Historisch gesehen waren die Geschicke Europas und Indiens vom 17. bis hinein ins 20. Jahrhundert tief verstrickt. Der globalisierte Handel von heute hatte seine Wurzeln in einer Zeit, als Afrika und Teile Asiens von europäischen Abenteurern, Glücksrittern, Eroberern, Freibeutern und Feldherren bereist wurden und sich europäische Monarchien einträgliche Kolonialreiche einverleibten. Dieses Aufeinandertreffen der Kulturen und Ethnien, sowie der unterschiedlichen Wirtschaftsformen und Industrialisierungsgrade, verursachten sowohl in den Mutterländern, als auch in den Kolonien Adaptionsprozesse, die zu tiefgreifenden Veränderungen führten.
Durch die Ausbeutung der kolonialen Ressourcen konnten sich die Eroberer und Investoren hohe Gewinne sichern, mit denen die Expansion der Fremdherrschaft und Hegemonie weiter ausgedehnt wurde.
Die industrialisierten Nationen installierten in ihren Kolonien westliche Verwaltungsapparate und damit die europäische Bürokratie. Die Mutterländer etablierten moderne Bildungssysteme und die wohlhabenden Familien der kolonisierten Völker schickten ihre Söhne nach Cambridge oder Oxford, um zu studieren, zu promovieren und das erworbene Wissen ihrer Heimat zugutekommen zu lassen. Eine neue europäisch sozialisierte Bildungsschicht entstand und damit auch die Forderung nach europäischen Staatsverhältnissen. Die industrialisierten Wirtschaften Europas importierten europäische Luxusgüter und investierten in Industriezweige in den Kolonien. Maschinen und Ingenieure wurden in alle Welt verschifft, was zu einem wirtschaftlichen Aufstieg der kolonisierten Länder führte und den Nährboden für eine spätere Eigenständigkeit lieferte.
Trotzdem war die These einer kulturellen Überlegenheit, der Pflicht zur Erziehung von Milliarden von Menschen zur europäischen Kultur und ihre Konsequenz, die Kolonialisierung ganzer Kontinente, auf Dauer unhaltbar. Die Edukation und Etablierung ein heimischer Eliten in den Mutterländern konterkarierte sie sogar teilweise und sorgte für eine Emanzipation, die gepaart mit einem festen Willen nach Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, ein Weltreich zu stürzen imstande war.
Diese Arbeit betrachtet die Entkolonialisierung Indiens aus mehreren Perspektiven. Sie beschäftigt sich mit den imperialen Ebenen, den internationalen Rahmenbedingungen und historischen Ereignissen von 1840-1950. Es werden bedeutsame Akteure und Konfliktlinen vorgestellt und die Unabhängigkeit des Subkontinentes aus den Betrachtungen hergeleitet.
Inhaltsverzeichnis
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
1 EINLEITUNG
2 DEFINITION DES BEGRIFFES ENTKOLONIALISIERUNG
3 ENGLANDS SCHRITTE ZUR SELBSTVERWALTUNG INDIENS
3.1 DIE MORLEY-MINTO REFORM VON 1909
3.2 DIE MONTAGU-CHELMSFORD REFORM VON
3.3 ROUND TABLE CONFERENCES VON 1930 BIS
3.4 DER GOVERNMENT OF INDIA ACT
3.5 DER KABINETT MISSIONS PLAN 1946.
4 DIE POLITISCHE ORGANISATION DER INDISCHEN ELITEN
4.1 DER INDISCHE NATIONALKONGRESS
4.2 DIE ALL-INDIA MUSLIM LEAGUE
5 DER NATIONALE FREIHEITSKAMPF IN INDIEN
5.1 DAS HOME-RULE MOVEMENT IN INDIEN
5.2 MAHATMA GANDHI, EINE TREIBENDE KRAFT DER ENTKOLONIALISIERUNG
5.2.1 Von Mohandas Karamchand Gandhi zu Mahatma Gandhi
5.2.2 Gandhis Kampagne der Non-Cooperation
5.2.3 Gandhis Salzmarsch als symbolischer Protest.
6 DER ANTAGONISMUS ZWISCHEN HINDUS UND MUSLIMEN
6.1 VOM HINDUISMUS ZUM HINDUNATIONALISMUS
6.2 DER ISLAM IN INDIEN
6.3 UNTERSCHIEDE ZWISCHEN ISLAM UND HINDUISMUS
6.4 IDEOLOGISCH-RELIGIÖSE SPALTUNG INDIENS.
6.5 DIE PAKISTANISCHE IDEE
7 DIE WELTKRIEGE ALS MOTOR DER DEKOLONISIERUNG.
7.1 DER ERSTE WELTKRIEG
7.1.1 Propaganda in Indien gegen die britische Herrschaft.
7.2 DIE KONSEQUENZ DES ERSTEN WELTKRIEGES
7.3 AUSWIRKUNGEN DER WELTWIRTSCHAFTSKRISE
7.4 DIE ENTWICKLUNGEN WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGES.
7.5 DIE KONSEQUENZ DES ZWEITEN WELTKRIEGES.
8 DIE VIVISEKTION INDIENS UND DIE GEBURT ZWEIER STAATEN
9 ZUSAMMENSCHAU
10 LITERATURVERZEICHNIS
11 ANHANG
Abbildungsverzeichnis
Abbildung a
Abbildung b
Abbildung c
Abbildung d
Abbildung e
Abbildung f
Abbildung g
Abbildung h
Abbildung i
Abbildung j
Abbildung k
Abbildung l
Abbildung m
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Historisch gesehen waren die Geschicke Europas und Indiens vom 17. bis hinein ins 20. Jahrhundert tief verstrickt. Der globalisierte Handel von heute hatte seine Wurzeln in einer Zeit, als Afrika und Teile Asiens von europäischen Abenteurern, Glücksrit- tern, Eroberern, Freibeutern und Feldherren bereist wurden und sich europäische Mo- narchien einträgliche Kolonialreiche einverleibten. Dieses Aufeinandertreffen der Kul- turen und Ethnien, sowie der unterschiedlichen Wirtschaftsformen und Industrialisie- rungsgrade, verursachten sowohl in den Mutterländern, als auch in den Kolonien Ad- aptionsprozesse, die zu tiefgreifenden Veränderungen führten. Durch die Ausbeutung der kolonialen Ressourcen konnten sich die Eroberer und Investoren hohe Gewinne sichern, mit denen die Expansion der Fremdherrschaft und Hegemonie weiter ausge- dehnt wurde. Im Mutterland erfreute man sich der Güter aus den Kolonien, genoss exotische Früchte und Speisen, schmückte sein Heim mit Jagdtrophäen und Elfenbein, möblierte die englische Wohnung mit tropischen Hölzern und folgte Modetrends, die sich aus der kolonialen Lebenswelt ableiteten. Die zahlreichen Menschen in den kolo- nisierten Gebieten stellten ihrerseits einen willkommenen Absatzmarkt für die Wirt- schaft des Mutterlandes dar und die Steuereinnahmen auf Gewinne aus den Kolonien, sowie den kolonisierenden Wirtschaften flossen dem Staat zu. Gerade England genoss ein hohes Prestige durch seine Besitzungen in aller Welt. Ein Land, das selbst eine Fläche von weniger als 200.00 km² maß, verleibte sich fast ein Viertel der Erdoberflä- che ein. Allein Indien ist circa zwanzigmal so groß wie England. Dieser Zuwachs an Landmasse und Untertanen erweiterte nicht nur die wirtschaftliche Potenz um ein Vielfaches, sondern verlieh einem flächenmäßig kleinen Land enormes außenpoliti- sches Gewicht. Schmerzlich mussten die Briten erdulden, dass nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Empire unterging und damit ihr Großmachtstatus der Vergangenheit angehörte. Aber der wirtschaftliche und kulturelle Austausch war keineswegs einsei- tig. Die industrialisierten Nationen installierten in ihren Kolonien westliche Verwal- tungssysteme und damit die europäische Bürokratie. Die Mutterländer etablierten mo- derne Bildungssysteme und die wohlhabenden Familien der kolonisierten Völker schickten ihre Söhne nach Cambridge oder Oxford, um zu studieren, zu promovieren und das erworbene Wissen ihrer Heimat zugutekommen zu lassen. Eine neue europä isch sozialisierte Bildungsschicht entstand und damit auch die Forderung nach euro päischen Staatsverhältnissen. Die industrialisierten Wirtschaften Europas importierten europäische Luxusgüter und investierten in Industriezweige in den Kolonien. Maschinen und Ingenieure wurden in alle Welt verschifft, was zu einem wirtschaftlichen Aufstieg der kolonisierten Länder führte und den Nährboden für eine spätere Eigenständigkeit lieferte. England brachte dem Subkontinent die Pax Britannica, eine gewisse Rechtssicherheit und kodifizierte Gesetzte. Nicht zu vergessen sind natürlich auch die Times of India, das Rugby-Spiel und der Nationalsport Kricket.
