Kindesaussetzung - Wahrheit und Mythos


Tesis de Maestría, 2010

218 Páginas, Calificación: sehr gut


Extracto


Inhaltsangabe

Vorwort und Nachwort

1. Teil

Einleitung

1 Kindesaussetzung in der Geschichte der Menschheit - die Wahrheit
1.1 Das Verstoßen eines Jungen in der Tierwelt
1.2 Das Aussetzen eines Menschen in prähistorischer Zeit
1.3 Kindesaussetzung in der Antike
1.3.1 Häufigkeit der Kindesaussetzung
1.3.2 Die Familie in der Antike als Hintergrund der Kindesaussetzung
1.3.3 Motive für eine Kindesaussetzung in der Antike
1.3.3.1 Wirtschaftliche Gründe
1.3.3.2 Missbildungen und körperliche Gebrechen
1.3.3.3 Das Aussetzen von Mädchen
1.3.3.4 Das Aussetzen von Zwillingen
1.3.3.5 Illegitime Kinder
1.3.3.6 Oblatio puerorum - die Opferung oder Darbietung der Kinder an Gott oder die Götter
1.3.4 Die Rechtsform der Kindesaussetzung
1.3.5 Kritik an der Aussetzungspraxis in der Antike
1.3.5.1 Emotionale und ethische Gründe
1.3.5.2 Sorge um den Fortbestand des eigenen Volkes und Furcht vor der Übermacht feindlicher Völker
1.3.5.3 Verbot der Kindesaussetzung und -tötung bei den Juden
1.3.5.4 Kritik an der Kindesaussetzung im frühen Christentum
1.4 Kindesaussetzung im Mittelalter
1.4.1 Findelkinder
1.4.2 Oblatio puerorum im Mittelalter
1.4.3 Verkauf von Kindern
1.4.4 Kindesmord
1.5 Das Findelwesen zur Zeit der Aufklärung und die Entwicklung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts am Beispiel des Gebär- und Findelhauses in Wien
1.6 Kindereuthanasie zur Zeit des Nationalsozialismus
1.7 Kindesaussetzung und Kindestötung heute
1.7.1 Die Situation heute in Österreich
1.7.2 Kindesaussetzung und Kindestötung weltweit

2. Teil

Einleitung

2 Kindesaussetzung in der Mythologie - Aussetzungs- und Ursprungsmythen
2.1 Tiere im Aussetzungsmythos
2.2 Göttlicher Schutz
2.3 Zieheltern
2.4 Erkennen der wahren Identität
2.5 Erfüllung einer Prophezeiung
2.6 Gründe für eine Aussetzung in der Mythologie
2.6.1 Aussetzen eines Kindes aus wirtschaftlichen Gründen Caeculus
2.6.2 Aussetzen eines Kindes wegen einer Behinderung (oder unschönem Äußeren)
Hephaistos
Pan
2.6.3 Unerwünschte Mädchen
Atalante
Kybele
Chloe
Euadne
2.6.4 Mythische Zwillinge, die ausgesetzt werden
Aiolos und Boiotos
Amphion und Zethos
Pelias und Neleus
Romulus und Remus
Phylakides und Philandros
Lykastos und Parrhasios
2.6.5 Aussetzen eines Kindes nach einer Weissagung und die Angst vor gefährlichem
Nachwuchs
Zeus
Paris (Alexandros)
Ödipus
Aigisthos
Gestalten aus der Bibel (Abraham, Moses, Jesus)
2.6.6 „Illegitime“ Schwangerschaften
2.6.6.1 Aussetzen eines Kindes durch den Vater der Kindesmutter
Telephos
Asklepios
Perseus
Dionysos (nach der Version von Pausanias) Aichmagoras
Anios

2.6.6.2 Aussetzen des Neugeborenen durch die Kindessmutter
(aus Angst vor ihrem Vater)
Ion
Iamos
Anios Linos
Miletos
Hippothoon Kyknos
2.6.7 Aussetzung aus Furcht vor der Rache Heras
Herakles
2.6.8 Aussetzung ohne klar ersichtlichem Motiv
Daphnis und Chloe
Kydon
Partenopaios
2.6.9 Historische Personen
Kyros
Sargon
Agathokles Kypselos
Ptolemaios I. Soter

3. Teil

Zusammenfassung und Resümee

3.1 Die Wahrheit
3.2 Der Aussetzungsmythos
3.2.1 Eine Aussetzung zu überleben macht stark
3.2.2 Tiere im Aussetzungsmythos
3.2.3 Vonehme Abkunft
3.2.4 Die Auffindung der Kinder - Die Rolle der Hirten und Fischer
3.3 Spuren bis in unsere Zeit
3.3.1 Redewendungen
3.3.2 Sagen
3.3.3 Märchen
3.4 Schlussworte

Literaturliste

Vorwort und Nachwort

Erst nach Vollendung der vorliegenden Arbeit kann ich richtig ermessen, wie viele Menschen zu ihrem Gelingen beigetragen haben und meinen Dank verdie- nen.

In erster Linie möchte ich Frau Prof. Dr. Elisabeth Walde danken, die mich mit dem Vorschlag des Themas „Kindesaussetzung - Wahrheit und Mythos“ meine frühere Tätigkeit als Kinderärztin mit der Archäologie und der Kindesaussetzung in der Mythologie verbinden ließ und mir mit diesem Thema eine große Freude bereitete und mich mit guten Ratschlägen und viel Geduld unterstützte.

Besonderen Dank möchte ich meiner Kolleginnen und Freundinnen Frau Ingrid Hanspeter und Frau Mag. Mag. Ulrike Wiedner aussprechen, die mit seelischem Zuspruch, Obdach in Innsbruck, sowie mit fachlichen Ratschlägen und Korrekturen immer wieder für mich da waren. Ebenso danke ich Frau Dr. Margot Biebl und Frau Anneliese Erhart für aufmunternde Worte, aber auch für viele schöne Stunden in freundschaftlichem Zusammensein in den letzten Jahren.

Weiters hat auch DI Dr Bernd Österle mit seiner kritischen und sicher oft mühsamen Korreekturarbeit sehr wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Ganz besonderen Dank für die große Mühe!

Vor allem möchte ich mich auch bei Herrn Jürgen Tomas und meinem Sohn Bernhard bedanken, die mir immer wieder mit Rat und und guten Tips zur Seite standen, wenn mich die Tücken der Computertechnik völlig zur Verzweiflung brachten.

Und vielen, vielen anderen, vor allem auch Frau Hofrat Mag. Dr. Hildegard

Pfanner, die mich in meinem Vorhaben, mein Studium abzuschließen, bestärkten und mir immer wieder neuen Mut machten, gebührt mein Dank. Es waren zehn wunderbare Jahre meines Lebens, in denen ich mich mit der Archäologie beschäftigen durfte!

1. Teil

Einleitung l

Im Alten Testament steht im Buche Ezechiel über ein ausgesetztes Kind:

„[…] Und was deine Geburt betrifft, so wurde, als du geboren warst, deine Nabel- schnur nicht abgeschnitten, du wurdest nicht mit Wasser gewaschen zur Reinigung, nicht mit Salz abgerieben und nicht in Windeln gewickelt. Kein Auge ruhte erbarmend auf dir, um etwas von alledem zu tun und Mitleid zu üben, du wurdest vielmehr am Tage deiner Geburt aufs freie Feld hinausgeworfen, weil man dich verabscheute. […]“ (Ez. 16,4,5)

Bei vielen Völkern der Erde finden wir Aussetzungsmythen, die sich er- staunlich gleichen, obwohl die einzelnen Völker nachweislich nie miteinan- der in Berührung gekommen sind. Die Mythen folgen einem bestimmten Schema: Immer wieder begegnet uns die Vorstellung eines mythischen Urkö- nigs, der selbst Sohn eines Gottes oder einer Göttin ist oder zumindest von einem Gott abstammt. Er selbst wird als Baby nach einem unheilvollen Ora- kelspruch oder Traum ausgesetzt und so dem Tode preisgegeben, wird aber von wilden Tieren genährt und kann so überleben. Meistens wird er von Hir- ten oder Fischern gefunden und aufgezogen und nach vielen Bewährungspro- ben später Kultstifter oder Siedlungsgründer.

(Vergl. DNP 5 [1998] 500 s. v. Herrschergeburt [R. Oswald])

Natürlich würde es den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf alle Ausset- zungsmythen der Welt einzugehen. So sollen hier hauptsächlich Ausset- zungsmythen der europäischen Geschichte, also der Griechen und Römer und einzelne des vorderen Orients behandelt und mit der antiken Bildwelt ver- bunden werden.

Der erste Teil dieser Arbeit soll also versuchen, einen großen Bogen vom Beginn der Menschheit bis in die heutige Zeit zu spannen und in einem ge- schichtlichen Rückblick darzustellen, wie sich die Kindesaussetzung in den einzelnen Zeitepochen in der Realität gestaltet hat, also gleichsam eine Sozi- algeschichte der Kindesaussetzung beinhalten. Wann wurden besonders viele Kinder ausgesetzt, was waren die Gründe für die Aussetzung von Neugeborenen? Welches waren die bevorzugten Orte, an denen die Kinder abgelegt wurden? Aber auch die Vorgangsweise, man könnte es das „Ritual“ um die Aussetzung nennen, soll besprochen werden.

Solange die Menschheit besteht - und das gilt bis heute, sind in allen historischen Gesellschaften, die uns bekannt sind, Kinder nach der Geburt aus unterschiedlichen Gründen ausgesetzt oder getötet worden (gr. apo- oder ekthesis teknon, lat. expositio, oblatio liberum). Mit der Aussetzung der Kinder muss notgedrungen auch die Kindestötung besprochen werden, die bei der Aussetzung gewollt oder auch ungewollt in Kauf genommen wird oder aber die Aussetzung überhaupt ersetzt.

In dieser Arbeit wird also von zwei Arten der Kindesaussetzung gespro- chen:

Die Aussetzung in der Realität im ersten Teil und die mythologische Ausset- zung im zweiten Teil. Und die Frage wird sein, ob und wie weit die „wirkli- che“ Kindesaussetzung in der Mythologie eine Rolle spielt oder nicht, wo sie doch auf keinem Ruhmesblatt der Menschheitsgeschichte geschrieben steht. Werden die Götter-, Heroen- und Königskinder etwa aus den gleichen Grün- den ausgesetzt wie die einfachen Menschenkinder? Auf jeden Fall soll ver- sucht werden, Realität und Mythos zu verbinden. Mythen sind ja keineswegs nur erfundene Geschichten, sondern auch ein Spiegel der jeweiligen Zeitepo- che, in der sie entstanden sind.

