Gesundheitsschutz nach Art 35 der Europäischen Grundrechte-Charta


Redacción Científica, 2010

17 Páginas


Extracto


Gesundheitsschutz nach Art. 35 der Europäischen
Grundrechte-Charta

Gerald G. Sander*

Einleitung

Bei der Errichtung der drei Europäischen Gemeinschaften in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts spielte die Gesundheitspolitik nur eine untergeordnete Rolle. Vor allem stand die wirtschaftspolitische Konsolidierung und Entwicklung Europas im Vordergrund.[1] Gesundheitsschutzgründe spielten aber insoweit eine Rolle, als sie nationale Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit, der Freizügigkeit sowie der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen können.

Seit Mitte der 70er Jahre wurden zunehmend Aspekte des Gesundheitsschutzes aufgegriffen, vor allem in Bezug auf die Unfallverhütung von Arbeitnehmern.[2] Im Jahr 1986 wurde ein erstes Programm zur Krebsbekämpfung beschlossen, das wegen fehlender Vertragsgrundlage noch vom Rat als Gemeinschaftsorgan und gleichzeitig als Versammlung der Regierungsvertreter verabschiedet wurde.[3] Der Gesundheitsschutz stand ferner in engem Zusammenhang mit Maßnahmen der EG im Lebensmittel-[4] und Arzneimittelrecht[5] sowie im Umweltschutz-[6] und Verbraucherschutzrecht[7]. Bis zum Maastrichter Vertrag gab es jedoch keine eigenständige Aufgabennorm der EG im Bereich der Gesundheitspolitik.

Mit der Aufnahme des Titels X „Gesundheitswesen“ im Maastrichter Vertrag von 1992 wurde ein neuer Art. 129 in den EG-Vertrag eingeführt, welcher der Gemeinschaft eine selbstständige, aber stark begrenzte Rechtsgrundlage in der Gesundheitspolitik verlieh. Der Gesundheitsschutz stellt seitdem nicht mehr nur einen Annex anderer Politikbereiche dar. Der Vertrag von Amsterdam aus dem Jahr 1997 fasste die Vorschrift im jetzigen Titel XIII als Art. 152 EGV materiell teilweise neu.[8] Als Art. 168 wurde die inhaltlich wiederum erweiterte Vorschrift in den AEU-Vertrag (AEUV) von 2007 übernommen. Mit den Beratungen des Grundrechte-Konvents im Jahr 2000 fand der Gesundheitsschutz ebenfalls Eingang in die Europäische Grundrechte-Charta (GRCh).

I. Überblick über die Entwicklung der Grundrechte in der EU

1. Situation vor der Schaffung der Grundrechte-Charta

In seiner Rechtsprechung erkannte der Europäische Gerichtshof (EuGH) Grundrechte auf der Grundlage der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der Menschenrechtserklärung des Europarats bereits seit 1969[9] an und verlieh ihnen Wirkung durch seine Judikatur zur unmittelbaren Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Die Anerkennung der Grundrechte erfolgte auch in den Vertragstexten: 1986 in der Präambel zur Einheitlichen Europäischen Akte, 1992 in Art. F Abs. 2 des Maastrichter Vertrages mit einer Grundlage für ihre Herleitung aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (später Art. 6 Abs. 2 des EUV in der Fassung des Vertrags von Amsterdam 1997, künftig Art. 6 Abs. 3 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon 2007).

Zwar garantierte diese Vorgehensweise einen angemessenen Stand des Schutzes der Menschenrechte, allerdings brachte sie auch Probleme der Sichtbarkeit mit sich. Denn die Bürger verfügten über keinen spezifischen Katalog an Rechten. Um diesem Defizit zu begegnen, beschloss der Europäische Rat im Jahr 1999 in Köln die Ausarbeitung einer Charta der Grundrechte der EU.