Trotzdem war die These einer kulturellen Überlegenheit, der Pflicht zur Erziehung von Milliarden von Menschen zur europäischen Kultur und ihre Konsequenz, die Kolonialisierung ganzer Kontinente, auf Dauer unhaltbar. Die Edukation und Etablierung einheimischer Eliten in den Mutterländern konterkarierte sie sogar teilweise und sorgte für eine Emanzipation, an deren Ende der Wunsch nach Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Kolonie stehen musste.
Der englische Geschichtsschreiber Thomas Babington Macaulay (1800-1859) kom- mentierte diesen Zusammenhang im 19. Jahrhundert und stellte fest, dass die Anglisie- rung der britischen Oberschicht die Forderung nach britischen Institutionen in Indien zur Folge haben würde. Anders als die britischen Imperialisten sah Macaulay darin keine Bedrohung, sondern den stolzesten Tag der britischen Geschichte.1 Doch der Griff der Mutterländer um ihre Kolonien war hart und teilweise unerbittlich. Zu gewichtige wirtschaftliche Interessen sprachen aus Sicht der Mutterländer gegen eine freiwillige Freigabe ihrer Kolonien. Dazu kam der Wunsch, das Prestige, das ein großes Kolonialreich versprach, zu bewahren oder gar zu mehren. Das wird durch eine Äußerung des von 1898-1905 amtierenden Vizekönigs Lord Curzon (1859-1925) sehr bildlich, der resümierte: „Solange wir in Indien herrschen, sind wir die größte Welt- macht.“2 Neben diesen ideologischen und wirtschaftlichen Gründen gab es gewiss noch andere Aspekte, die den Movens zur Erhaltung der Kolonien inspirierten. Das Abenteuer, das eine Karriere in Indien einem jungen englischen Adelssohn versprach, zog Tausende nach Übersee. Die Erfahrungen dort ließen sie, sofern sie dies überleb ten, bei ihrer Rückkehr nach England mit einem verklärten Blick nach Südosten bli cken. Für ganze Generationen war der Dienst in Indien ein adäquater Initiationsritus in die englische aristokratische Gesellschaft.
Mit Gewalt versuchten Briten, Franzosen oder auch Deutsche Unruhen in ihren Herrschaftsgebieten zu unterdrücken, um ihren Einfluss zu sichern und ihren Anspruch unerbittlich geltend zu machen. Exemplarisch hierfür sind zahlreiche militärische Interventionen der Mutterländer.
In Deutsch Südwestafrika, dem heutigen Namibia, führte der Anspruch zu einer Strafaktion gegen die aufständischen Hereros und Nama, nachdem sich diese 1904 gegen die deutsche Kolonialmacht erhoben. Der befehlshabende Generalleutnant Lothar von Trotha (1848-1920) ließ Tausende von Hereros erschießen und trieb den verbleibenden Rest mit Frauen und Kindern mit seinen Soldaten in die fast wasserlose OmahekeWüste, wo sie ein grausames Schicksal erleiden mussten.3
Charles de Gaulle (1890-1970) versuchte selbst nach dem Ende des Zweiten Welt- krieges die französische „Grandeur“ wieder herzustellen und das längst verlorene In- dochina als Kolonie zurückzugewinnen. Diese Anstrengungen mündeten 1954 in der Schlacht bei Dien Bien Puh, ein Krieg der hunderttausende Menschenleben forderte und die Vietnamesen unter Ho Chi Minh (1890-1969) in die Arme der Sowjetunion
(SU) trieb. Das Resultat war ein nicht enden wollendes Martyrium für die Vietnamesen und ein Trauma für alle Amerikaner, die in den Stellvertreterkrieg der Großmächte und Ideologien nach Vietnam entsendet werden sollten.4
In Indien wurde der Aufstand der Sepoys mit aller Kraft militärisch niedergeschlagen und die faktische Herrschaft der East India Company durch die der viktorianischen Krone ersetzt. Dieser von den Engländern als Sepoy Mutiny oder Uprising bezeichnete Aufstand erwuchs aus der Mitte des von der British East India Company (BEIC) re- krutierten Söldnerheeres, das sich zum Großteil aus indischen Soldaten zusammen- setzte. 1857 standen 286.000 Sepoys und nur 37.000 Europäer im Dienst der BEIC unter Waffen.5 Soziale Probleme und religiöse Spannungen brachten die Söldner schließlich gegen ihre Dienstherren auf und es entwickelte sich ein Aufruhr, der von indischen Bauern und verarmten Grundbesitzern flankiert wurde. Diese hatten unter der steigenden Steuerlast zu leiden und wurden bei versäumten Zahlungen von den Engländern enteignet.6 Eine angespannte Situation, die noch durch die wachsenden Missionierungsanstrengungen christlicher Prediger seit den 1840er Jahren verschärft wurde. Das Verhalten der europäischen Offiziere gegenüber den andersgläubigen Sol- daten war alles andere als feinfühlig und so wurden viele Sepoys durch die abschätzi- gen Kommentare ihrer christlichen Vorgesetzten zunehmend provoziert.7 Durch den General Services Enlistment Act von 1856 konnten indische Soldaten auch internatio- nal eingesetzt werden, was eine schwere Sünde für Hindus darstellte, da es ihnen nicht erlaubt war, den Ozean auf Schiffen zu überqueren.8 Die Einführung des neuen und modernen Enfield-Gewehres, welches durch seine Ladetechnik eine weitaus höhere Schusskadenz erlaubte und die veralteten Brown-Bess Musketen ablösen sollte lieferte schließlich den Auslöser für eine Meuterei unter den Soldaten, die sich zu einem groß- flächigen Aufstand gegen die BEIC und die englischen Beherrscher entwickelte. Das Enfield-Gewehr war ein Vorderlader, der mit Patronen geladen wurde, deren Munition von Papier umwickelt war. Der Ladeprozess war in mehrere, straff organisierte Exer- zierschritte eingeteilt. Gab der Offizier das Kommando „Load!“ mussten die Soldaten das gefaltete Ende dieser Papierpatrone mit den Zähnen abreißen und die Pulverladung mitsamt dem Projektil in den Lauf einführen.9 Zum Schutz der Patronen vor Feuchtig- keit war das Papier mit Tierfett imprägniert. Ein Gerücht unter den Soldaten besagte, dass es sich um eine Mischung aus Schweine- und Rinderfett handeln soll. Sowohl für die Hindus als auch für die Moslems ein nicht hinnehmbares Sakrileg. Sie sahen darin einen hinterhältigen Versuch der christlichen Militärs, um sie von ihrer eigenen Reli gion zu entfremden und letztendlich dem Christentum zuzuführen.
Als die ersten Gewehre in der nordindischen Garnison Meerut verteilt wurden, weiger- ten sich fünfundachtzig von neunzig indischen Soldaten das Gewehr zu benutzen, wo- rauf die britischen Offiziere unnachgiebig reagierten und alle in einem Militärge- richtsverfahren zu zehn Jahren Gefängnis verurteilen ließen. Diese drakonische Be- strafung ließ die Situation letztendlich eskalieren. Am 9. Mai 1857 starteten Sepoy- Kavalleristen einen Befreiungsversuch, um ihre Kameraden aus der vermeintlich un- gerechten Haft zu befreien und der Aufstand begann. Die nächsten Wochen und Mo- nate waren von Morden, Brandstiftungen und Plünderungen geprägt. Die Aufständi- schen machten keine Gefangenen und unterschieden nicht zwischen Zivilisten oder Militärs, nicht zwischen Männern und Frauen oder Kindern und Alten.10. Ihr erster Weg führte von Meerut nach Delhi, wo sie den greisen Großmoguln Bahadur Shah Zafar II. (1775-1862), den nominellen Herrscher über Indien, zu ihrem Führer ernann- ten. Doch ausgestattet mit neuester Telegraphentechnik waren die Briten in der Haupt- stadt Kalkutta sofort über die Ereignisse im Bilde und in der Lage, schnell zu reagie- ren. Während die Aufständischen marodierend durch das Ganges-Delta zogen und nahezu jeder britische Außenposten auf ihrem Marsch kapitulieren musste, rüsteten die Briten zum Gegenschlag. Sie rekrutierten wieder indische Söldner, um den Auf- stand niederzuschlagen. Viele entstammten aus der religiösen Gruppe der Sikhs, die Jahre zuvor von den Soldaten der nun außer Kontrolle geratenen „Bengal Army“ unterworfen wurde. Nach sechs Monaten war der Aufstand beendet und die Briten straften die Rädelsführer durch eine barbarische Hinrichtungsmethode. Sie wurden von den Scharfrichtern vor Kanonen gefesselt und durch das Abfeuern der Geschütze in Stücke gerissen.11
Die Konsequenzen des Sepoy Mutiny von 1857 betrafen das gesamte Herrschaftsver- hältnis der Engländer zum indischen Subkontinent. Das Regime der BEIC wurde be- endet und das viktorianische England übernahm die Kontrolle in Indien. Das gesamte Gebiet der Kompanie wurde durch den Government of India Act (GIA) von 1858 zur Kronkolonie erklärt und firmierte fortan unter der Bezeichnung British Raj. Umgeben und durchzogen war das Kolonialgebiet von abhängigen Fürstenstaaten. Der Großmo gul, welcher durch seine Teilnahme an dem Aufstand mehr als kompromittiert war, wurde umgehend abgesetzt und für die Dauer seiner letzten Lebensjahre in die Ver- bannung geschickt.12 Das Vertrauen in die Bauern war ebenso nachhaltig erschüttert, sie hatten den Aufstand unterstützt oder sich aktiv daran beteiligt. In der Konsequenz erließen die neuen Kolonialherren Gesetzte, die den Großgrundbesitzern mehr Rechte einräumten und dafür essenzielle Grundrechte, wie die Vertragsfreiheit einschränk- ten.13 Diese Entwicklung erschwerte die Situation der Bauern, was sich später nach- haltig auswirken sollte.