Der zweite Teil befasst sich an Hand mehrerer Beispiele mit dem Kernthema dieser Arbeit, den Aussetzungsmythen vorwiegend der griechischen und römischen Antike, ihrem Niederschlag in der Kunst, sei es in der Literatur als auch in der Ikonographie.

Im dritten Teil folgen dann eine Zusammenfassung und Gedanken über den tieferen Sinn der Kindesaussetzung im Mythos.

1 Kindesaussetzung in der Geschichte der Menschheit - die Wahrheit

Ehe wir uns mit der Geschichte der Kindesaussetzung von den Anfängen bis in die heutige Zeit befassen, lohnt es sich, auch einen Blick ins Tierreich zu werfen. Vielleicht können wir bei Tieren in vergleichbaren Lebenslagen ein ähnliches Verhalten finden wie beim Menschen, der ja auch als „Sonder- form im Tierreich“ gesehen werden kann. Vielleicht war es oft auch Selbst- schutz, der den Menschen sagte, dass es besser wäre, ein behindertes Kind auszusetzen, da es im Leben ohnehin keine Chance hätte, genau so wie eine Katze ihr schwächliches Junges links liegen lässt und nur mehr die kräftigen Jungen füttert. Oder auch das Kuckuckskind, das auf Kosten der eigenen Brut von der Vogelmutter als vermeintlich stärkstes Junges bevorzugt gefüttert wird. So sollen auch in früherer Zeit im Alpenraum im Winter geborene Kin- der gar nicht aufgezogen worden sein, weil sie, wie die Erfahrung lehrte, meist ohnehin bald an Hunger starben, gab es doch für die älteren Kinder oft nicht einmal ein Stückchen Brot am Tag.

1.1 Das Verstoßen eines Jungen in der Tierwelt

Im Tierreich wird meist das verstoßen, was in irgendeiner Form nicht der Norm entspricht. Das kann eine Abweichung der Farbe, wie zum Beispiel Albinismus, sein, der in der freien Wildbahn oft wenig Überlebenschancen hat, oder ein krankes oder missgebildetes Junges. Wobei die Toleranz, ein krankes Junges anzunehmen, nicht bei allen Tierarten gleich sein muss. So wird immer wieder von Elefantenmüttern berichtet, die liebevoll versuchen, auch kranke und behinderte Junge in die Herde zu integrieren und tagelang trauern, wenn das Junge stirbt. Besonders eindrucksvoll schildert die Ameri- kanerin Cynthia Moss, die seit Jahrzehnten das Verhalten frei lebender Ele- fanten in Kenia studiert, das Verhalten einer Elefantenmutter, von ihr Echo genannt. Diese weigerte sich, ihr Kalb aufzugeben, das mit missgebildeten Beinen auf die Welt gekommen war. Mit Hilfe ihrer neun Jahre alten Elefan- tentochter bemühte sich Echo, das behinderte Elefantenbaby auf die Beine zu stellen und zu einem Wasserloch zu bringen. Dank dieser Rettungsaktion überlebte das Kalb. (Vgl. Blech 2003, 1) Man erkennt hier ein hoch entwickeltes Sozialverhalten, wie man es auch bei anderen Tierspezies finden kann, vor allem bei Primaten. Aber auch hier gibt es ganz unterschiedliche Verhaltensweisen gegenüber behinderten Artgenossen. Normalerweise wird ein Tier mit einer Bewegungsstörung oder Chromosomenanomalie, wie zum Beispiel dem Down-Syndrom, das auch bei Menschenaffen vorkommt, abge- lehnt und verstoßen. So wird von einem mongoloiden Orang-Utan berichtet, der im Zoo von seinen Artgenossen massiv unterdrückt wurde. Andererseits soll ein mehrfachbehinderter Schimpanse schon fünfundzwanzig Jahre unter Zoobedingungen in einer Gruppe von Artgenossen integriert sein. (Vgl. kreuz & quer Magazin vom 16. 09. 08, Prof. Huber)

Auch wenn ein Zoo heute nach modernen Erkenntnissen geführt wird, kann er nicht die natürlichen Verhältnisse ersetzen und so für manche Wild- tiere Grund sein, ihr Junges nicht anzunehmen und aufzuziehen, denkt man an den kleinen Eisbären Knut als prominentesten Vertreter der jüngeren Ver- gangenheit. Allerdings kann ein Zoo auch Hilfe sein, manche Tierarten vor dem Aussterben zu bewahren.

Eine Art „Familienplanung“ im Tierreich begegnet uns in vielfacher Form: Hat eine Muttersau zwölf Ferkel, aber nur zehn Brustdrüsen, müssen zwei Ferkel verstoßen werden. Meistens werden es auch die schwächsten sein, die sich nicht rechtzeitig „ihre“ Zitze gesichert haben.

Sonderbar scheint auch das Brutverhalten einer Tölpelart auf den Galapa- gosinseln: Im Abstand von einer Woche werden zwei Eier gelegt. Das erste Küken ist dann naturgemäß das stärkere und wirft das zweite Küken aus dem Nest, das dann in der Hitze des Äquators jämmerlich zu Grunde geht. Sollte aber dem älteren Küken etwas passieren, so bekommt das zweite Küken seine Chance. So hat die Natur durch diese Vorgangsweise ein Sicherheitsventil für das Überleben dieser Tölpelart eingebaut. Die Chance, dass mindestens ein Junges unter diesen extremen Umweltbedingungen überlebt, ist so größer.

Fassen wir zusammen: Mangelndes Futterangebot, schwierige Umweltbedingungen, Krankheit, Schwäche, Missbildungen verschiedenster Art oder ein Abweichen von der Norm können - aber müssen nicht - im Tierreich Gründe sein, ein Junges nicht aufzuziehen: Es wird entweder nach der Geburt vernachlässigt, mangelhaft gefüttert oder sogar aus dem Nest geworfen. Unter anderen sind es aber gerade auch diese Motive, die immer wieder Menschen veranlassen, ihre Kinder auszusetzen oder gar zu töten.

So hat sich auch die Verhaltungsforschung mit dem Aggressionsverhalten von Mensch und Tier befasst, in das natürlich das Aussetzen und Töten des eigenen Nachwuchses fällt. Es zeigten sich Gemeinsamkeiten, aber auch Un- terschiede. Man fand heraus, dass das Aggressionsverhalten bei Mensch und Tier sehr ähnlich und genetisch determiniert ist und dass der Ausdruck das „Tier im Mensch“ absolut berechtigt ist. Allerdings ist das Tier ein rein bio- logisches Wesen, hingegen kann und soll der Mensch als ein soziales, psychi- sches und biologisches Wesen sein Verhalten überdenken und Verantwortung für sein Handeln übernehmen können. (Vgl. Ehrensperger 1998, 4, 5)

1.2 Das Aussetzen eines Menschen in prähistorischer Zeit

Wir können annehmen, dass die für das Tierreich angegebenen Gründe auch für den Urmenschen galten. Da aber keine schriftlichen und nur sehr spärliche archäologische Zeugnisse aus diesen frühen Zeiten existieren, kön- nen wir hier nur Vermutungen über Aussetzungen anstellen. Mit der Entwick- lung aus dem Tierreich zum homo sapiens spielte eine emotionale und soziale Komponente bei diesen frühen Menschen sicher eine immer größere Rolle, wie wir an Beispielen, die allerdings hauptsächlich erwachsene Individuen betreffen, vermuten können. Sie zeigen, dass Menschen trotz Krankheiten und Behinderungen weiter in ihrer sozialen Gemeinschaft verblieben und nicht unbedingt gleich ausgesetzt wurden.

Pflegebedürftigkeit war bei den Neanderta]lern nicht unbedingt ein Grund, einen Menschen aus der Gemeinschaft auszuschließen. Das zeigt uns die Pa- läopathologie, die uns wertvolle Hinweise auf die Lebensweise früherer Kul10

turen gibt, so auf ihre Ernährung und Lebensweise, aber auch ihre Krankheiten, auf ihr Sterbealter und oft auch auf die Todesursache. (Vgl. Bick 2006, 23)

Es wurden auch Gräber gefunden, in denen Kleinkinder beigesetzt waren, die mit oder auch an einem Hydrocephalus (Wasserkopf) gestorben waren, Kinder also, die trotz ihrer auffallenden Behinderung eine Zeitlang gelebt haben müssen. Immer wieder findet man stark deformierte Skelette von Menschen aus der Steinzeit, die wahrscheinlich seit ihrer Geburt behindert gewesen waren und trotzdem das Erwachsenenalter erreicht hatten.

1.3 Kindesaussetzung in der Antike

1.3.1 Häufigkeit der Kindesaussetzung

In der Antike, sowohl im griechischen als auch im römischen Raum, aber auch in den Ländern des vorderen Orients wird häufig von Kindesaussetzung gesprochen. Sie ist von der Kindestötung zu unterscheiden, aber de facto schwer zu trennen. Der Tod des ausgesetzten Kindes war nicht unbedingt erwünscht, wurde aber offensichtlich in Kauf genommen. So erwähnt der berühmte Arzt Galen, der im 2. Jh. n. Chr. lebte, in seinen Schriften, dass er an toten ausgesetzten Kindern anatomische Untersuchungen durchgeführt habe:

„[…] Durch regelmäßiges Sezieren von Körpern ausgesetzter Kinder konnte man sich überzeugen, dass der Mensch denselben Körperaufbau wie ein Affe hat. […]“ (Gal. de anat. admin. 3, 5, K 2, 386)

Aussagen über das wirkliche Ausmaß der Aussetzungen kann man heute nicht mehr machen, kann sich aber vorstellen, dass in verschiedenen Zeitepochen in den unterschiedlichen Bevölkerungsschichten aus den unterschiedlichsten Gründen Kinder ausgesetzt worden sind.