2. Die Europäische Grundrechte-Charta

Das vom Europäischen Rat eingesetzte Gremium zur Erarbeitung der Charta der Grundrechte der EU wird nach seinem Vorsitzenden, dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, auch als „Herzog-Konvent“ bezeichnet. Den Namen „Konvent“ hatte sich das Gremium in seiner ersten Arbeitssitzung am 1. Februar 2000 selbst gegeben. Mit dieser Bezeichnung sollte die Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit der Gremiumsmitglieder herausgestellt werden, vergleichbar mit der „Zusammenkunft Gleichgesinnter in klösterlicher Abgeschiedenheit“.[10] Die Zusammensetzung des Konvents aus 15 Beauftragten der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, einem Beauftragten der Europäischen Kommission, 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments und insgesamt 30 Mitgliedern der nationalen Parlamente wurde auf der Tagung des Europäischen Rates in Tampere beschlossen. Neben den Konventsmitgliedern nahmen am Konvent auch zwei Vertreter des EuGH sowie zwei Vertreter des Europarats beobachtend teil. Am 2. Oktober 2000 hatte der Konvent nach neunmonatiger Beratung einen Entwurf der Charta der Grundrechte der EU fertiggestellt. Die Charta wurde am 7. Dezember 2000 zu Beginn des Europäischen Rates von Nizza jeweils vom Präsidenten des Parlaments, des Rates und der Kommission unterzeichnet und feierlich proklamiert.[11]

Die Charta wurde jedoch nicht in die Verträge aufgenommen und kann keine rechtlich bindende Wirkung entfalten.[12] Allerdings kann der Charta ein hoher politischer Wert zugesprochen werden. Schon früh wurde ihr im Schrifttum eine gewisse Wirkungsmöglichkeit vorhergesagt. Der Gerichtshof soll demnach die Charta im Rahmen der Wahrung des Rechts, die ihm nach Art. 220 EGV obliegt, berücksichtigen können, ohne dass eine Änderung der Verträge notwendig ist.[13] Sie steht dem EuGH dabei als Interpretationshilfe zur Verfügung.[14] Auch sollen der EuGH und das Gericht Erster Instanz bei der Ermittlung der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 2 EUV auf den in der Charta festgeschriebenen Konsens zurückgreifen können.[15] Diese Vorhersagen wurden dadurch bestätigt, dass die Organe der EU die Charta nach ihrer Proklamation als Richtschnur beim Erlass von Richtlinien und Empfehlungen verwendet haben. Auch haben bereits mehrere Generalanwälte vor dem EuGH in Schlussanträgen auf Artikel der Charta Bezug genommen.[16] Zudem benutzt das Gericht Erster Instanz sie als Erkenntnisquelle.[17] Es kann argumentiert werden, dass die Organe der EU im Zuge einer faktischen Selbstbindung die Charta für sich als verbindlich anerkannt haben. Allerdings führt diese mögliche faktische Selbstbindung der Organe immer noch nicht zu einer Einklagbarkeit der in der Charta enthaltenen Rechte durch die Unionsbürger.

Bei der Anwendung nationaler Verfassungsvorschriften[18] oder einfacher Gesetze zum Gesundheitsschutz ist es einzelstaatlichen Gerichten ebenfalls nicht verwehrt, die Charta als Auslegungshilfe oder Standard zur Absicherung bestimmter Interpretationen des nationalen Rechts zu berücksichtigen.[19]

[...]


* Dr. iur., M.A., Mag. rer. publ.; Rechtsanwalt, Kanzlei Baumann, Sasdi & Sander, Stuttgart; Lehrbeauftragter an den Universitäten Tübingen, Hohenheim und Pilsen, der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer sowie der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen.

[1] Hanika, Europäische Gesundheitspolitik, in: Medizinrecht 1998, S. 193 (193).

[2] Siehe Sander, Internationaler und europäischer Gesundheitsschutz, Baden-Baden 2004, S. 187 f.

[3] Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 7. Juli 1986 über ein Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften gegen den Krebs (ABl. EG 1986 Nr. C 184, S. 19).

[4] Hierzu Sander (Fn. 2), S. 258 ff.

[5] Hierzu Thier, Das Recht des EG-Arzneimittelmarktes und des freien Warenverkehrs, Frankfurt am Main u.a.1990; Sander (Fn. 2), S. 288 ff.

[6] Hierzu Sander/Sasdi, Freihandel und Umweltschutz. Legitimation und Grenzen grüner Handelsbeschränkungen in EU und WTO, Frankfurt am Main u.a. 2005, S. 75 ff.

[7] Hierzu Sander, Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit und öffentliche Gesundheit, in: Frech/Große Hüttmann/Weber (Hrsg.), Handbuch Europapolitik, Stuttgart 2009, S. 140 ff.

[8] Zu den Änderungen Sander, Consumer Protection and Public Health, in: Ott/Inglis (Hrsg.), Handbook on European Enlargement, The Hague 2002, S. 867 (873).