Königin Victoria von England (1819-1901) übernahm im Jahre 1876 die indische Kaiserwürde und trug somit den offiziellen Titel „Kaiser i Hind“.14 Formell wurde sie in Indien durch den Vizekönig vertreten, der die faktische Macht auf dem Subkonti- nent innehatte und aus dem Amt des Governor-General der East India Company her- vorging. An seiner Seite agierte ein Rat, der zu Beginn die legislativen Funktionen übernahm. Die Krone ernannte acht Mitglieder dieses Rates und die Ratsangehörigen konnten weitere sieben Mitglieder hinzuwählen. Das macht deutlich, dass die Englän- der bei der Besetzung dieser Institution nichts dem Zufall überlassen wollten.
Indien als Gesamtheit zu betrachten, ist bei näherer Beschäftigung mit dem Subkonti- nent nicht möglich. Indien bestand seit jeher aus Hunderten von Fürstentümern und Regierungsbezirken, mit eigenen Traditionen, Ethnien und Sprachen. Es ist im Rah- men meiner Arbeit nicht realisierbar, ein differenziertes Bild Indiens zu zeichnen, das der Vielfalt gerecht werden könnte. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass der Staat Indien ein inhomogenes Konstrukt ohne Einheit ist. In der hier besprochenen Epoche ist das Gebiet Indiens ein Flickenteppich aus Fürstenstaaten und Territorien, die von englischen Residenten kontrolliert werden und Gebieten, die vom britischen Govern- ment of India direkt beherrscht werden.15 Die britische Fremdherrschaft über Indien hat den Subkontinent zusammengehalten. Selbst nach dem Ende der East India Com pany existierten neben Britisch Indien noch über 500 Fürstentümer. Sie waren zwar Untertanen der Krone und außenpolitisch von ihr abhängig. Gegenüber der Bevölke- rung der Fürstentümer regierte der jeweilige Regent allerdings autonom. Lediglich ein „Resident“ war dem einheimischen Fürsten vorgeschaltet und agierte als Mittler zwi- schen der britischen Krone und den lokalen Eliten. Der Umgang mit den Fürstentü- mern mutet bei oberflächlicher Betrachtung sehr liberal an, die Briten ließen die eta- blierten Herrschaftsstrukturen weitgehend unangetastet, sodass sich für die meisten Untertanen keine Änderung ergab. Die Tatsache ist allerdings, dass die Briten dieses Herrschaftssystem etablierten, um möglichst wenig Eigenleistung in die Verwaltung investieren zu müssen.
Diese Arbeit betrachtet die Entkolonialisierung in Indien aus mehreren Perspektiven. Dabei bietet es sich an, auf das Analysemuster von Marc Frey einzugehen, auch wenn dieses nicht trennscharf anzuwenden ist.16 Das Kapitel „Englands Schritte zur Selbst- verwaltung Indiens“ beschäftigt sich mit der intraimperialen Ebene dieses Prozesses und arbeitet wichtige Stationen der verfassungsrechtlichen Entwicklung chronologisch ab. Diese Entwicklung wurde durch das Kolonialregime geplant und bestimmte den historischen Verlauf in Indien. Das folgende Kapitel „Die politische Organisation der indischen Eliten“ geht auf die subimperiale Ebene ein und skizziert die zwei bedeu- tendsten politischen Parteien Indiens und deren Weg zur Unabhängigkeit. Auch der Abschnitt „Der nationale Freiheitskampf in Indien“ bewegt sich auf dieser Ebene. Er porträtiert eine der berühmtesten Personen indischer Geschichte, Mohandas Karam- chand Gandhi und seine zwei bedeutendsten Kampagnen. Diese setzten die Unabhän- gigkeitsbewegung medial wirksam in Szene und blieben im Gemeinschaftsgedächtnis erhalten. Außerdem wird eine wichtige Bewegung des indischen Nationalismus, das Homerule Movement vorgestellt. Aus einer gänzlich anderen Perspektive betrachtet der Abschnitt „Der Konflikt der Religionen“ die Entwicklungen in Indien. Dieser Thematik wird viel Bedeutung beigemessen, da der Antagonismus zwischen Hinduis- mus und Islam einer der Hauptgründe für den britischen Rückzug aus Indien war. Außerdem hat die englische Politik des „Divide and Rule“ nicht nur die Religionen entzweit, sondern in ihrer Konsequenz auch die Einheit Indiens unmöglich gemacht. Ein weiterer Grund, für den Rückzug der Engländer aus ihrer wohl bedeutendsten Ko lonie waren die Entwicklungen während und zwischen den Weltkriegen. Das Kapitel „Die Weltkriege als Motor der Dekolonisierung“ soll die Auswirkungen der militäri- schen Anstrengungen und ihre Konsequenzen darstellen. Damit begibt es sich auf die supraimperiale Ebene des freyschen Analysemusters und berücksichtigt die globalen Entwicklungen.
Im abschließenden Kapitel wird die Unabhängigkeit Indiens skizziert und damit der Beginn von Indien und Pakistan. Dieses Kapitel bewegt sich auf der postkolonialen Ebene und zeigt, welche Probleme die jungen Staaten zu bewältigen hatten.