Wie sich das Leben der Götter- und Adelsgesellschaft in der Bronzezeit gestaltete, ist uns durch die epischen Dichtungen Homers überliefert worden, der im 8. Jahrhundert v. Chr. an der von Griechen bewohnten Küste Klein11

asiens lebte. Homer bezog sich dabei auf Ereignisse, die Jahrhunderte zurücklagen, wobei der „Troianische Krieg“ stellvertretend für alle Auseinanderset- zungen zwischen den von jenseits der Ägäis kommenden Achäern und den einheimischen anatolischen Troianern stand. Der Mythos um diesen Krieg wurde von Generation zu Generation mündlich weitergegeben und wie alle Mythen der jeweiligen Umgebung und Zeit angepasst. Aus den Sagen um die Eroberung Troias und der Rückkehr der siegreichen Helden schuf der Dichter Homer die Epen Ilias und Odyssee. Als zur selben Zeit, als diese Werke ent- standen, auch noch das griechische Alphabet „erfunden“ wurde, konnten die wunderbaren Verse auch aufgeschrieben werden und so sind sie bis zum heu- tigen Tag erhalten geblieben. Ulf schreibt zur Frage der Bindung oraler Lite- ratur an die historische Realität:

„Es ist nicht nur unter Vertretern der Homer-Analyse eine weit verbreitete Meinung, dass die gesellschaftlichen Zustände, die in den homerischen Epen verarbeitet sind, nicht auf einen einzigen Gesellschaftstyp rückführbar sind, sondern verschiedene, chronologisch voneinander abzuhebende politisch-soziale Organisationsformen reprä- sentieren. Die Epen sollen danach ein <Amalgam> von gesellschaftlichen Zuständen bieten, das von mykenischer Zeit oder wenigstens vom 10. Jahrhundert bis ins 8. Jahr- hundert reicht.“ (Ulf 1990, 233)

Es ist eine privilegierte Gesellschaft der Götter, Könige und Helden, von der Homer berichtet, in der es Vorräte im Überfluss gibt und wo die dring- lichsten Probleme der unteren Gesellschaftsklassen, wie Überbevölkerung und Hunger, keine Rolle spielen. Trotzdem wurden aber auch in der homeri- schen Gesellschaft Kinder ausgesetzt, wie es mehrere Textstellen bei Homer, auf die im zweiten Teil dieser Arbeit noch genauer eingegangen wird, bele- gen. Die Praxis der Kindesaussetzung scheint also auch in der Bronzezeit geläufig gewesen zu sein, wenn wir annehmen wollen, dass die Götter wie Menschen handeln und Mythen Abbild des realen Lebens sind.

Wie vorher schon erwähnt, gibt es keinen Zweifel, dass im gesamten Alter- tum Kinder aus den verschiedensten Gründen ausgesetzt wurden. So vertreten Platon und Aristoteles klar den Standpunkt, dass behinderte Kinder ausge- setzt werden sollen (vgl. Plat. polit. 459d, 460c. Arist. Ath. pol. 7, 14, 10, 1335b). Weiter vertritt Platon die These, dass ein Elternpaar nicht mehr Kin- der in die Welt setzen soll, als es sich leisten kann. (Vgl. Plat. polit. 372b)

In hellenistischer Zeit ist Kindesaussetzung besonders häufig vorgekom- men, was manche auf eine starke Bevölkerungszunahme zurückführen (vl. RAC 20 [2004] 876 s. v. Kind [M. Kleijwegt]). Der Historiker Polybios, der im zweiten Jahrhundert v. Chr. lebte, führt diese mangelnde Bereitschaft, Kinder in die Welt zu setzen und sie aufzuziehen, auf die Neigung der Män- ner zum Junggesellenleben, auf ihre mangelnde Heiratswilligkeit, Prunksucht, Habgier und Trägheit zurück (vgl. Pol. 36, 17, 5-9). Werte früherer Generati- onen, wie sie noch in der klassischen Zeit gegolten haben, die vor allem den Fortbestand ihrer oikoi sichern sollten , hätten ihre Gültigkeit verloren.

Aus Furcht vor feindlichen Übergriffen in dieser unruhigen Zeit verließen viele die Heimat ihrer Vorfahren und zogen in die Städte. Andere wanderten in Kolonien aus. In der griechischen Heimat nahm die Kluft zwischen arm und reich ständig zu. So schien die Aufzucht von Kindern auch nicht mehr verlockend. Die meisten Familien im dritten und zweiten Jahrhundert v. Chr. hatten nur ein Kind und da bevorzugt einen Sohn. (Vgl. Pomeroy 1985, 212)

In Sparta hingegen versuchten die Gesetzgeber immer schon die Bürger mit Vergünstigungen anzutreiben, möglichst viele Kinder und somit viele Söhne zu zeugen. Derjenige, dem drei Söhne geboren wurden, sollte vom Wachdienst, der Vater von vier Söhnen von allen Abgaben befreit werden. Allerdings gibt Aristoteles zu bedenken, dass die Anzahl der Kinder der Grö- ße des Besitzes der Familie angepasst und die Unteilbarkeit des Familien- grundstückes beachtet werden müsse, weil andernfalls die überzähligen Kin- der besitzlos würden. (Vgl. Aristot. pol. 2, 6, 1265 b, 1-7)

Missgebildete Kinder wurden aber auch in Sparta ausgesetzt und dem Tode preisgegeben. Darauf soll in den nächsten Kapiteln noch eingegangen wer- den.

Über die Zahl der Kindesaussetzungen im römischen Reich wissen wir wenig. Dionysius von Halikarnassos schrieb am Ende des 1. Jh. v. Chr. in seiner „Römischen Archäologie“, die die Geschichte Roms von der Gründung bis zum ersten Punischen Krieg umfasst, dass König Romulus verfügt hätte, dass alle Knaben und alle erstgeborenen Mädchen aufzuziehen seien, ausge- nommen schwächliche Kinder und solche mit Missbildungen. Gleichzeitig wird die Tötung (nicht Aussetzung!) aller Kinder unter drei Jahren verboten:

„[…] In erster Linie zwang er die Einwohner, alle ihre männlichen Kinder und die erstgeborenen Mädchen aufzuziehen und verbot ihnen, Kinder unter drei Jahren zu tö- ten, außer sie wären missgebildet und ungestalt von Geburt an. […]“ (Dion. Hal. ant. 2, 15)

Aber er beschrieb auch die spezifisch römische Regelung der patria po- testas: Der Vater besaß die absolute Gewalt über Leben und Tod und das Vermögen seiner Familienmitglieder. (Vgl. Dion. Hal. ant. 2, 26, 4. RE XI, 21. Halbbd. [1966] 466 s. v. Kinderaussetzung [E. Weiss])

Kaiser Augustus ermutigte die Bürger zu Kinderreichtum und erließ einige familienfreundliche Gesetze. Er demonstrierte dies auch in aller Öffentlichkeit, indem er die Kinder des Germanicus bei einer Veranstaltung um sich scharte. Andererseits verbot er aber die Kindesaussetzung nicht. Er untersagte es sogar, das Kind, das seine Enkelin Julia nach ihrer Verurteilung in der Verbannung gebar, anzuerkennen und aufzuziehen. (Vgl. Suet. Oct. 34, 65 )

In der Spätantike mit dem zunehmenden Einfluss des Christentums ver- schwindet allmählich die unbeschränkte Macht der patria potestas und das ius vitae necisque des Familienoberhauptes, das über Leben und Tod der Kinder bestimmen konnte. Im Jahre 374 wird Kindesaussetzung unter Strafe gestellt (vgl. Cod. Iust. 8, 51, 2. 9, 6, 7). In der Novelle 153 des Codex Iusti- nianus, 534 n Chr. publiziert, wird von Kaiser Justinian schließlich die Kin- desaussetzung verboten.

1.3.2 Die Familie in der Antike als Hintergrund der Kindesaussetzung

Nach Aristoteles war der oikos die kleinste Einheit eines Staates, der polis. Der oikos bestand wieder aus drei Elementen, dem männlichen, dem weibli- chen und dem dienenden, wobei beim armen Mann der Pflugochse das die- nende Element war, beim Bürger jedoch der Sklave. Ein weiteres wichtiges Element waren die Kinder. Für die Erhaltung eines oikos mussten auch die nötigen Mittel vorhanden gewesen sein und ein oikos ohne Kinder war nach griechischer Auffassung auch kein richtiger oikos (vgl. Aristot. pol. 1, 3, 1253b). Hatte man keine eigenen Kinder, konnte man auch welche adoptieren, zum Beispiel auch ausgesetzte.

Wichtig für die Familie war die absolute Loyalität zum Staat, die Pflege und Bewahrung des Familienkultes und die Erhaltung der Familie, das heißt die Zeugung mindestens eines rechtmäßigen Sohnes. Dabei musste der oikos die Lebensgrundlage für die Kinder, besonders natürlich der Söhne, garantie- ren, denn letztere mussten die Familientradition bewahren, wie Euripides schreibt:

„[…] denn wenn eine Frau das Haus ihres Vaters verlässt, gehört sie nicht mehr zu ihren Eltern, sondern zu ihrem Ehemann. Der Mann dagegen bleibt im Haus als Hüter der Hausgötter und der Familiengräber.“ (Eur. Danae frg. 318)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Weiherelief an Artemis nach einer glücklichen Geburt. Um 4oo v. Chr., Metropolitanmuseum of Art, New York.

Fehlten ausreichende Mittel, musste man die Kinderschar beschränken, sei es, dass man von vornherein vermied, Kinder zu zeugen, also versuchte zu verhüten, sei es, dass man das Ungeborene abtrieb oder - war ein uner- wünschtes Kind schon geboren - es aussetzte oder tötete. Nicht immer war also ein Kind so willkommen wie auf der Darstellung eines Weihereliefs auf Abb. 1.

Die griechische Gesellschaft war absolut patriarchalisch aufgebaut. Der Familienvater war der kyrios, der Regent und das Oberhaupt der Familie. Er allein war auch verantwortlich, ob ein Kind nach seiner Geburt in die Familie aufgenommen oder ausgesetzt wurde. Allerdings war es nach dem Tode des Familienhauptes vorübergehend auch für eine Frau möglich, die Familie zu leiten, eine kyria zu sein, aber eben nur so lange, bis ein neuer kyrios bestellt wurde. (Vgl. Lacey 1983, 17f) In Attika wurden Knaben und Mädchen unter- schiedlich ernährt. Und auch bei der Ernährung der Mütter nach der Geburt wurden Unterschiede gemacht, je nachdem, ob sie einen Sohn oder eine Tochter geboren hatten. In den „ Persepolis Fortification Tablets “ wird von eigenen „Mütterrationen“ für ionischen Frauen, Angehörige von Ioniern, die Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. an den Königspalästen von Persepolis und Susa bauten, berichtet. Mütter, die einen Knaben geboren hatten, bekamen doppelt so viel Wein, Bier und Getreideprodukte wie Mütter von Mädchen. (Vgl. Hallock 1969, Persepolis Fortification Tablets, PF 1224, 349. Pomeroy 1985, 127)

Xenophon pries die Spartaner im Gegensatz zu den Athenern, weil in Sparta die Töchter, die ja später starke Kinder auf die Welt bringen sollten, genau so gut ernährt wurden wie die Söhne. Etwas abfällig äußert er sich über die Ernährung der athenischen Mädchen:

„[…] Sprechen wir gleich von der Kindererzeugung, um ganz von vorne zu beginnen. Die anderen Gesetzgeber (die in Athen!) geben denjenigen Mädchen, die künftig Kin- der bekommen und eine gute Erziehung bekommen sollen, eine möglichst schlichte Ernährung und möglichst wenig Zukost. Wein dürfen sie, während sie heranwachsen, entweder gar nicht oder höchstens mit Wasser vermischt trinken.“ (Xen. Lac. pol. 1, 3)

Weiter lobte Xenophon auch die körperliche Ertüchtigung der spartanischen

Mädchen:

„[…] deshalb verordnete er (Lykurg) zunächst, dass das weibliche Geschlecht seinen Körper nicht weniger übe als das männliche. Sodann führte er ein, dass die Mädchen - ebenso wie die Knaben - im Wettkampf gegeneinander ihre Schnelligkeit und Kör- perkraft messen sollten, da er der Überzeugung war, dass - wenn beide Elternteile kräftig seien - auch ihre Nachkommenschaft kräftiger sei.“ (Xen. Lac. pol. 1, 4)

Dazu schreibt auch Plutarch in seinem „Lykurgos“:

„[…] Zuerst suchte er die Körper der Jungfrauen durch Laufen, Ringen und das Wer- fen der Wurfscheiben und Speere abzuhärten, damit die in einem starken Körper er- zeugte Frucht kraftvoll aufkeimen und gedeihen, sie selbst aber die zur Geburt erfor- derlichen Kräfte erlangen und die Wehen leicht und ohne Gefahr überstehen könnten.“ (Plut. Lykurg. 14)

Nur in Sparta hatten die Frauen auch in Abwesenheit des Familienoberhauptes, wenn es zum Beispiel im Kriegseinsatz war, die Verfügungsgewalt über den oikos, ja sie durften sogar Land verkaufen.