[9] Seit EuGH Slg. 1969, S. 425 ff. – Rs. 29/69 „Stauder/Ulm“; EuGH Slg. 1970, S. 1135 ff. – Rs. 11/70 „Internationale Handelsgesellschaft“; EuGH Slg. 1974, S. 507 ff. – Rs. 4/73 „Nold“.

[10] Hilf, Die Grundrechtscharta im Rechtsgefüge der Union – Nizza und die Zukunftsperspektive, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza, Wien 2002, S. 15 (17).

[11] ABl. EG 2000 Nr. C 364, S. 1.

[12] Siehe allgemein zur Grundrechte-Charta Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, in: DVBl. 2000, S. 847 ff.; Mahlmann, Die Grundrechtscharta der Europäischen Union, in: ZEuS 2000, S. 419 ff.; Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Fragen der Konzeption, Kompetenz und Verbindlichkeit, in: EuZW 2001, S. 261 ff.; Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, in: DVBl. 2001, S. 1 ff.

[13] Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, in: EuGRZ 2000, S. 497 (510).

[14] Zulee g, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, in: EuGRZ 2000, S. 511 (514).

[15] Hilf, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Sonderbeilage zu NJW, EuZW, NVwZ und JuS, 2000, S. 5.

[16] Vgl. die Schlussanträge des GA Tizzano in Rs. C-173/99 (EuGH Slg. 2001, S. I-4881 [4891, Rdnr. 28]) und Rs. C-133/00 (EuGH Slg. 2001, S. I-7031 [7040 f., Rdnr. 27]); GA Jacobs in Rs. C-270/99 (EuGH Slg. 2001, S. I-9197 [9207, Rdnr. 40]); GA Alber in Rs. C-340/99 (EuGH Slg. 2001, S. I-4109 [4133, Rdnr. 94]).

[17] EuG Slg. 2002, S. II-313 ff. – Rs. T-54/99; EuG Slg. 2002, S. II-2365 ff. – Rs. T-177/01.

[18] Eine große Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten besitzt Regelungen über den Gesundheitsschutz bzw. über Teilaspekte in ihren nationalen Verfassungen: Art. 23 Nr. 2 (Belgien); Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 1 Abs. 1, Art. 104 Abs. 1 S. 2 (Deutschland); Art. 28 Abs. 1 (Estland); § 19 Abs. 3 (Finnland); Präambel der Verfassung von 1946 (Frankreich); Art. 21 Abs. 3 (Griechenland); Art. 32 (Italien); Art. 111 (Lettland); Art. 53 (Litauen); Art. 11 Abs. 5 (Luxemburg); Art. 33 mit Recht auf Leben (Malta); Art. 22 Abs. 1 (Niederlande); Art. 68 Abs. 1 (Polen); Art. 64 (Portugal); Art. 22 Abs. 1 (Rumänien); Kap. 8 § 7 Abs. 1 Nr. 1 mit bloßer Verordnungsermächtigung (Schweden); Art. 40 (Slowakei); Art. 51 (Slowenien); Art. 43 (Spanien); Art. 3 der tschechischen Verfassung i.V.m. Art. 31 der Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten; Art. 70/D (Ungarn); Art. 9 (Zypern); in Irland ist anerkannt, dass der Gesundheitsschutz zu den Rechten in Art. 40 Abs. 3 zählt, vgl. auch Art. 45; andere Staaten regeln dieses Recht in einfachen Gesetzen oder Verordnungen (z. B. das Vereinigte Königreich).

[19] Vgl. VG Frankfurt, in: NJW 2001, S. 1295 f.; franz. Conseil d’Etat, in: Europe, Juni 2003, S. 19.

Final del extracto de 17 páginas

Detalles

Título
Gesundheitsschutz nach Art 35 der Europäischen Grundrechte-Charta
Universidad
University of Hohenheim
Autor
Año
2010
Páginas
17
No. de catálogo
V170931
ISBN (Ebook)
9783640899678
Tamaño de fichero
522 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Gesundheitsschutz, Grundrecht, Grundrechte Charta, Europäische Union, Leistungsrecht, Abwehrrecht, medizinische Versorgung
Citar trabajo
Dr. Gerald G. Sander (Autor), 2010, Gesundheitsschutz nach Art 35 der Europäischen Grundrechte-Charta, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/170931

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