2 Definition des Begriffes Entkolonialisierung
Der Begriff Entkolonialisierung ist nicht der ausschließliche Wort-Term für einen Pro- zess, den der deutsche Staatswissenschaftler Moritz Julius Bonn zuerst wissenschaft- lich benannt hat. Er selbst hat den Begriff Dekolonisation für eine aus seiner Sicht anbrechende Periode der Weltgeschichte verwendet, in dem der Prozess der Kolonisa- tion in sein Gegenteil verkehrt wird. „All over the world a period of countercoloniza- tion began, and decolonization is rapidly proceeding.“17 Als sein Buch „Economics and Politics“ 1932 in Boston erschien, konnte er aber noch nicht erahnen, welches Ausmaß diese Entwicklung in den Kolonialreichen der Welt, für die kolonisierten Ge- biete und die Mutterländer haben würde. Die Tatsache, dass mehrere Begriffe syn- onym verwendet werden können, liegt in der Rekombination von Silben verschiedener Übersetzungen aus dem Englischen oder Lateinischen und sollte nicht irritieren. In dieser Arbeit werden die Begriffe synonym gebraucht, weshalb ich keine Unterschei- dung zu treffen versuche. Um zu erarbeiten, welche Definition nun für Dekolonisation, Dekolonisierung und Entkolonialisierung maßgeblich sein sollte und dieser Prozess nach Bonn die Umkehr der Kolonialisierung, also der Auflösung des Kolonialismus darstellt, ist eine Betrachtung der Begriffe Kolonialismus, Kolonie und Kolonisierung unumgänglich. Eine einfache Definition zum Koloniebegriff bietet der Große Brock- haus von 1931. Darin ist nachzulesen: „(lat. colonia „Pflanzstadt“) auswärtige Besit- zung eines Staates mit weltwirtschaftl. und weltpolit. Zweck, die mit dem Mutterland in einem polit.-rechtl. Verband steht und von ihm verwaltet wird.“18 Durch diese Defi- nition werden zwei Fakten offenbar, zum einen die Sicht auf die Kolonie als wirt- schaftlicher und weltpolitischer Nutzbringer für das Mutterland und zum anderen die völlige Aussparung der Verantwortung des Mutterlandes für die Kolonie und deren nativer Bevölkerung. 14 Jahre und damit einen Weltkrieg später, wird dies in der Charta der Vereinten Nationen (UN) nachgeholt. In Kapitel XI kann man in der Erklä- rung über Hoheitsgebiete ohne Selbstverwaltung die Zielsetzungen der UN und damit die Verpflichtungen der Mitglieder nachlesen. Artikel 73 stellt das Wohl und die Inte- ressen der Einwohner der Kolonialgebiete in den Vordergrund und fordert in Absatz a) „den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und erzieherischen Fortschritt, die gerechte Behandlung und den Schutz dieser Völker gegen Mißbräuche unter gebührender Ach- tung vor ihrer Kultur zu gewährleisten.“19 Das neue Universallexikon des Bertels- mannverlags definiert den Kolonialismus als einen „von Kolonie abgeleiteten schlag- wortartigen Begriff für die Politik der Besiedlung und Aneignung von fremden, meist übersee. Gebieten durch militär. überlegene Mächte. Neben wirtsch. u. handelspolit. Interessen war oft auch religiöses u. kulturelles Sendungsbewusstsein ein Motiv des K.“20 Jürgen Osterhammel sieht Kolonialismus als „Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Min- derheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbunden sind sendungsideolo- gische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.“21
Nach der Aufzählung dieser Punkte könnte eine Definition von Entkolonialisierung wie folgt lauten:
Ein Prozess, in dem sich die Herrschaftsbeziehungen eines fremden Kollektivs über ein anderes dekonstruieren und die fundamentalen Entscheidungen über die Lebens führung an die Kolonialisierten zurückfallen. Damit verbunden ist zum einen die For mulierung und Durchsetzung eigener, von den Kolonialherren unabhängiger Interes- sen, die Etablierung eines autonomen Wirtschaftssystems sowie die kulturelle (Rück- )Besinnung der Kolonialisierten und die Emanzipation ihrer lokalen Eliten. Diese Definition beschreibt einen Souveränitätswechsel, der die Selbstbestimmung völkerrechtlich umsetzt, den prozessualen Charakter einer solchen Entwicklung ein- schließt und kulturelle, soziale, sowie wirtschaftliche Prozesse nicht vernachlässigt. Ähnliche Forderungen wurden auch in der bereits angesprochenen UN-Charta von 1945 formuliert, die als Maßstab für die Bemühungen und Ergebnisse der Entkolonia- lisierung gelten sollte. In Kapitel XI Artikel 73, Absatz b) wird die Entwicklung dieser Länder mit dem Zweck der abschließenden Selbstregierung in Aussicht gestellt und in Absatz d) wird die Verantwortung und die Hilfsverpflichtung der ehemaligen Mutter- länder und damit Nutznießer des zu überwindenden Kolonialstatus, formuliert. Darin wird gefordert, die „Aufbau- und Entwicklungsmaßnahmen zu fördern, die For- schungstätigkeit zu unterstützen, sowie miteinander und gegebenenfalls mit interna- tionalen Fachorganisationen zusammenzuarbeiten …“22
3 Englands Schritte zur Selbstverwaltung Indiens
Ab 1861 wurde seitens der britischen Kolonialverwaltung versucht, die Bevölkerung Indiens an der Verwaltung zu beteiligen. An indischen Akademikern, die das britische Bildungssystem durchlaufen hatten, herrschte kaum Mangel und so konnte die Admi- nistration auf gut geschulte indische Köpfe zurückgreifen, die dem Empire loyal erge- ben waren, in Oxford oder Cambridge studiert hatten und keine Unabhängigkeit In- diens im Schilde führten. Neben diesen einheimischen Eliten stellten sich Gelehrte, Politiker und Philosophen auf die Seite der Inder, um ihre Vorstellungen von Gerech- tigkeit und Demokratie auch auf dem Subkontinent umzusetzen. Die Regierung unter Königin Victoria musste den wachsenden nationalen Bestrebungen in Indien Rech- nung tragen und versuchte, sich durch Zugeständnisse und Reformen der Verfassung, an die Nationalisten in Indien anzunähern. Allerdings betrachteten die Briten die wachsende indische Elite eher mit Argwohn und nahmen die Forderung der gebildeten Inder nach mehr Selbstbestimmung als eine Bedrohung ihrer Herrschaft wahr. Sie dif famierten die aufsteigende Elite als entwurzelt und nicht repräsentativ für die indische Gesamtgesellschaft. Je mehr Forderungen nach Eigenverwaltung innerhalb der indi- schen Intelligenz laut wurden, desto reaktionärer agierten die Briten. Die alten indi- schen Herrscher, namentlich Fürsten und Großgrundbesitzer, wurden als die wahren Herrscher des indischen Volkes wieder reaktiviert und jene Kräfte, die versuchten das alte soziale Gefüge aufzubrechen, behindert. Allerdings konnte man deren Forderun- gen nicht rigoros ausschlagen. Der britische Herrschaftszweck zielte zwar auf die Er- haltung eben dieser Herrschaft ab, aber auf die sich konstituierende indische Intelli- genz mussten die Engländer trotzdem, wenigstens symbolisch, eingehen. So wurden Gremien zur lokalen Selbstverwaltung installiert, die ein begrenztes Stimmrecht bei der Politikgestaltung innehatten und durch indische Köpfe besetzt wurden. Nach der sogenannten Indienratsakte hatten wenige Inder Zugang zu Sitzen im Imperial Legisla- tive Council, einem Ratsgremium, das den Generalgouverneur bei seinen legislativen Entscheidungen beriet, aber keine eigenen Befugnisse in Anspruch nehmen konnte. Somit wurden die einheimischen Eliten zwar formell am Gesetzgebungsprozess betei- ligt, eine Gestaltungsmöglichkeit, oder gar ein echtes Mitbestimmungsrecht, fehlten jedoch noch völlig.23 Dietmar Rothermund stellte in diesem Zusammenhang fest: „Es waren aber lediglich vom Vizekönig ernannte Honoratioren und keine gewählten Volksvertreter.“24 Der Indian Councils Act von 1892 ermöglichte einer höheren An- zahl an indischen Mitgliedern einen Zugang zu den kommunalen Gremien. Allerdings bleiben die Kompetenzen zur Gesetzgebung weiterhin unumschränkt in britischer Hand. Dieses „representative government“ hüllte die Kolonialherrschaft in einen de- mokratischen Schein, ermöglichte aber keine Möglichkeiten zur politischen Partizipa- tion.25 Das rief zwei Strömungen in Indien auf den Plan. Die gemäßigtere Strömung, versuchte Verfassungsreformen anzustreben und im Rahmen der gesetzlichen Grenzen zu protestieren, während die andere die Anwendung extremistischer Methoden nicht ausschloss. Obwohl das Legislativrecht und die Wählerbasis bis 1947 schrittweise erweitert wurden, war vom demokratischen Ideal der Volksherrschaft im kolonialen Indien nur wenig zu spüren. Am Vorabend der Unabhängigkeit genossen lediglich 14 % der männlichen Erwachsenen des Subkontinentes das Privileg, durch ihr Kreuz auf einem Stimmzettel, Politik gestalten zu dürfen.26
Das folgende Kapitel skizziert die Schritte Englands auf dem Weg zur Selbstverwal- tung Indiens. Obwohl am Ende ein unabhängiger Staat außerhalb des Commonwealth entstand, haben die von den Engländern initiierten Verfassungsreformen und Ände- rungen bis heute im politischen System Indiens bestand. Die Wegmarken zeigen ein- drucksvoll, wie ein Spagat versucht wurde, der verschiedensten Anforderungen ge- recht werden sollte. Religiöse Spannungen flossen ebenso in die Entscheidungsfin- dungen ein wie die direkten politischen Erfordernisse in der Kolonie und im Mutter- land.