So war also das Leben einer Frau in Sparta ungleich freier als in Athen. Die Mädchen genossen die gleiche Ausbildung wie die Burschen. Die körper- liche Ertüchtigung war wichtig und auch dieselbe gehaltvolle Ernährung für Buben und Mädchen selbstverständlich! Denn man war der Meinung, dass nur körperlich tüchtige Frauen gute Mütter für gute Krieger werden konnten. Und im Gegensatz zu Athen bestimmte hier nicht der Familienvater, ob ein Kind aufgezogen oder ausgesetzt werden sollte. Hier trafen die Ältesten der Gemeinde, der phyle, die Wahl.

Ähnliche Rechte und eine relative Unabhängigkeit wie die Spartanerinnen hatten auch die Frauen der dorischen Stadt Gortyn auf Kreta. Der aus dem siebenten und sechsten Jahrhundert v. Chr. stammende und im fünften Jahr- hundert schriftlich festgehaltene Gesetzeskodex von Gortyn, der auf zwölf Tafeln - auch Kolumnen genannt - geschrieben ist, enthält zahlreiche Be- stimmungen, die die Frauen betrafen. Einige von ihnen muten bemerkenswert „modern“ an. So konnten Frauen selbst Vermögen besitzen, wenngleich auch hier der den Töchtern zustehende Erbteil kleiner war als der männlichen Erben. Kam es zu einer Scheidung, wurde der Frau die Hälfte des in der Ehe

erwirtschafteten Vermögens zugesprochen. Hatte der Mann Schuld an der Scheidung, musste er sogar ein Bußgeld zahlen. Hatte der Mann gegen die Gesetze verstoßen, die das Eigentum der Kinder schützen sollten, wurde die Verwaltung des Vermögens auch in diesem Falle der Mutter übertragen. Kam ein Kind nach der Scheidung der Eltern zur Welt, lag es ganz allein im Ermessen der Mutter, ob sie das Kind aufziehen wollte oder nicht, und es galt folgende Regelung, wie in Kolumne III angegeben ist:

„[…] Wenn eine geschiedene Frau geboren hat, muss sie das Kind ihrem ehemaligen Ehemann im Beisein von drei Zeugen in sein Haus bringen. Wenn dieser es nicht annimmt, soll das Kind seiner Mutter unterstellt werden, entweder um aufgezogen oder um ausgesetzt zu werden, […]“ (Gesetzeskodex v. Gortyn, Kolumne III) und weiter in Kolumne IV:

„[…] Wenn eine geschiedene Frau ihr Kind aussetzen will bevor sie es vorgeführt hat, wie es bereits beschrieben ist, soll sie, falls sie verurteilt wird, für das Kind eines Frei- en fünfzig Statere zahlen und für das Kind eines Sklaven fünfundzwanzig Statere. Und wenn der Mann kein Haus hat, in das sie das Kind bringen muss oder wenn sie ihn nicht sieht, kann die Mutter das Kind ohne Strafe aussetzen. […]“ (Gesetzestext v. Gortyn, Kolumne IV)

(Vgl. Vasilakis, 56-58. Pomeroy 1985, 58f)

In Athen waren seit Solon die Frauen aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verbannt und vom geistigen und kulturellen Leben ausgeschlossen. Sie soll- ten ausschließlich für die Familie da sein und verließen selten das Haus. (Vgl. Pomeroy 1985, 119) Im Prolog zur Komödie „Lysistrate“ von Aristophanes philosophieren Lysistrate und Kleonike, zwei Athenerinnen, über das Anse- hen der Frauen in Athen:

„[…] Lysistrate: Ach, Kleonike, sieh, mir brennt das Herz, Voll Ärger bin ich über uns - Weiber,

Dass wir, beim Männervolk verrufen als Nichtsnutzig Kleonike: Und beim Zeus, das sind wir auch!

Lysistrate: Es war doch ausgemacht: wir wollen hier Uns treffen, wicht`ge Dinge beraten:

- Nun schlafen sie und kommen nicht! Kleonike: Doch Liebste,
- Sie werden kommen! Ist ein Ausgang doch
- Für Frauen schwierig: eine muss den Mann
- Bedienen, eine andere weckt den Knecht,
- Ihr Kind wäscht, wickelt, füttert eine dritte. […]“ (Aristoph. Lys. 10-22)

Es wurden sogar von Staats wegen eigene Beamte eingesetzt, die dafür sorgten, dass die Frauen möglichst zu Hause blieben. Aristoteles hält diese Einrichtung für undemokratisch und schreibt dazu:

„[…] Ferner der Knaben- und Frauenaufseher, und was es etwa sonst noch für Staatsbeamte gibt, die einer derartigen öffentlichen Einrichtung (epimelia) vorstehen, sind einer Aristokratie eigentümlich und passen weder in eine Demokratie - denn wie könnte man wohl den Frauen der Armen das Ausgehen verbieten!- noch auch in eine Oligarchie […]“ (Aristot. pol. 4, 12, 9, 1300a)

„[…] Von diesen (Ämtern) haben nun einige offenbar keinen demokratischen Charakter, wie z. B. das der Frauen- und Knabenaufseher, denn die Armen sind genötigt, Frau und Kinder wie Diener zu gebrauchen, weil sie sich keine Sklaven halten können. […]“ (Aristot. pol. 4, 5, 13, 1323a)

Mit zwölf bis vierzehn Jahren wurden die Mädchen verheiratet und kamen in die neue Familie des Ehemannes. Sehr früh - viel zu früh nach Ansicht von Xenophon, Platon und Aristoteles - bekamen sie ihre ersten Kinder. Insge- samt errechnete man für diese Zeit 4,6 Geburten auf jede Frau. Die Geburten waren für die Mütter in dieser Zeit schwer und risikoreich und so war die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen bis zu zehn Jahre geringer als die der Männer. (Vgl. Pomeroy 1985, 102f) Aristoteles meint dazu, dass die Sterblichkeit der Mütter bei den Geburten so groß gewesen sei, weil die Töchter so früh verheiratet wurden:

„[…] Nun hat aber eine Ehe unter allzu jungen Leuten schädliche Folgen für die Kin- dererzeugung. Denn bei allen Lebewesen pflegen die Sprösslinge allzu junger Eltern unvollkommen entwickelt, meistens nur fähig, eine weibliche Nachkommenschaft (!) zu erzeugen, und klein von Gestalt zu sein, und man wird daher notwendig dasselbe auch bei den Menschen annehmen müssen; so zeigt es sich denn auch wirklich, dass in allen Staaten, in denen es Sitte ist so jung zu heiraten, die Menschen klein und verkümmert am Leibe sind. Obendrein leiden auch die Mütter, wenn sie allzu jung sind, mehr bei der Geburt und eine größere Anzahl von ihnen geht bei derselben zugrunde, […]“ (Aristot. pol. 7, 16, 12-18, 1335a)

Während die Söhne noch etwa bis zum achtzehnten Lebensjahr im Schoße ihrer Familie blieben und nach Möglichkeit gefördert wurden, war das gleichaltrige Mädchen meist schon mehrfache Mutter. Natürlich blieb so auch die geistige Bildung auf der Strecke, eine Beteiligung am öffentlichen Leben war ohnehin nur den Männern vorbehalten. Selbst für Aristoteles waren die Unterschiede zwischen Mann und Frau naturgegeben:

„[…] doch ist die Besonnenheit des Mannes und der Frau nicht dieselbe und auch nicht die Tapferkeit und Gerechtigkeit, wie Sokrates meinte, sondern die eine ist die Tapferkeit zum Regieren, die andere zum Dienen […]“ (Aristot. pol. 1, 13, 20, 1260a)

Oder an anderer Stelle:

„[…] Desgleichen ist das Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen von Natur so, dass das eine besser, das andere geringer ist und das eine regiert, das andere regiert wird.“ (Aristot. pol. 2, 5, 12-14, 1254b)

In Rom herrschte in der Familie der pater familias als Familienoberhaupt mit der patria potestas, das heißt, der Vater hatte die absolute Gewalt über Leben und Tod der Familienmitglieder, das ius vitae necisque, und die Kon- trolle über das Familienvermögen. Griechische Schriftsteller wie Dionysios von Halicarnassos sahen darin eine typisch römische Einrichtung. (Vgl. Dion. Hal. III, 26, 1-4) Natürlich bestimmte der Vater auch über die Aufzucht oder das Aussetzen des Neugeborenen, doch er konnte auch seine erwachsenen Familienmitglieder töten, wenn sie sich gegen den Staat vergangen hatten. (Vgl. Sen. clem. 1, 15, 1)

In der späteren Kaiserzeit verlor die patria potestas jedoch immer mehr an Bedeutung und damit schwand auch die Gewalt über die Angehörigen einer familia und über das Leben der Neugeborenen. Unter christlichem Einfluss erklärten die Kaiser Valentinian, Valens und Gratian die Kindestötung als schweres Verbrechen:

„Wer - gleich, ob Mann oder Frau - die Sünde eines Kindesmordes begangen hat, soll wissen, dass ihn Kapitalstrafe trifft.“ (Cod. Theod. 9, 14, 1. Cod. Iust. 9, 16, 7).

