein Jahr danach bei der Geburt von Racines Schwester Marie. Der Vater heiratet 1642 nochmals, stirbt aber wenig danach im Jahre 1643. Der verwaiste Racine und seine Schwester werden von den Großeltern aufgezogen, Marie bei den Sconins und Jean bei den Racines.

In den Jahren 1651 – 1655 ist Racine am Collège der Stadt Beauvais und danach studiert er drei Jahre an der Schule des Klosters Port-Royal, wo er die lateinische und die griechische Sprache erlernt und in intensiven Kontakt mit antiken Dichtern wie Euripides, Sophokles und anderen kommt. 1658 beendet Racine seine Studien in Paris.

Dort trifft er auf Persönlichkeiten wie Lafontaine und verkehrt in diversen Schriftsteller- und Schauspielerkreisen. Mit einer Ode auf die Vermählung Ludwigs XIV. (“La Nymphe de la Seine”, 1660) lenkt er die Aufmerksamkeit und die Gunst des Königs auf sich.

Die von der jansenistischen Gesellschaft und auch der Verwandtschaft als anrüchig angesehene Liebe Racines zur Tragödie und zum Theater bringt ihm schließlich den Ausschluss aus Port-Royal und den Verlust der versprochenen Aussichten auf Pfründe. Doch Racine kann sich mit seinen Oden die Gunst des Königs und den Zutritt zum Hof sichern und lernt Boileau und Molière kennen, dessen Schauspieltruppe auch seine Stücke zur Aufführung bringt. Am 12. Jänner 1673 wird Jean Racine in die Académie Française aufgenommen.

Im Juni 1677 heiratet Racine Catherine de Romanet, mit der er sieben Kinder hat. Im September dieses Jahres wird er gemeinsam mit Boileau zum Historiographen des Königs ernannt, was seinen Abschied von der Bühne zur Folge hat. Das Zerwürfnis mit seiner geistigen Heimat Port-Royal beschäftigt Racine Zeit seines Lebens. Ab 1677 wendet er sich dem Port-Royal und dem Jansenismus wieder zu, zuerst im Geheimen, um nicht in Konflikt mit dem Staat zu gelangen. Schließlich bekennt er sich aber öffentlich zum Jansenismus.

Am 21. April 1699 erliegt Racine einem Leberleiden und wird wunschgemäß in Port-Royal bestattet.

[...]


[1] Cf. ARETZ, Susanne: Die Opferung der Iphigeneia in Aulis. Die Rezeption des Mythos in
antiken und modernen Dramen. Stuttgart/Leipzig: Teubner 1999. S. 13 – 28.
Cf. METZELTIN, Michael und THIR, Margit: Erzählgenese. Ein Essai über Ursprung und
Entwicklung der Textualität. Wien: Eigenverlag 3 Eidechsen ²1998. S. 192.

[2] Aretz (1999), S. 14.

[3] Aretz (1999), S. 14.

[4] Cf. Aretz (1999), S. 15 – 20.

[5] Cf. KLEINBAUER, Gudrun: Die Iphigenie bei Euripides, Routrou und Racine – eine
vergleichende Analyse. Diplomarbeit aus Literaturwissenschaft. Universität Wien:
April 1997.S. 5-6.

[6] Cf. Aretz (1999), S. 15.

[7] Cf. Aretz (1999), S. 21 – 46, S. 89 – 90.
Cf. Metzeltin (1993), S. 51 – 82, S. 107 – 110, S. 157 – 165, S. 192.

[8] Cf. Aretz (1999), S. 47 – 88.

[9] Cf. LUTHER, Arthur: Einleitung und Einführungen des Übersetzers. In: RACINE, Jean:
Racine Dramen. Erster Band: Andromache, Iphigenie in Aulis, Phädra. Ins Deutsche
übertragen und mit einer Einleitung versehen von Arthur LUTHER. München:
Goldmann 1961. S. 5 – 30. Cf. Kleinbauer (1997), S. 41 – 47.

Excerpt out of 43 pages

Details

Title
Iphigenie in Aulis - Versuch einer Darstellung aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht
College
University of Vienna  (Institut für Romanistik)
Course
Hauptseminar: Die Tragödie des 15. bis 17. Jahrhunderts
Grade
sehr gut
Authors
Year
2001
Pages
43
Catalog Number
V1693
ISBN (eBook)
9783638110464
File size
792 KB
Language
German
Notes
Iphigenie in Aulis. Versuch einer Darstellung aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht. In der Arbeit wird auf einen Klavierauszug von ´Iphigénie en Aulide´ - dieses Notenbeispiel ist in der Arbeit nicht enthalten! .
Keywords
Iphigenie, Mythos, Rezeption, Gluck, Racine
Quote paper
Mag. art. Joachim Claucig (Author)Norbert Kautschitz (Author), 2001, Iphigenie in Aulis - Versuch einer Darstellung aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1693

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