3.1 Die Morley-Minto Reform von 1909
Nach dem Wahlsieg der Liberalen in Großbritannien änderte sich die politische Situa- tion im Mutterland. Während in Indien nach wie vor der konservative Lord Minto das Amt des Vizekönigs bekleidete, wurde der liberale Philosoph John Morley zum In- dienminister ernannt. Obwohl die Indienpolitik von der englischen Parteipolitik ge- trennt bleiben sollte, versuchte sich der neue Amtsinhaber gegenüber dem Vizekönig durchzusetzen und seine Vorstellungen geltend zu machen. Er wollte die Verfassung Indiens reformieren und damit an die parlamentarische Monarchie englischen Vorbilds angleichen. Morley schrieb im Vorfeld an Minto, dass diese „Reforms may not save the Raj, but if they don’t nothing else will.”27 Damit wird klar, welche Bedeutung Morley seiner Aufgabe zumaß und welche Konsequenzen ein Scheitern seiner Ansicht nach haben würde: das Ende des British-Raj in Indien. Allerdings saß der Vizekönig politisch fest im Sattel und konnte mit der Unterstützung seines Staatssekretärs Sir Herbert Risley den neuen Minister Morley davon überzeugen, dass der Parlamenta- rismus nicht die geeignete Regierungsform für Indien darstellt. Der Vizekönig hatte den Führungsanspruch der Briten über ihre kolonialen Territorien während seiner poli tischen Laufbahn im britischen Herrschaftsapparat internalisiert und war bestrebt, die liberalen Gedanken des neuen Indiensekretärs schnellstmöglich auszuräumen. Die Initiative Mintos hatte sogar so viel Erfolg, dass der neue Minister ganz von seinen Vorstellungen Abstand nahm und in einer Sitzung öffentlich erklärte: “Der Parlamen- tarismus sei für die Inder ebenso wenig geeignet wie ein Pelzmantel im heißen engli- schen Sommer.“28 Unter diesen Voraussetzungen konnte der angebahnte Indian Coun- cils Act nicht geeignet sein, um das representative government in der politischen Pra- xis umzusetzen. Die Zahl der indischen Mitglieder in den gesetzgebenden Versamm- lungen wurde zwar erhöht, aber die Briten behielten die Zentralregierung fest in ihrer Hand. Die Mehrheit der Sitze des Imperial Legislative Council wurde von britischen Regierungsoffizieren eingenommen.29 Finanzen, Außenpolitik und andere harte Res- sorts konnten nicht durch das indische Parlament kontrolliert werden und wurden von den Kolonialherren verwaltet.30 Weiter ließ sich Morley von einer Vorgehensweise überzeugen, die den Konflikt der Religionen31 aus meiner Sicht verschärfen musste und schließlich die Teilung Indiens herbeiführte. Das Prinzip der separaten Wähler- schaften, die die politische Willensbildung nicht territorial aggregierte, sondern nach Glauben und Religion.32 Morley gab damit vor allem dem Drängen der Muslime nach, um deren Forderungen Rechnung zu tragen.33 Durch das Prinzip der separaten Wäh- lerschaften mussten etwaige religiöse Spannungen politisiert werden, was keine Ko- operation zwischen den Glaubensrichtungen förderte, sondern im Gegenteil den Kon- flikt aufs Politische ausweitete. Minto´s Intention bestand in der Stärkung der modera- ten Kräfte der indischen Politik. Er wollte die religiösen Bedürfnisse befriedigen und die stabilisierenden Kräfte der indischen Gesellschaft für die britische Herrschaftskon- solidierung nutzen. Stattdessen schickte er die Religionen aufs politische Schlachtfeld.
Der Beginn eines Kampfes, dem das britische Raj fast vier Jahrzehnte später zum Op fer fallen sollte.
Neben diesem kontraproduktiven Resultat, das letztendlich die Spaltung Indiens zur Folge hatte, gaben die Morley-Minto Reformen der „demokratischen Fassade des autoritär-paternalistischen Kolonialregimes lediglich einen Laissez-faire-Anstrich, obwohl entscheidende Schritte zur Dezentralisierung der Macht und ihrer Institutionen unternommen wurden.“34 So wundert es nicht, dass gerade die Angehörigen des Indischen Nationalkongresses auf eine Nachbesserung der Verfassungssituation und damit auf mehr Selbstbestimmung hofften.
3.2 Die Montagu-Chelmsford Reform von 1919
Durch diese Reform, die ihren Namen dem Staatssekretär für Britisch-Indien, Edwin Samuel Montagu (1879-1924) und dem damaligen Vizekönig Frederic John Napier Thesiger Viscount of Chelmsford (1868-1933), kurz Lord Chelmsford verdankte, soll- te das Prinzip des „responsible Government“ umgesetzt werden. Montagu traf 1917 in Indien ein und konsultierte indische Fürsten und Intellektuelle um ihre Vorstellungen für die Entwicklungen in Inden zu erfragen.35 Sein Ziel war von Anfang an der Aus- bau der Selbstverwaltung des Landes. Es war ihm sicherlich bewusst, dass er die Unterstützung und Zustimmung dieser Personen benötigen würde, sollten die ange- strebten Verfassungsreformen auf das Wohlwollen der Inder treffen. Nach wie vor zielten Adaptionen der Verfassung und am Verwaltungsapparat auf eine Herrschafts- konsolidierung der britischen Krone ab. Zugeständnisse in diesen Bereichen sollten die Bevölkerung friedlich stimmen und sie zur Kooperation mit den Kolonialherren bewegen. Der liberale Politiker analysierte die Lage in Indien und kam zu dem Ergeb- nis, dass sämtliche Anstrengungen, die Kolonialherrschaft auf dem Subkontinent mit Repression oder Gewalt zu stabilisieren, nur zur Stärkung und Radikalisierung der Unabhängigkeitsbewegung führen mussten. Wollte man die Position der Engländer in Indien festigen, war eine Annäherung an die Freiheitskämpfer und Führer des Indian National Congress (INC) sowie der All Indian Muslim League (AIML) unumgänglich.
Auf der Basis seiner Nachforschungen und in Zusammenarbeit mit Lord Chelmsford verfasste Montagu den „Report on Constitutional Reforms“, der nach seinem Akronym als „Montford Report“ bekannt wurde. Von Zeitgenossen wurde seine Arbeit sehr zutreffend als „declaration of belief in the philosophy of liberation“36 beschrieben. Der amtierende britische Premierminister entschied 1917 den Schlussfolgerungen des Reports zu folgen und veranlasste, dass für Indien Reformen erarbeitet werden sollten, die ein „considerable measure of self-government“37 ermöglichen.
Das Resultat der Anstrengungen war der „Government of India Act“ von 1919. Ein System, das unter Historikern als Dyarchie bekannt ist. Das „self government“, also eine Selbstverwaltung der Inder unter der Schirmherrschaft des Empire, wurde seitens der Briten nicht angestrebt. Das englische Parlament übte seine Macht unverändert über den Staatsekretär für Indien auf den Governor-General aus und kontrollierte da- mit den gesamten Subkontinent.38 Vielmehr wurde die Administration geteilt. Die Zentralregierung blieb gänzlich unter der Kontrolle der Kolonialherrscher. Im Rahmen der provinziellen Verwaltung wurde nach „reserved subjects“ und „transferred sub- jects“ unterschieden. Natürlich waren die Ressorts, deren Kontrolle den Engländern vorbehalten waren, die ausschlaggebenden. Während den indigenen Politikern die Kontrolle über den Straßenbau, das Gesundheitswesen, kleiner lokale Verwaltungs- strukturen etc. übertragen wurden, behielten die Kolonialherren Außenpolitik, Vertei- digung, Polizeigewalt und das Justizsystem in ihrer Hand.39
Nach dem englischen Vorbild wurde für die Legislative ein Zweikammersystem in- stalliert: ein Oberhaus, der Council of State und ein Unterhaus, das Central Legislative Assembly. Die Abgeordneten des Unterhauses wurden nach dem Prinzip der separaten Wählerschaften gewählt, allerdings wurden diese nicht nur nach Hindus und Musli- men unterschieden, sondern als dritte Aufsplitterung auch nach Sikhs und Christen. Die politische Macht dieses Konstrukts blieb allerdings stark begrenzt. Der Vizekönig hatte weiterhin umfassende Machtbefugnisse und konnte jedem erlassenen Gesetz sei- ne Zustimmung erteilen oder den Entwurf durch sein Veto ablehnen. Darüber hinaus war es dem Vizekönig möglich, eigene Gesetze einzubringen und sie ohne Zustim mung des Parlamentes umzusetzen. Um unangenehmen Debatten im Parlament schon im Vorfeld den Riegel vorzuschieben, hatte er des Weiteren die Befugnis religiöse Themen und solche, die die Ausübung sakraler Praktiken britischer Staatsangehöriger zum Inhalt hatten, im Vorfeld zu unterbinden.40
Um die Entbehrungen der Inder bei ihrem Einsatz im Ersten Weltkrieg zu honorieren, wurde die indigene Bevölkerung mit einem allerdings sehr beschränkten Wahlrecht belohnt. Des Weiteren wurden Ministerposten an Inder vergeben, die aber nur unbe- deutende Ressorts zu verwalten hatten.41 Bevor diese Einzelheiten in Indien bekannt wurden, waren die Reaktionen auf die bevorstehenden Verfassungsänderungen durchweg positiv. Man erhoffte sich weitreichende Liberalisierungen und die Umset- zung der eigenen politischen Ziele durch die Institutionen, die für England den Grund- stein seiner Demokratie bildeten. Allerdings ebbte die erste Euphorie bald ab, als den Indern bewusst wurde, dass viele Zugeständnisse nur marginale faktische Auswirkun- gen haben sollten.