Von Kaiser Iustinian wurde die Kindesaussetzung endgültig verboten und der Verkauf der Kinder stark eingeschränkt.

„Dass Kinder von ihren Eltern weder durch Verkauf noch durch Schenkung, noch als Unterpfänder, noch auf irgend eine andere Art, auch nicht unter dem Vorwand der Unwissenheit des Empfängers, auf einen anderen übertragen werden können, ist fest- stehendes Recht.“

„Wenn jemand aus größer Armut und Dürftigkeit des Hungers wegen einen Sohn oder eine Tochter verkauft, so soll bloß in diesem Falle der Verkauf gelten […]“(Cod. Iust. 4, 43, 1, 2)

1.3.3 Motive für eine Kindesaussetzung in der Antike

1.3.3.1 Wirtschaftliche Gründe

Aus der Zeit um 1300 v. Chr. stammt eine Hieroglyphenschrift, die heute im Museum von Leiden aufbewahrt wird. Darin wird eine Hungersnot für die Ermordung und das Aussetzen von Kindern verantwortlich gemacht:

„[…]Es ist doch so, es ist doch so: Aus Jammer werden Kinder auf die Straße geworfen oder in der Wüste ausgesetzt oder in einem Körbchen den Krokodilen des Nils geopfert“ (Vgl. Vardiman 1982, 121)

Wirtschaftliche Gründe im weitesten Sinn scheinen immer die Hauptursa- chen gewesen zu sein, Kinder entweder überhaupt nicht entstehen zu lassen, sie also zu verhüten, sie abzutreiben, sie auszusetzen oder gar zu töten. Das kann Armut in der Familie sein, sei sie nun selbst verschuldet oder durch ei- nen Schicksalsschlag verursacht, oder eine allgemeine Verarmung des Staa- tes. Wirtschaftliche Not und in der Folge Hunger war bei allen Völkern des Altertums - und ist es in vielen Teilen der Erde heute noch - der häufigste Grund, Kinder auszusetzen.

Hesiod rät den Menschen, sich durch harte Arbeit und kluge Vorratswirtschaft vor Hunger zu schützen:

„[…] Arbeite, hochgeborener Perses, damit dich der Hunger hasse, doch liebe Demeter, die Göttin mit herrlichem Kranze, und die Erhabene dir mit Nahrung fülle die Scheuer!

Hunger ist ja doch immer des Arbeitsscheuen Begleiter.[…]“(Hes. erg. 298-301)

Oder:

„[…] Wer das Vorhandene mehrt, verdrängt den brennenden Hunger,

Und der Vorrat, den einer im Hause bewahrt, hat keinen gereut noch […]“ (Hes. erg. 362-263)

Herodot schreibt im 5. Jahrhundert v. Chr. über dieses Problem:

„Die Armut war Griechenlands ständige Begleiterin“ (Hdt. 7, 102, 1)

Armut und Hunger, vielleicht durch eine Übervölkerung des griechischen Festlandes hervorgerufen, waren unter anderem Gründe, warum seit dem 11. Jahrhundert, besonders aber zwischen dem 8. bis 6. Jahrhundert um das Mittelmeer Kolonien gegründet wurden. Herodot berichtet über Gründungen solcher Kolonien, zum Beispiel über die Besiedlung von Milet. Hier waren es hauptsächlich Ionier, denen sich aber auch andere Völker hinzugesellten. (Vgl. Hdt. I, 146) An anderer Stelle schreibt er über die Gründung Kyrenes, ausgehend von Thera. (Vgl. Hdt. 4, 153)

Platon legt in seinem „Idealstaat“, wobei er einerseits mit diesem Ausdruck die „Säuberung“ eines schon bestehenden, aber auch die Gründung eines neuen Staatsgebildes in den Kolonien meint, die Zahl der Einwohner mit 5040 Personen fest. 5040 deswegen, weil man diese Zahl auf nicht mehr als

59 Arten teilen könne!

„[…] Die Menge der Leute, die Land erhalten und die Verteilung nachher schützen sollen, betrage 5040 Personen, um irgendeine geeignete Zahl zu nennen. Land und Wohnungen sollen gleichfalls in ebenso viele Personen verteilt werden, so dass je ein Mann und ein Grundstück ein zusammengehöriges Ganzes bilden. […] Wer seinen Landesteil erhalten hat, soll immer unter seinen Kindern bloß einen einzigen Sohn als Erben dieses Wohnsitzes hinterlassen, den Sohn, bei dem ihm die Sache am liebsten ist. […] Und dann schließlich, wenn eine vollständige Unmöglichkeit vorliegt, die 5040 Häuser stets auf gleicher Zahl zu erhalten, so bleibt doch das alte Mittel zur Ab- hilfe übrig, von dem wir oft gesagt haben; das Fortschicken als Kolonisten in aller Liebe und Freundschaft beiderseits, soweit diese Maßregel passend erscheint.[…]“

Aber auch:

„[…] Sie [Anm. d. A.: die Behörde] muss sehen, was man bei dem Überfluss oder Mangel anzufangen hat, und möglichst alle Mittel anwenden, dass es bei der Zahl von 5040 Haushaltungen für immer sein Bewenden haben kann. […]“ (Plat. leg. 5, 10, 738 a)

In seinem Werk „Der Staat“ schreibt Platon im fünften Buch:

„[…] Dann werden wir also dies den Wächtern zur weiteren Aufgabe machen: Auf jede Art und Weise zu achten, dass der Staat weder zu klein sei noch zu groß scheine, sondern eine leidliche und einheitliche Ausdehnung besitze.“

(Plat. pol. 4, 423 c)

Lange vor Platon schreibt schon Hesiod in seinem Buch „Werke und Ta- ge“:

„Nur ein einziger Sohn soll gezeugt sein, das Haus seines Vaters dann zu hüten; so wächst ja der Reichtum in den Gemächern. Alt soll er sterben und selbst einen Sohn hinterlassen.“ (Hes. erg. 375f)

Platon sieht also in der Gründung von Kolonien einen Ausweg, der dro- henden Übervölkerung zu entkommen. Doch ist das für ihn kein Grund, „überzählige“, gesunde Kinder auszusetzen, denn auch dieses Problem kann im „Idealstaat“ geregelt werden:

„[…] Hat dann jemand mehr als den einzigen Sohn, so soll er von den übrigen Kindern die Mädchen nach einem Gesetz, das noch aufgestellt werden wird, sich verheiraten lassen, die männlichen Sprösslingedagegen an solche Bürger verteilen, denen es an Nachkommenschaft fehlt, und dies soll er hauptsächlich mit Rücksicht auf freundschaftliche Beziehungen tun.[…]“ (Plat. leg. 5, 738)

Und:

„[…] in süßer Lust liegen sie beieinander, zeugen nicht mehr Kinder, als sie sich leisten können. […]“ (Plat. pol 2, 372b)

Platon spricht natürlich vom seinem „Idealstaat“. Wie häufig aus Gründen der Familienplanung in Wirklichkeit Kinder ausgesetzt wurden und ob man mit diesen Praktiken ein übermäßiges Wachstum der Bevölkerung hintanhalten konnte, kann heute schwer abgeschätzt werden.

Geburtenkontrolle im Altertum umfasste im Wesentlichen dieselben An- satzpunkte, die auch heute noch gelten: Da gab es Mittel und Methoden der Empfängnisverhütung, die aber oft genug fragwürdig und teilweise auch un- wirksam waren und auf die ich hier nicht eingehen möchte. Weiters war natürlich auch die Abtreibung eine Möglichkeit, sich von einem ungewollten Kind zu trennen. Doch das war in der damaligen Zeit, ja eigentlich bis zur Entdeckung der Antibiotika im letzten Jahrhundert, wegen der Verletzungs- gefahr und der daraus resultierenden Wundinfektion ein äußerst riskantes Unternehmen und oft genug mit dem Tode der Mutter verbunden. So blieb noch die Tötung oder Aussetzung des Neugeborenen, sollten die zwei vorher genannten Möglichkeiten der Geburtenkontrolle versäumt oder nicht erfolg- reich gewesen sein.

Nebenbei konnte der Ehemann vielleicht auch durch den Verkehr mit Sklavinnen und Prostituierten, aber auch durch gleichgeschlechtlichen Ver- kehr die Konzeptionsrate der eigenen Ehefrauen etwas senken. (Vgl. Kipp 2001, 13, 2.2.1)

Einerseits sollte nach Platon also der Fortbestand eines Staates gesichert sein, also auch die Zahl der Eheschließungen von der Regierung geregelt werden und damit auch genügend Kinder gezeugt und aufgezogen werden, andererseits sollte jeder oikos nur so viele Kinder haben, wie er sie erhalten konnte. Berücksichtigt muss nach Platon aber auch die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit werden (die im klassischen Athen erschreckend hoch war), sowie Krankheiten, Kriege und andere widrige Umstände.

„[…] die Anzahl der Eheschließungen werden wir der Regierung anheim stellen: Sie soll die Bevölkerungszahl unter Berücksichtigung von Kriegen, Krankheiten und all solcher Umstände konstant halten können. Denn unser Staat soll weder denkbar groß noch denkbar klein werden.[…]“ (Plat. pol. 5, 460a)

Auch Aristoteles ist für die Begrenzung der Anzahl der Kinder in einer Familie. Er jedoch empfiehlt die Abtreibung, allerdings „nur solange der Embryo noch keine Empfindungen zeigt“:

„Denn zwar muss die Zahl der zu erzeugenden Kinder begrenzt sein, wenn aber über dieselbe hinaus Eheleute noch Kinder bekommen, so müssen diese Leibesfrüchte, bevor sie noch Wahrnehmung (aisthesis) und Leben haben, abgetrieben werden, denn nach Vorhandensein von Wahrnehmung und Leben muss es hier sich richten, was erlaubt und was nicht erlaubt ist.“

(Arist. pol. 7, 16. 1335 b. dazu Kipp 2001, 61, Anm. 89)

Auch was mit den Kindern nach der Geburt geschehen sollte, überlegt Pla- ton:

„Einerseits bringen sie (Anm. d. A.: die Behörden), denke ich, die Nachkommenschaft tüchtiger Eltern an einen sicheren Platz zu bestimmten Ammen, die irgendwo im Staat an einem besonderen Ort wohnen; andererseits verbergen sie die Nachkommenschaft der Minderbegabten, und auch die anderen, sofern sich an ihnen irgendein menschli- ches Gebrechen herausstellt, nach Recht und Ordnung an einem versteckten und unbe- kannten Ort.“ (Plat. pol. 5, 460c)

Diese Aussage Platons soll eine Verbindung zum nächsten Kapitel herstel- len.