Alles in allem wurden die Versprechungen, die den Indern im Zuge des Ersten Welt- krieges gemacht worden waren, von den Kolonialherren nicht erfüllt. Von einer Selbstverwaltung war der Subkontinent noch weit entfernt und die umgesetzte Partizi- pation beschränkte sich auf unbedeutende Ressorts, die keine eigene durchsetzungsfä- hige Politik erlaubten. Es sollte noch weitere zehn Jahre dauern, bis der Kolonie der Dominion-Status wenigstens in Aussicht gestellt werden sollte. Eine Beförderung, die für Indien eine freiheitliche Existenz unter dem Dach des Commonwealth of Nations bedeutet hätte.
3.3 Round Table Conferences von 1930 bis 1932
Den drei „Konferenzen des runden Tisches“ ging eine Studie der Simon Kommission voraus, die sich mit der Arbeitsweise und der Wirkung des Systems der Dyarchie be- schäftigten. Grundlage der Forschungstätigkeit waren die Auswirkungen, die durch die Montagu-Chelmsford Reform also den Government of India Act von 1919 implemen tiert wurden. Das Resultat der Arbeit waren mehrere Empfehlungen, die sich in bevor- stehenden Verfassungsänderungen niederschlagen sollten. Zum Ersten erkannte die Kommission die Probleme der Dyarchie und riet diese abzuschaffen. Die Verwaltung sollte nach dem Rat der Kommission aus autonomen und selbstverwaltenden Provinz- regierungen unter der starken Führung einer Zentralregierung bestehen.42 Dieses föde- rale System wäre dazu in der Lage, die indigene Bevölkerung am Willensbildungs- prozess partizipieren zu lassen und gleichzeitig die Mitsprache und den Schutz der vielen Minderheiten zu gewährleisten. Natürlich war die Prämisse einer Zentralregie- rung unter britischer Kontrolle, im Verhandlungsprozess ebenso maßgeblich, wie die Zugeständnisse an Indien. Lord Irwin hatte aber ebenfalls 1929 das Ziel der britischen Indienpolitik festgeschrieben. Es lag auf der Hand, dass Indien den Status eines Domi- nions im britischen Empire erhalten sollte und die kommenden Verfassungsreformen sich an diesem Ziel orientieren müssen.43 Des Weiteren sollten die Verhandlungen das ungeklärte Problem der separaten Wählerschaften klären und die Verteilung der Sitze zwischen Muslim-Liga und der Kongresspartei festschreiben. Allerdings misslang dieses Vorhaben, „da der Vorschlag einer gemeinsamen Wählerschaft mit Sitzreser- vierung auf Ablehnung des Indischen Nationalkongresses traf.“44 Überhaupt stieß der Kommissionsbericht auf eine breite Ablehnung der indischen Politikgemeinde und die folgenden Reaktionen aus Indien ließen nichts Gutes erahnen.
Als die erste Konferenz am 12. November 1930 in London abgehalten wurde, waren fast alle Parteien Indiens am runden Tisch vertreten. Auch die britischen Parteien ent- sendeten ihre Abgeordneten. Aus Indien fanden Politiker der Hindu Mahasabha, der Liberalen, Vertreter der Kastenlosen und Unberührbaren (Depressed Classes), Abge- ordnete der Sikhs, Christen und Moslems ihren Weg nach London. Nur die Mitglieder der Kongresspartei fehlten bei den Unterredungen. Sie saßen im Gefängnis, da sie für ihre Teilnahme an den Kampagnen zum zivilen Ungehorsam verhaftet worden waren, oder organisierten Demonstrationen gegen die Konferenzen in London, die sich durch den entfernten Subkontinent zogen.45 In den sieben Tagen der ersten Konferenz wurde die Möglichkeit einer indischen Koalition ebenso diskutiert, wie der Zusammenschluss einer indischen Föderation. Man einigte sich, das Konzept einer indischen Föderation weiter zu verfolgen und rief ein Komitee ins Leben, das unter dem Vorsitz von Lord Sankey (1866-1937) einen Entwurf für diese Lösung ausarbeiten sollte. Allerdings sah dies kein unabhängiges Indien vor, sondern reservierte den Briten „safeguarded re- sponsibilities“, die ihnen die Kontrolle über das indische Militär, die Außenpolitik und über die Beziehungen der indischen Staaten untereinander sichern sollten.46
Es ist davon auszugehen, dass Gandhi und seine Kollegen im Kongress die Bedeutung der Gespräche in London erkannten und sich anschickten, bei den nächsten Terminen ihre Möglichkeit wahrzunehmen, die Geschicke Indiens am Londoner Verhandlungs- tisch zu lösen. Vor diesem Hintergrund scheint der sogenannte Gandhi-Irwin Pakt von 1931 ein geeigneter Schachzug Gandhis, um sich vom Widerstandsparkett zurück auf die politische Bühne zu befördern. Die Situation erforderte eine Lösung am Verhand- lungstisch und der ehemalige Anwalt verdeutlichte seine Distanz zu gewalttätigen Re- volutionären, da er nichts gegen die Hinrichtung von Baghat Singh (1906-1931) und anderen Mitgliedern der Hindustan Socialist Republican Association unternahm. Stattdessen sagte er seine Teilhabe an den Konferenzen zu und verzichtete gleichzeitig auf eine Fortführung des zivilen Ungehorsams. Eine Entscheidung, die ihm von vielen Indern Kritik einbrachte und sogar Demonstrationen gegen Gandhi verursachte.47 Im Verlaufe der Verhandlungen über die Minderheitenpolitik kam es zu Meinungsver- schiedenheiten zwischen Bhimrao Ramji Ambedkar (1891-1956), der sich für die Rechte der Unberührbaren und Kastenlosen einsetzte und Gandhi. Über das Einführen getrennter Wählerschaften für eben diese Depressed Class bestand ausgesprochener Dissens. Gandhi sah keine Notwendigkeit für die eigenständige Repräsentation dieser Bevölkerungsgruppen, da er sie dem Hinduismus zuordnete. Die Kastenlosen und Un- berührbaren sahen sich aber von den Kastenangehörigen getrennt und forderten eine Umsetzung dieser Einschätzung in der politischen Realität.48 Gandhi war bewusst, dass die Einführung separater Wählerschaften für die Depressed Class eine Spaltung der Hindus in Indien nach sich gezogen hätte. Er begann einen Hungerstreik, um gegen diesen Schritt zu protestieren, notfalls bis zum Tod. Allein die Diskussion über die Einführung separater Wählerschaften für Unberührbare war dazu geeignet, die hinduistische Gemeinde zu entzweien und die sozialen und religiösen Konflikte inner- halb der Hindus aufbrechen zu lassen. Die Befürchtungen, die Gandhi gegenüber Patel äußerte, malten ein düsteres Bild: „The possible consequences of seperate electorates for harijans fill me with horror…[They] will create divison among Hindus so much so that it will lead to bloodshed. Untouchable hooligans will make common cause with Muslim hooligans and kill caste Hindus. Has the British Government no idea of all this?“49 Diese Einschätzung lässt die Differenz innerhalb der Hindus deutlich zutage treten und zeigt neue Konfliktlinien innerhalb der hinduistischen Religion auf. Gan- dhis Lösung bestand in der Reservierung von Sitzen für die Depressed Class innerhalb einer gemeinsamen hinduistischen Wählerschaft. Durch diesen Schritt konnte er eine Spaltung der hinduistischen Gemeinde verhindern, gleichzeitig den Proteste gegen seine Person die Grundlage entziehen und sich selbst vor dem Hungertod retten.50
Allerdings befand sich nicht nur er in einer festgefahrenen Situation. Die Probleme durch den Kommunalismus51 in Indien blockierten jeden Fortschritt und ließen die Verhandlungen zwischen britischen und indischen Delegierten ergebnislos im Sande verlaufen. Lediglich die Repräsentation der Fürsten in ihren Einzelstaaten konnte noch ergebnisorientiert diskutiert werden.