1.3.3.2 Missbildungen und körperliche Gebrechen

Platon träumt von einem Idealstaat, dem „Wächterstaat“, in dem nur die besten Kinder als zukünftige „Wächter“, wie er seine Bewohner nennt, aufge- zogen werden sollten. Kinder, die seinen Idealvorstellungen weniger entspre- chen, sollten der arbeitenden Klasse zur Aufzucht übergeben werden:

Platon spricht nie von Abtreibung, Kindesmord oder Aussetzung. Er erwähnt aber eine, bis in unsere Tage geübte, besonders grausame Möglichkeit, sich eines ungewollten (Anm. d. A.: Platon meint durch Inzest gezeugtes) Kindes zu entledigen, die grobe Vernachlässigung: man kümmert sich einfach nicht um das Kind, versagt ihm jede emotionale Zuwendung, versorgt es gar nicht oder nur notdürftig mit Nahrung und Pflege. Entweder stirbt es gleich nach der Geburt, oder es verhungert und verdurstet langsam. (Vgl. dazu Kipp, 61, Anm. 89)

„[…] Wenn es aber irgendwie nicht zu verhindern ist, sollen sie mit ihm (Anm. d. A.: dem ungewollten Nachwuchs) so verfahren, als gäbe es keine Nahrung für ihn.“ (Plat. pol. 5, 461)

Aristoteles vermutete zwar, dass ein menschlicher Embryo, beziehungs- weise Fötus ab einem gewissen Stadium schon Empfindungen hätte und da- her nicht mehr abgetrieben werden dürfe, bejahte aber die Aussetzung miss- gebildeter Kinder:

„Was aber die Aussetzung oder Auferziehung der Neugeborenen betrifft, so sei es Ge- setz, kein verkrüppeltes Kind aufzuziehen; doch wegen der Zahl der Kinder eins aus- zusetzen, muss die Ordnung der Sitten verhindern.“ (Arist. pol. 7, 16.1335b, 3)

Bei den Römern hatte, wie schon erwähnt, König Romulus verfügt, dass alle Knaben und erstgeborenen Mädchen aufzuziehen seien, abgesehen von den schwächlichen Kindern und Kindern mit Missbildungen. Hier noch einmal das vollständige Zitat von Dionysios von Halikarnassus:

„[…] Und er (Anm. d. A.: König Romulus) machte es (Anm. d. A.: Rom) groß und volkreich durch folgende Maßnahmen. In erster Linie zwang er die Einwohner, alle ihre männlichen Kinder und die erstgeborenen der Mädchen aufzuziehen und er verbot, Kinder unter drei Jahren zu töten, außer sie wären missgebildet und ungestalt von Geburt an. In diesem Fall verbot er den Eltern die Aussetzung nicht, unter der Voraussetzung, dass fünf Nachbarn dies auch bestätigten. […]“ (Dion. Hal. ant. 2, 15)

Und im Zwölftafelgesetz steht geschrieben:

„[…] Schnell ums Leben gebracht wie ein besonders missgestalteter Knabe nach dem Recht der Zwölftafeln“. (Tafel 4,1)

Cicero bezieht sich in seinen „Gesetzen“ in einer Diskussion, in der es um das Amt der Volkstribune geht, auf dieses Gesetz und lässt Quintus sprechen:

„[…] Wenn wir uns an seinen Ursprung erinnern wollen, sehen wir, dass es im Bürgerkrieg nach der Besetzung und Belagerung von öffentlichen Plätzen der Stadt ins Leben gerufen wurde. Als dann das auffallend missgebildete Kind sozusagen im Sinne der Bestimmungen des Zwölftafelgesetzes schnell getötet worden war, wurde es auf unerklärliche Weise in kurzer Zeit wieder lebendig und noch viel hässlicher und scheußlicher neu geboren. […]“ (Cic. leg. 3, 8, 19)

Eine körperliche Einschränkung gilt bei den Römern nicht nur als Belas- tung für den Behinderten selbst und seine Angehörigen, sondern auch als üb- les Vorzeichen. So ist die im Zwölftafelgesetz vorgeschriebene Tötung oder das Aussetzen eines neugeborenen behinderten Kindes auch religiös zu ver- stehen. Livius berichtet, dass bei Antritt des Konsulates von Gaius Claudius Nero und Markus Livius ein neuntägiger Gottesdienst gehalten wurde, weil es zu Veji Steine vom Himmel geregnet hätte. Aber es traten neue böse Vorzei- chen ein, unter anderen die Geburt eines Riesenbabys, das außerdem noch ein Zwitter war, worauf der Gottesdienst wiederholt werden musste. (Vgl. Liv. 27, 37)

In Rom waren Behinderte, ebenso wie in Griechenland, für religiöse Ämter nicht zugelassen. So berichtet Plinius d. Ä. von einem M. Sergius, der im Kriege gegen die Punier die rechte Hand verlor, trotzdem in späteren Feldzügen tapfer weiterkämpfte und noch einige Male verwundet wurde. Wegen dieser Verletzungen wollten ihn seine Amtgenossen von den heiligen Opfern der Prätur ausschließen. (Vgl. Plin. nat. 7, 104-106)

In einem Erbfolgestreit lautet ein Orakelspruch des Apollon, dass man sich vor einer „hinkenden Königsherrschaft“ hüten solle. Doch wie alle Orakelsprüche kann auch dieser Spruch doppelsinnig verstanden werden: Nicht vor einem Manne, der infolge eines Sturzes hinke, solle man sich hüten, sondern davor, dass einer von einer unechten Abstammung, also von einer „hinkenden Abstammung“ König werde. (Vgl. Xen. Hell. 3, 3, 3)

Sehr eindeutig dagegen ist auch die Aussage des L. Aennaeus Seneca in seinem Buch „Der Zorn“:

„Missgeburten töten wir, und sogar Kinder, wenn sie behindert und verwachsen zur Welt kommen, ertränken wir, und es ist nicht eine Äußerung des Zorns, sondern der Vernunft, vom Gesunden das Unnütze zu scheiden.“ (Sen. ira. 1, 15, 2)

Nicht jede Behinderung kann und konnte allerdings schon bei der Geburt erkannt werden, wie wir heute wissen. Auch heute können angeborene Blindheit, Taubheit oder Bewegungsstörungen nach der Geburt nur mit komplizierten Untersuchungsmethoden festgestellt werden. Früher wurden diese Behinderungen oft erst nach Monaten offensichtlich, Monate, in denen die Kinder von den Eltern schon lieb gewonnen worden waren. Manchmal wurden ihnen Namen gegeben, die auf so eine Behinderung hinwiesen, wie Caecus oder Claudius. Wie wir aber auch wissen, konnten Blinde in der Antike als „Seher“ oder als Dichter zu großen Ehren kommen.

1.3.3.3 Das Aussetzen von Mädchen

In der Antike wurden möglicherweise mehr Mädchen als Knaben ausgesetzt. Das wird immer wieder behauptet, kann aber nicht zweifelsfrei bewiesen werden. Wie schon erwähnt wurde, stieg im achten und siebenten Jahrhundert v. Chr. die Bevölkerung Griechenlands stark an, was einerseits zur Gründung von Kolonien führte, andererseits auch eine Begrenzung der Kinderzahl in den Familien zur Folge haben musste. Eine wirksame Methode zur Begrenzung der Population war das Aussetzen von Mädchen, des repro- duktiven Teiles der Bevölkerung. Man kann vermuten, dass in Zeiten einer Überbevölkerung tatsächlich mehr weibliche Neugeborene ausgesetzt oder getötet wurden. Das könnte auch erklären, dass man auf der Agora aus dieser Zeit doppelt so viele Männer- wie Frauengräber gefunden hat. (Vgl. Pomeroy 1985, 69) Allerdings ist der Stellenwert der Frauen in den patriarchalischen Strukturen der Antike nie sehr groß gewesen, sodass es nahe liegt, dass ein- fach mehr Männer als Frauen eine ansehnliche Grabstelle bekommen haben und die Frauen in bescheidenen, uns nicht mehr erhaltenen Gräbern bestattet wurden.

Später, in der Zeit der Klassik, zog man nur so viele Töchter auf, die man später auch mit einer ausreichenden Mitgift, die den Vermögensverhältnissen des Vaters entsprechen musste, versorgen konnte. Je größer die Mitgift war, desto eher konnte die Tochter in eine reiche und damit einflussreiche Familie verheiratet werden.

In den unruhigen Zeiten des Hellenismus versuchte man, die Familien möglichst klein zu halten, man vermied zusätzliche Esser und reduzierte po- tenzielle Erben. Wie schon früher besprochen, mussten auch in diesen Zeiten die heiratsfähigen Töchter mit einer entsprechenden Mitgift ausgestattet werden. Also war die Bereitschaft, gerade die Mädchen auszusetzen, sehr groß. Dazu kam auch, dass in der Zeit des Hellenismus für Frauen eine gewisse Verbesserung der Bildungschancen gegeben war und dadurch eine Emanzipierung in der Familie. Wie immer und überall, wo die Männer ver- mehrt in den Krieg zogen und dadurch längere Zeit fern der Familie waren, mussten die Frauen daheim mehr Verantwortung übernehmen. Das machte sie selbstbewusster, verstärkte aber auch den Trend zu kleinen Familien. (Vgl. Pomeroy 1985, 212)

Es wird allerdings immer wieder bezweifelt, dass wesentlich mehr Mädchen ausgesetzt wurden als Knaben. Lacey hält das in der hellenistischen Epoche für möglich, ist aber der Meinung, dass Mädchen einfach bei der Auf- zählung der Kinder fehlten. So kann heute der Eindruck entstehen, dass die Familien viel mehr Söhne als Töchter hatten. Wollte sich eine Familie nur ein Kind leisten, konnte es bei bescheidenen finanziellen Mitteln manchmal sogar günstiger sein, eine Tochter aufzuziehen, da die Tochter später auch mit einer kleinen Mitgift verheiratet werden konnte. Knaben hingegen hätten später ihren vollen Anteil am oikos fordern können, was bei den Eltern unweigerlich zu einer weiteren Verarmung geführt hätte. Und ein ausgesetzter Knabe hatte nach seiner Auffindung auch die besseren Chancen, einem fremden, vielleicht auch reichen Vater als eigenes Kind untergeschoben zu werden. (Vgl. Lacey 1983, 155f)

In Rom mag es sich, was das Aussetzen von Mädchen betrifft, ähnlich ver- halten haben. (Vgl. Pomeroy 1985, 229) Wenn man sich das schon vorher zitierte Gesetz von König Romulus ansieht, drängt sich die Frage auf, was mit allen weiteren, gesunden Mädchen geschehen sollte.

1.3.3.4 Das Aussetzen von Zwillingen

Mehrlingsgeburten galten in der Antike oft als schlechtes Vorzeichen. Plinius berichtet in seiner Naturkunde:

„[…] eine größere Anzahl (Anm. d. A. von Kindern) wird für ein Wunderzeichen gehalten, außer in Ägypten, wo das Trinken des Nilwassers fruchtbar macht. In der neuesten Zeit, gegen Ende der Regierung des Kaisers Augustus, gebar Fausta, eine Plebejerin aus Ostia, zwei Knaben und zwei Mädchen auf einmal, was ohne Zweifel die darauf folgende Hungersnot bedeutete. […]“ (Plin. nat. 7, 33)

Die Vierlingsgeburt, auch heute noch ein ungewöhnliches Geburtsereignis, wurde also mit der - zufällig - folgenden Hungersnot in Zusammenhang ge- bracht.

Andererseits glaubte man bei Zwillingsgeburten auch an eine doppelte Be- fruchtung durch einen menschlichen und einen göttlichen Vater, so wurden Zwillingen oft übernatürliche Kräfte zugeschrieben. (Vgl. DNP 2 [1997] 337 s. v. Aussetzungsmythen und -sagen [R. Oswald]) Zwillinge sind aber oft auch Frühgeburten und damit schwache und untergewichtige Kinder - und manchmal auch durch den längeren Geburtsverlauf gezeichnet. Diese Tatsa- che an sich mag für die Aussetzung von einem oder beiden Kindern schon genügt haben.

1.3.3.5 Illegitime Kinder

Uneheliche und außereheliche Kinder, nach einer Scheidung geborene und Kinder von Sklavinnen und Prostituierten wurden ebenfalls sehr häufig aus- gesetzt. Auch Kinder, die durch Vergewaltigungen und Verführungen ent- standen waren, wurden sehr oft Opfer der Aussetzung. Aussetzungen bei Zweifel an der Vaterschaft bildeten ein beliebtes Sujet in der Literatur der klassischen Zeit (Ion!), aber auch bei den Aussetzungsmythen der Königskin29 der, die uns noch im Teil II begegnen werden. (Vgl. RAC XX [2004] 875 s. v. Kind [M. Kleijwegt, Übers. A. Breitenbach, R. Amedick])

1.3.3 6 Oblatio puerorum - die Opferung oder Darbietung der Kinder an Gott oder die Götter

Nach Meinung von Lahaye-Geusen spielten Kinder als Objekte des Opfer- kultes in der Antike eine untergeordnete Rolle, da Menschenopfer allgemein durch Tieropfer ersetzt wurden. (Vgl. Lahaye-Geusen 1991, 15f) Spektakulär sind allerdings die 20.000 Urnen mit der Asche verbrannter Kleinkinder, die man im tophet von Karthago gefunden hat. Osteologische Untersuchungen ergaben, dass die verstorbenen Kinder im Alter bis zu drei Jahren waren, dar- unter auch viele Frühgeburten. Nun meinen manche Wissenschaftler, dass diese Kinder der damaligen großen Kindersterblichkeit zum Opfer gefallen sein könnten, da die Grabstätten vom Ende des achten Jahrhunderts bis 146 v. Chr. meist als Einzelgräber angelegt wurden und das die hohe Zahl der Grab- stätten erklären könnte. (Vgl. Markoe 2003, Der Tophet -Bezirk und Kindes- opfer, 134-137) Andererseits berichten antike Schriftsteller, wie Plinius, dass von den Karthagern jährlich Menschen geopfert wurden. (Vgl. Plin. Nat. 36, 4, 29) Auch Plutarch berichtet von Kinderopfern. (Vgl. Plut. de superstitione 171, C-D)

Neben den bisher genannten Möglichkeiten, sich von einem Kind zu tren- nen, wie Aussetzung, Verkauf oder auch Kindestötung, muss also auch die Opferung oder die Kinderdarbietung an eine religiöse Institution genannt werden. Schon im Alten Testament kennen wir die Erzählung von Abraham, der seinen Sohn Isaak auf die Bitte Jahwes als Brandopfer darbringen will, was aber gerade noch verhindert wird, da Gott den guten Willen Abrahams anerkennt und das Kindesopfer nicht zulässt. (Gen. 22) Im Alten Testament, im ersten Buche Samuel, wird die Geschichte seiner Mutter Hanna erzählt, die eine der zwei Frauen Erkanas war. Im Gegensatz zu Pennina, der anderen Frau, die schon einige Kinder hatte, war Hanna unfruchtbar. So war sie in der Familie verachtet und bekam auch weniger zu essen. In ihrem Schmerz bat sie Jahwe um Hilfe und machte folgendes Gelübde:

„Jahwe Zebaot, wenn du herabschaust auf deine armselige Magd und meiner gedenkst, wenn du deine Magd nicht vergisst, sondern deiner Magd einen männlichen Spross schenkst, so will ich ihn Jahwe weihen, solange er lebt, und kein Schermesser soll je auf sein Haupt kommen.“ (Sam. 1, 11)

Und Hanna weihte ihren Sohn Samuel, gleich nachdem sie ihn von der Muttermilch entwöhnt hatte, in Erfüllung des Gelübdes, Jahwe:

„[…] um diesen Knaben habe ich gebetet. Da hat mir Jahwe meine Bitte erfüllt, die ich an ihn gerichtet habe. Darum habe ich ihn auch Jahwe geweiht. Alle Tage, die er lebt, soll er Jahwe geweiht sein.“ Dann ließ sie ihn dort bei Jahwe. (Sam. 1, 27)

Aber auch in der heidnischen Welt wurden Kinder frühzeitig - und damit natürlich auch gegen den Willen der Kinder - für den Tempeldienst bestimmt, der auch mit der Verpflichtung zur Keuschheit verbunden war. In der Mytho- logie, der der zweite Teil dieser Arbeit gewidmet ist, wird dieses Vorgehen denn auch häufig angewandt, eine Prophezeiung abzuwenden, indem man versucht, schon die Mutter des prophezeiten und „gefürchteten“ Kindes durch das ihr aufgezwungene Keuschheitsgelübde ungefährlich zu machen.

Im Mittelalter wurden dann Kinder aus den unterschiedlichsten Gründen - sei es, dass sie unerwünscht oder illegitim waren, sei es, dass Armut die Eltern dazu trieb, ihren Kindern wenigstens die Aussicht auf Versorgung in der Zukunft zu geben, aber auch in Erfüllung eines Gelübdes - Klöstern übereignet. Darauf wird später noch eingegangen.

1.3.4 Die Rechtsform der Kindesaussetzung

In Attika konnte der Vater eines neugeborenen Kindes allein entscheiden, ob das Kind in den Familienverband aufgenommen und aufgezogen werden sollte oder nicht, das heißt, ob es ausgesetzt werden sollte. Eine nicht unwe- sentliche Rolle für diese Entscheidung fiel dabei Hebammen zu, erfahrenen älteren Frauen, die selbst schon geboren hatten. Ursprünglich urteilten diese Frauen allein aus Erfahrung, ob das Kind kräftig und gesund war und keine sichtbaren Missbildungen hatte. Später, im zweiten Jahrhundert n. Chr. stellte Soranus, ein Arzt aus Ephesos, der in Rom tätig war, ganz genaue Richtlinien für Hebammen auf, die gleich nach der Geburt entscheiden sollten, ob ein Neugeborenes aufgezogen oder ausgesetzt werden sollte:

„Nachdem die Hebamme das Kind übernommen und sein Geschlecht festgestellt hat, soll sie es auf den Boden legen, und sein Geschlecht durch Zeichen kundtun, wie es Brauch unter Frauen ist. Sie soll sich eine Meinung bilden, ob das Kind aufgezogen werden soll oder nicht. Und ein Kind, das für die Aufzucht geeignet ist, ist gekennzeichnet dadurch, dass die Mutter während der Schwangerschaft gesund war, denn die Krankheiten speziell jene des Körpers, schädigen auch den Fötus und schwächen die ersten Grundlagen des Lebens in ihm. Weiters ist zu beachten, ob das Kind termingerecht geboren ist, am besten an Ende des neunten Monats oder eventuell darüber, aber auch nach sieben Monaten. Weiters soll es, wenn es auf der Erde liegt mit kräftiger Stimme schreien. Sollte es längere Zeit nicht schreien oder nur schwach, liegt der Verdacht nahe, dass dies durch irgendwelche ungünstige Umstände bedingt ist. Die verschiedenen Körperteile und Glieder sowie die Sinnesorgane müssen regulär ausgebildet sein, und die verschiedenen äußeren Öffnungen, die der Ohren, der Nase, des Rachens, der Harnröhre und des Anus, dürfen nicht verschlossen sein. Die natürlichen Funktionen der Organe sollen weder verlangsamt noch schwach sein. Die Gelenke sollen sich beugen und strecken lassen. Der Körper soll die richtige Größe und Gestalt und die gewünschte Sensibilität zeigen. Das kann man feststellen, indem man die Finger gegen die Oberfläche des Körpers presst, denn es ist natürlich, dass der Mensch Schmerzen spürt, wenn er gedrückt oder gestochen wird. Entspricht der Be- fund nicht dem eben geschilderten, so ist das Kind nicht geeignet, aufgezogen zu wer- den.“

(Sor. gyn. 2, 10, übersetzt aus dem Altgriechischen G. Lorenz)

Wurde das Kind in die Familiengemeinschaft aufgenommen, so wurde, wenn es ein Knabe war, ein Ölzweig, im Falle eines Mädchens Wollfäden an die Haustüre gehängt. Am fünften oder zehnten Tage (es gibt dazu unter- schiedliche Meinungen) fanden die Amphidromia, ein Familienfest, statt, bei dem das Neugeborene um den Hausaltar getragen wurde und auch seinen Namen bekam. Ab diesem Zeitpunkt war es nicht mehr möglich, das Kind auszusetzen. Die Eintragung in die Phratrieliste und damit die Feststellung der Ehelichkeit des Kindes erfolgte zu einem späteren Zeitpunkt. (Vgl. Blanck 1976, 89f)

In Athen oblag die Entscheidung über eine Aussetzung des Kindes normalerweise dem Vater, während in anderen Städten durchaus auch einmal die Mutter für diesen Akt zuständig sein konnte. Über den besonderen Status der Frauen aus der kretischen Stadt Gortyn wurde schon berichtet.