Der britische Premierminister Ramsay MacDonald (1866-1937) schloss die Konferenz im Dezember 1931 ohne greifbares Ergebnis und entsendete drei Forschungsgruppen nach Indien, um die Hauptprobleme des Subkontinentes (Staat, Finanzen und Wahlrecht) zu sondieren.52
Die dritte Konferenz am runden Tisch begann im November 1932 und reichte bis zum Weihnachtsabend des Jahres. Allerdings blieb auch diese Sitzung fruchtlos. Zu viele Interessen wollten auf einen Nenner gebracht werden und die Beteiligung der indi- schen Eliten ging um nahezu die Hälfte zurück. Ein Indiz, für die schwindende Bedeu- tung der Verhandlungen aus Sicht der Inder. Nach diesem unbefriedigenden Ende der Konferenzen am runden Tisch trat die britische Regierung auf den Plan und entwickel- te eine Lösung der indischen Verfassungsfrage in Eigenregie. Lord Linlithgow hatte den Vorsitz über das Komitee, das mit der Ausarbeitung des Verfassungsänderungs- vorschlages betraut war. Im Ergebnis entstand ein „White Paper on Constitutional Re- form“, das die Grundlage für den Government of India Act liefern sollte.53
3.4 Der Government of India Act 1935
Durch den Government of India Act von 1935 wurden die indischen Provinzen und die indischen Staaten in einer Föderation zusammengefasst. Die Väter der Verfas- sungsänderung folgten hier dem Rat der Simon Kommission von 1927, die ein födera- les Verfassungsmodell vorschlug. Durch jeden indischen Staat und jede Provinz wur- den Abgeordnete benannt, die zum Council of State sowie zum Federal Assembly ent- sendet wurden. In den indischen Staaten wurden diese durch den Regenten benannt, in den Provinzen wurden sie nach Listen getrennt gewählt. Eine klassische Aufteilung in zwei Kammern oder Häuser nach dem Westminster-System, die in abgewandelter Form bis heute in Indien bestand hat. Allerdings kann man fast von einem „Quasi- Föderalismus“ sprechen, da die Zentralregierung eine überragende Machtposition in diesem System einnahm.54 Das System der Dyarchie wurde zwar auf die Zentralgewalt übertragen, aber die harten Ressorts blieben in britischer Hand. Der Governor-General hatte die Entscheidungsbefugnis in der Verteidigung, den außenpolitischen Angele- genheiten, kirchlichen Fragen und der Administration der Stammesgebiete inne und wurde hierbei durch drei Councilors unterstützt und beraten. Die anderen Departments unterstanden ebenfalls dem Vizekönig. Allerdings assistierte ihm bei der Bewältigung dieser Aufgaben ein Minister-Konzil aus bis zu zehn Abgeordneten.55 Bedeutend ist aber vielmehr, welche Rechte die Verfassungsreform den Indern gewährte und welche nach wie vor exklusiv den Briten vorbehalten blieben. So war es den Indern nicht möglich Gesetze zu erlassen, die die königliche Familie, den Souverän oder die Armee zum Inhalt hatten. Das repräsentative, sowie das beherrschende Element der britischen Monarchie in Indien blieben unangetastet. Verfassungsänderungen konnten nur durch die britische Regierung beschlossen werden, wodurch die Fremdbestimmung erneut zur Unabänderlichkeit wurde. Dem Governor-General wurden seine umfassenden Rechte bestätigt und die Minister in den Provinzen genossen eine absolut vorgesetzte Position.56
Der Poona-Pakt hatte direkte Auswirkungen auf den Government of India Act von 1935. Die getrennten Wählerschaften für Kastenangehörige und Kastenlose wurden durch Gandhis heftige Intervention nicht umgesetzt, aber der Depressed Class wurde eine vorgegebene Anzahl von Sitzen im Staatsrat in Neu-Delhi zugesichert. Durch die Differenzierung der Hindus entstand die Bezeichnung der „Scheduled Class“, die der „Depressed Class“ gegenübergestellt wurde.57
Noch zwölf Jahre sollten bis zur Unabhängigkeit Indiens vergehen. 1935 war noch kein Anzeichen für diese Entwicklung zu verzeichnen, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Sieg der Labour-Party rasant an Fahrt gewinnen sollte.
3.5 Der Kabinett Missions Plan 1946
Das Kriegsende hatte die Debatte um Indien nicht befrieden können. Nach wie vor war die Frage nach der Zukunft des Subkontinentes unbeantwortet geblieben, während sich in der Kolonie die Entwicklungen überschlugen und täglich neue Probleme ans Tages- licht traten. Es war offensichtlich, dass dem Land eine tiefgreifende Transformation bevorstand. Mit dem Sieg der Labour Partei in London war eine Unabhängigkeit In- diens wahrscheinlicher geworden, aber die neue Regierung hatte zu ungenaue Vorstel- lungen über die indische Zukunft, gab die Zügel aus der Hand und ließ die Wahlen in Indien auf sich zu kommen.58 Nach den Wahlen fand Wavell eine Situation auf dem Subkontinent vor, die ihn dazu veranlasste, einen „Breakdown-Plan“ für die scheiden- de Kolonie zu entwickeln. In London reagierte man schockiert. Eilig wurde ein Gre- mium aus Ministern zusammengestellt, das sich dem Problem unverzüglich widmen sollte. Stafford Cripps war genauso Teil dieser Gesandtschaft wie Indienminister Fre- derick William Pethick-Lawrence (1871-1961). Als die Minister des britischen Kabi- netts im März 1946 den Boden Delhis betraten, hatten sie eine schwere Bürde zu tra- gen. Die Rede des neuen Premiers Clement Attlee (1883-1967), in der er die Unab- hängigkeit Indiens in Aussicht stellte, weckte hohe Erwartungen bei den Indern. Die Passage, in der Attlee das demokratische Mehrheitsprinzip anmahnte, führte hingegen zur Verstimmung der Muslim-Liga.59
Die Situation war eingefahren. Die Wahlen 1946 brachten klare Erfolge für die Mus- lim-Liga und den Kongress. Die Wählerschaft der Muslime konnte mobilisiert werden und so entfielen 76 % der Stimmen auf die Liga.60 Indiens Regionalparteien hatten an Bedeutung verloren und somit ein klassisches Zwei-Parteiensystem auf dem Subkon- tinent entstehen lassen. Die Polarisierung der ethno-religiösen Gruppen hatte seinen Höhepunkt erreicht und folgte „daher auf fatale Weise der „Zwei-Nationen-Theorie“ Jinnahs.“61 Das britische Kabinett war entschlossen, die Probleme vor Ort zu lösen.
Wavell hatte im Vorfeld versucht, die Indienfrage im britischen Parlament zu klären, aber es wurde befürchtet, dass im Rahmen einer allgemeinen Debatte Fragen entstehen würden, vor deren Beantwortung man sich scheute.62
Um sowohl den Forderungen Jinnahs Rechnung zu tragen, der ein eigenständiges Pa- kistan forderte, als auch die Einheit Indiens als Erbe der britischen Herrschaft zu be- wahren, schlugen die Minister eine Föderation auf drei Ebenen vor. Das Dach sollte ein indischer Bundesstaat bilden. Auf der zweiten Ebene würden Provinzgruppen ste- hen und Pakistan hätte hier ebenso seinen Platz wie Zusammenschlüsse von Kon- gressprovinzen. Auf der untersten Ebene würden die Provinzen in ihrer bisherigen Form zu finden sein. Allerdings blieben die Vorschläge ungenau und unkonkret. Eine Regierungserklärung fehlte und ähnlich der Cripps-Mission von 1942 ließ man Ter- minfragen außen vor.63 Für besondere Verstimmung der Muslim-Liga sorgte die Tat- sache, dass die Kabinettsminister der Kongresspartei in der zu gründenden Interimsre- gierung einen Sitz mehr zugestanden als der Muslimliga. Das entsprach zwar immer noch nicht der Realität der Wählerverhältnisse in Indien, aber Jinnah rief trotzdem einen Tag der direkten Aktionen aus, der zu Aufständen und Straßenschlachten in In- dien führte.64
4 Die politische Organisation der indischen Eliten
4.1 Der Indische Nationalkongress
Am 28. Dezember 1885 kamen indische Gelehrte und führende Köpfe des indischen Subkontinentes zusammen, um sich in Bombay über die Zukunft des Landes zu ver- ständigen. Sie entstammten zum großen Teil der städtischen Mittelschicht und sahen sich als deren Vertreter.
[...]