Auch Prostituierte entschieden selbst, ob sie ihre Kinder aufziehen oder aussetzen wollten. Umgekehrt wie in bürgerlichen Familien zogen sie eher ihre weiblichen Nachkommen auf und trennten sich von ihren Söhnen. Ja sie kauften sogar Sklavenmädchen und sammelten weibliche ausgesetzte Kinder, um sie später in ihr Gewerbe einzuführen und sich so ihre Altersversorgung zu sichern. (Vgl. Demosthenes 59, 18-20. Pomeroy 1985, 136)

In Sparta hingegen hatte nicht der Vater das Recht der Entscheidung, ob ein Kind aufgezogen werden sollte, es waren die Ältesten der Gemeinde, die das entschieden. Vorher jedoch wurde von den Frauen schon ein gewisser „Härtetest“ an den Kindern als Vorentscheidung durchgeführt: das Kind wurde nicht mit Wasser, sondern in Wein gebadet! Nach der Meinung der Spartaner sollte der Wein schwache Kinder töten, gesunde aber kräftigen.

„Es hing nicht bloß von dem Vater ab, ob er das geborene Kind aufziehen wollte, son- dern er musste es an einen gewissen Ort, Lesche genannt, tragen, wo die Ältesten der Zünfte versammelt waren. Dieses besichtigten es genau, und wenn es stark und wohl gebaut war, hießen sie ihn es aufziehen und wiesen ihm eins von den neuntausend Losen an; war es hingegen schwach und übel gestaltet, so ließen sie es gleich in die Apothetai, ein tiefes Loch am Berge Taygetos, werfen, weil man glaubte, dass ein Mensch, der schon vom Mutterleibe an einen schwachen und gebrechlichen Körper hat, sowohl sich selbst als dem Staate zur Last fallen müsse. Aus dieser Ursache wurden auch die Kinder nach der Geburt von den Weibern nicht in Wasser, sondern in Wein gebadet, um dadurch den Zustand ihrer Gesundheit zu prüfen. Denn man sagt, dass epileptische oder sonst kränkliche Kinder vom Wein ohnmächtig werden, die ge- sunden aber noch mehr Kraft und Stärke bekommen. […]“ (Plut. Lyk. 16, 1)

Müller vermutet aber hinter diesem Bad im Wein auch einen rituellen Hintergrund, da Wein immer auch kultische Bedeutung hatte und Opfergabe war. Diese rituelle Form der Aussonderung und Tötung der Kinder hätte (nach Meinung von Müller) die Eltern von der Verantwortung der eigenen Entscheidung enthoben. Nicht sie selbst, sondern das „Ritual“ entschied über Leben und Tod des Kindes. (Vgl. Müller 1990, 58)

Die patria potestas des pater familias und das ius vitae necisque in den römischen Familien wurde schon früher (im Kapitel 1.3.2) besprochen. So hatte der Familienvater auch über die Aussetzung eines Neugeborenen zu entscheiden. Doch wachten Censoren über die missbräuchliche Anwendung der patria potestas. Weiter war es üblich, dass ein „Hausgericht“, das aus Verwandten und fünf Nachbarn bestand, vor einer Kindesaussetzung einberu- fen werden musste. (Vgl. Dion. Hal. ant. 2, 15) Wurde das Kind aber als Mit- glied der Familie aufgenommen, so musste es auf die Erde gelegt werden und durch den pater familias vom Boden aufgehoben werden (liberos tollere).

Dann wurden auch in Rom die Türen bekränzt, man legte den Kindern Halsbänder mit Amuletten an, um sie so vor üblen Einflüssen zu schützen. (Vgl. Müller 1990, 58)

Wurde das Kind jedoch ausgesetzt, musste das nicht unbedingt durch den Vater erfolgen, es konnten auch andere Personen wie Hebammen oder Skla- ven damit betraut werden. Das Neugeborene wurde entweder durch ein tönernes Gefäß notdürftig geschützt oder in einen Korb gelegt, sodass ein ausgesetztes Kind auch sportellarius (sportella - das Speisekörbchen) genannt wurde. Im Griechischen allerdings wurde es kopriairetos, nach dem Ort der Aussetzung, dem Misthaufen (kopros), genannt. Andere Behälter, in die ein Kind gelegt werden konnte, waren Holzkisten oder auch Holzwannen, besonders dann, wenn die Kinder in ein Gewässer ausgesetzt wurden, wie es häufig in Aussetzungsmythen dargestellt wird. (Vgl. RE XXI. Hb. [1966] 464 s. v. Kindesaussetzung [E. Weiss])

Die Aussetzungsplätze konnten sehr unterschiedlich sein. Teils wurden die Kinder auf belebten Plätzen oder vor Heiligtümern ausgesetzt. Hier war die Wahrscheinlichkeit und der Wunsch, dass das Kind bald gefunden wurde, groß. Gab man ihm auch noch Erkennungszeichen mit, so war damit die Hoffnung der Eltern zu erkennen, dass das Kind gefunden und später gegebe- nenfalls auch identifiziert werden konnte. Setzte man es andererseits auf ei- nem Misthaufen aus, hatte man sicher keine guten Wünsche für das Kind. Wollte man keinesfalls, dass das Kind überlebte, zum Beispiel, wenn es krank oder missgebildet war, wurde es an einem möglichst unzugänglichen Orte ausgesetzt, wo es in der Kälte umkam oder von wilden Tieren gefressen wur- de. In Sparta wurden die körperbehinderten Kinder in einem Tonkrug über einen Abhang beim Taygetos gestürzt und hatten sicher keine Überlebens- chance. (Vgl. Plut. Lyk. 16)

Trotzdem dürfen wir annehmen, dass sich die wenigsten Eltern leichten Herzens zu einer Aussetzung ihres Kindes entschlossen haben, auch wenn ihr Vorgehen bis in die Spätantike weder rechtlich noch moralisch verurteilt wurde. Aber in einer absolut patriarchalen Gesellschaft bestimmten immer die Männer über Leben oder Tod des Kindes. Anscheinend dachte niemand daran, wie es den Müttern dabei ging, wenn ihnen das Kind weggenommen wurde, das sie nach einer vielleicht beschwerlichen Schwangerschaft und auf jeden Fall schmerzhaften Geburt gerade zur Welt gebracht hatten. Sicher ging das ganze Geschehen nicht ohne seelische Verletzung der Mutter ab. Und vielleicht mag es ab und zu vorgekommen sein, dass ein Kind, obwohl alle Gründe nach der damaligen Meinung für eine Aussetzung sprachen, mit ei- nem Lächeln die Herzen derjenigen eroberte, die es aussetzen sollten - und so am Leben blieb. Herodot berichtet die Geschichte vom Söhnchen der lahmen Labda, aus der Familie der Bakchiaden, das wegen zweier Orakelsprüche getötet werden sollte. Die gedungenen Mörder aber waren wegen des Lä- chelns des Säuglings außerstande, ihr Vorhaben ausführen. (Vgl. Hdt. 5, 92)

Was geschah nun mit den Kindern, die gefunden wurden und überlebten? Für gewöhnlich wurde es vom Finder einem Sklaven überlassen, der das Kind aufziehen sollte. Meistens landeten die Kinder also in der Versklavung, Bettelei oder Prostitution. Wenn sich aber die Identität des Findlings heraus- stellte, stand das Kind in Athen nominell immer noch unter der kyrieia des leiblichen Vaters, beziehungsweise in Rom unter der patria potestas, falls ein Vater überhaupt bekannt war. Seit 331 n. Chr. bestimmte jedoch der Finder den Status des Kindes (vgl. Cod. Theod. 5, 9, 1f), ab 529 n. Chr. erhielt das ausgesetzte Kind immer den Status eines Freigeborenen.

1.3.5 Kritik an der Aussetzungspraxis von Kindern in der Antike

Natürlich wurde die Kindesaussetzung mit möglicher Todesfolge zu allen Zeiten von vielen Menschen aus den unterschiedlichsten Lagern der Bevölkerung nicht widerspruchslos hingenommen.

[...]

Final del extracto de 218 páginas

Detalles

Título
Kindesaussetzung - Wahrheit und Mythos
Universidad
University of Innsbruck  (Institut für Archäologien)
Calificación
sehr gut
Autor
Año
2010
Páginas
218
No. de catálogo
V170105
ISBN (Ebook)
9783640887538
ISBN (Libro)
9783640887392
Tamaño de fichero
33477 KB
Idioma
Alemán
Notas
Im Alten Testament steht im Buche Ezechiel über ein ausgesetztes Kind: „[…] Und was deine Geburt betrifft, so wurde, als du geboren warst, deine Nabelschnur nicht abgeschnitten, du wurdest nicht mit Wasser gewaschen zur Reinigung, nicht mit Salz abgerieben und nicht in Windeln gewickelt. Kein Auge ruhte erbarmend auf dir, um etwas von alledem zu tun und Mitleid zu üben, du wurdest vielmehr am Tage deiner Geburt aufs freie Feld hinausgeworfen, weil man dich verabscheute. […]“ (Ez. 16,4,5)
Palabras clave
Kindesaussetzung, Wahrheit und Mythos, Das Verstoßen eines Jungen in der Tierwelt, Das Aussetzen eines Menschen in prähistorischer Zeit, Kindesaussetzung in der Antike, Häufigkeit der Kindesaussetzung, Die Familie in der Antike als Hintergrund der Kindesaussetzung, Motive für eine Kindesaussetzung in der Antike, Missbildungen und körperliche Gebrechen, Das Aussetzen von Mädchen, Das Aussetzen von Zwillingen, Illegitime Kinder, Oblatio puerorum – die Opferung oder Darbietung der Kinder an Gott oder, Die Rechtsform der Kindesaussetzung, Kritik an der Aussetzungspraxis in der Antike, Sorge um den Fortbestand des eigenen Volkes und Furcht vor der, Verbot der Kindesaussetzung und -tötung bei den Juden, Aussetzen, Mythos, Wahrheit, Antike, Missbildungen, Findelkinder, Verkauf von Kindern, Kindesmord, Kindereuthanasie zur Zeit des Nationalsozialismus, Kindereuthanasie, Euthanasie, Kindesaussetzung und Kindestötung weltweit, Kindestötung, Caeculus, Hephaistos, Pan, Atalane, Kybele, Chloe, Euadne, Aiolos und Boiotos, Amphion und Zethos, Pelias und Neleus, Romulus und Remus, Phylakides und Philandros, Lykastos und Parrhasios, Zeus, Paris (Alexandros), Ödipus, Abraham, Moses, Jesus, Telephos, Asklepios, Perseus, Dionysos (nach der Version von Pausanias), Aichmagoras, Anios, Ion, Iamos, Linos, Miletos, Hippothoon, Kyknos, Herakles, Daphnis und Chloe, Kydon
Citar trabajo
Mag. phil. Dr. med. univ. Ulrike Schöps (Autor), 2010, Kindesaussetzung - Wahrheit und Mythos, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/170105

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Título: Kindesaussetzung - Wahrheit und Mythos



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