1
1 Vgl. Kluke, Paul (1963): Selbstbestimmung. Vom Weg einer Idee durch die Geschichte. Göttingen. S. 114.
2 Zitiert nach: Wende, Peter (2009): Das britische Empire. Geschichte eines Weltreichs. 2. Aufl. München. S. 145.
3 Vgl. Plaschka, Richard G. (2000): Avantgarde des Widerstands. Modellfälle militärischer Auflehnung im 19. und 20. Jahrhundert; Band 1-2. Wien. S.153 ff.
4 Vgl. Steininger, Rolf (2006): Der Vietnamkrieg. Die französische Kolonie, Hoh Chi Minh und die "Demokratische Republik Vietnam", gegen den Kommunismus: Eisenhower, Kennedy und Diem, die Kriege Johnsons und Nixon. 2. Aufl. Frankfurt am Main. S. 9ff.
5 Vgl. Kramer, Daniel Robert (2010): Das Söldnerwesen. Militärisches Unternehmertum in der Genese des internationalen Systems. Wiesbaden. S. 90.
6 Vgl. Plaschka, Richard G. (2000): S.141f.
7 Vgl. Kramer, Daniel Robert (2010): S. 90 f.
8 Vgl. Kaminsky, Arnold P. (1996): Indian Rebellion of 1857. Sepoy Mutiny. In: Olson, James Stuart (Hg.): Historical dictionary of the British Empire. 2 Bände. Westport, Conn., Bd. 1, S. 566-567.
9 Vgl. Henderson, Robert: On the Thin Red Line. Loading and Firing British Muskets during the Crimean War, 1854-1856. Online verfügbar unter http://www.militaryheritage.com/enfield1853.htm, zuletzt geprüft am 23.09.2010.
10 Vgl. Plaschka, Richard G. (2000): S.141f.
11 Kaminsky, Arnold P. (1996): S. 566-567. S.567.
12 Einen ausführlichen Überblick über den Sepoy Mutiny bietet: Herbert, Christopher (2008): War of no pity. The Indian Mutiny and Victorian trauma. Princeton, NJ.
13 Vgl. Rothermund, Dietmar (1978): Government, landlord and peasant in India. Agrarian relations under British rule 1865-1935. 1. Aufl. Wiesbaden. S. 61 ff. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Bauern hat Dietmar Rothermund in diesem Buch ausführlich analysiert.
14 Der Kaisertitel nach deutschem Vorbild wurde vom Direktor der Universität des Panjab, Dr. Gotlieb Wilhelm Leitner vorgeschlagen.
15 Siehe Anhang, Abb. a. The Imperial Gazetter of India S. 97.
16 Vgl. Frey, Marc (2006): Dekolonisierung in Südostasien. Die Vereinigten Staaten und die Auflösung der europäischen Kolonialreiche. München. S. 4f.
17 Zitiert nach: Reinhard, Wolfgang (1996): Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart. S. 280f.
18 Zitiert nach: Ansprenger, Franz (2008): Entkolonialisierung. In: Woyke, Wichard (Hg.):
Handwörterbuch internationale Politik. 11., überarb. und aktualisierte Aufl. Opladen, S. 78-84. S. 78.
19 UN-Charta (1945): Kapitel XI, Art. 71, Abs a).
20 Varnhorn, Beate; Lexikoninstitut Bertelsmann (Hg.) (2006): Bertelsmann - das neue Universallexikon. Gütersloh. S. 496.
21 Osterhammel, Jürgen (2009): Kolonialismus. Geschichte - Formen - Folgen. Orig.-Ausg., 6., durchges. Aufl. München. S. 21.
22 UN-Charta (1945): Kapitel XI, Art. 71, Abs d).
23 Vgl. Putnam Cross, Cecil Merne (1922): The Development of Self-Government in India. 1858-1914. Chicago. S. 31ff.
24 Rothermund, Dietmar (1999): Der Strukturwandel des britischen Kolonialstaats in Indien. 1757-1947. In: Reinhard, Wolfgang (Hg.): Verstaatlichung der Welt? Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Machtprozesse. München, S. 69-86. S.81
25 Vgl. Rothermund, Dietmar (1965): Die politische Willensbildung in India. 1900-1960. Wiesbaden. S. 47-49.
26 Vgl. Wagner, Christian (2006): Das politische System Indiens. Eine Einführung. Wiesbaden. S. 108.
27 Zitiert nach: Mansergh, Nicholas (1969): The Commonwealth Experience. London. S.13.
28 Rothermund, Dietmar (1999): S. 69-86. S.82
29 Einen kurzen Überblick über die zahlenmäßige Zusammensetzung der Provinzregierungen gibt: Tarique, Mohammad (2008): Modern Indian History. For Civil Services Examinations. New Delhi. S. 6.18-6.19.
30 Vgl. Mann, Michael (2005): Geschichte Indiens. Vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Paderborn. S. 86.
31 Siehe Kapitel der Konflikt der Religionen ab Seite 9.
32 Vgl. Rothermund, Dietmar (1965): S. 63.
33 Vgl. Mann, Michael (2005): S. 86.
34 Mann, Michael (2005): S. 86.
35 Vgl. Sharma, Brij Kishore (2009): Introduction To The Constitution Of India. 5. Aufl. Neu Delhi. S. 5.
36 Zitiert nach: Mishra, Basanta Kumar (1982): The Cripps Mission. an Appraisal. Neu Delhi. S. 2.
37 Zitiert nach: Mishra, Basanta Kumar (1982): S.2.
38 Vgl. Mann, Michael (2005) S. 87.
39 Vgl. Sharma, Brij Kishore (2009): S. 6.
40 Vgl. Wagner, Christian (2006): S. 18.
41 Vgl. Wendt, Reinhard (2007): Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500. Paderborn. S. 287.
42 Vgl. Jaypalan, N. (1998): Constitutional History of India. Delhi. S. 99.
43 Vgl. Sharma, Brij Kishore (2009): S. 10.
44 Das, Ira (2004): Staat und Religion in Indien. Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung. Tübingen. S. 19.
45 Vgl. Tejani, Shabnum (2008): Indian secularism. A social and intellectual history 1890 - 1950. Bloomington, India. S. 213.
46 Vgl. Riddick, John F. (2006): The history of British India. A chronology. Westport, Connecticut. S. 109.
47 Vgl. Sharma, Brij Kishore (2009): S. 11.
48 Vgl. Tejani, Shabnum (2008): S. 218.
49 Zitiert nach: Tejani, Shabnum (2008): S. 228. Harijan war eine Bezeichnung Gandhis für die Kastenlosen und Unberührbaren.
50 Vgl. Sharma, Brij Kishore (2009): S. 12. Die Vereinbarungen, die Gandhi mit der Depressed Class traf, werden als Poona-Pact bezeichnet.
51 „Gemeint ist mit “Kommunalismus” in diesem eingegrenzten Sinne, das starke Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen religiösen Gruppe, welches verbunden ist mit einer Abgrenzung gegenüber anderen Religionsgemeinschaften. In Indien wird der Begriff besonders häufig zur Beschreibung von Hindu- Muslim-Konflikten verwendet.“ Aus: Rao, Ursula (2003): Kommunalismus in Indien Eine Darstellung der wissenschaftlichen Diskussion über Hindu-Muslim-Konflikte. Halle an der Saale. Online verfügbar unter http://www.suedasien.uni-halle.de/SAWA/Rao.pdf, zuletzt aktualisiert am 10.03.2009, zuletzt geprüft am 09.11.2010.
52 Vgl. Riddick, John F. (2006): S. 110.
53 Vgl. Sharma, Brij Kishore (2009): S. 12.
54 Vgl. Reinhard, Wolfgang (2002): Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende
Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3. Aufl. München. S. 501.
55 Vgl. Jaypalan, N. (1998): S. 100 f.
56 Vgl. Jaypalan, N. (1998): S. 101. „Scheduled Class“ bezeichnet die Angehörigen der regulären Kasten. „Depressed Class“ bezeichnet die Kastenlosen und Unberührbaren.
57 Vgl. Tejani, Shabnum (2008): S. 232.
58 Vgl. Rothermund, Dietmar (2006): Geschichte Indiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München S. 86 f.
59 Vgl. Menon, V. P. (1997): The transfer of power in India. 2. Aufl. Hyderabad. S. 236.
60 Vgl. Mann, Michael (2005): S. 114.
61 Kulke, Hermann; Rothermund, Dietmar (2006): Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute. München. S. 381.
62 Vgl. Rothermund, Dietmar (2006): S. 87.
63 Vgl. Kulke, Hermann; Rothermund, Dietmar (2006): S. 382.
64 Vgl. Claude, Markovits (2007): The Calcutta Riots of 1946. ohne Ort. Online verfügbar unter http://www.massviolence.org/IMG/article_PDF/The-Calcutta-Riots-of-1946.pdf, zuletzt geprüft am 12.11.2010. S. 2.
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