Im Juni 1926 tritt der angesehene ungarische Filmkritiker und -theoretiker Béla Balázs vor das Publikum, das sich im ‚Klub der Kameraleute Deutschlands’ versammelt hat, und hält den Vortrag ‚Filmtradition und Filmzukunft’. Eine Passage der Rede, später selbstständig unter dem Titel ‚Produktive und reproduktive Filmkunst’ verbreitet, diskutiert u. a. „zwei wunderbare[…] Aufnahmen aus dem PANZERKREUZER POTEMKIN“, dem gerade in Deutschland in den Kinos laufenden großen Film des sowjetischen Regisseurs Sergej Eisenstein. Balázs konnte wohl kaum die auf dem Fuße folgende heftige Reaktion Eisensteins voraussehen, in der dieser dem gebürtigen Ungarn bildlich vorwarf, „die Schere“ vergessen zu haben. Der ‚Disput’, den Loewy immerhin als „legendären Streit“ bezeichnet, wirkt auf den ersten Blick wie eine randständige Anekdote. Eine kleine Auseinandersetzung, die durch ihre prominenten Akteure in Erinnerung geblieben ist, zumal sie nur aus zwei relativ kurzen Texten besteht. Doch würde man die Angelegenheit damit zu leitfertig abtun. Allein die Tatsache, dass die Kontroverse über Jahrzehnte hinweg immer wieder das Interesse geweckt hat, lässt doch die Frage aufkommen, ob mehr dahinter steckt.
Wie Diederichs meint, kann die „Entwicklung der ersten 40 Jahre filmästhetischer Theorie“ in vier Stufen unterteilt werden: die der „Diskussion der Kunstfähigkeit des Films“, der „Schauspielertheorie“, der „Kameratheorie“ und der „Entwickelte[n] Formtheorie“. Dabei gilt ihm Balázs’ Buch ‚Der sichtbare Mensch’ als „das Haupt- und Abschlusswerk der ‚Schauspielertheorie’“, das Balázs-Werk ‚Der Geist des Films’ als Werk der dritten Stufe, der ‚Kameratheorie’, in dem Balázs „selbst zum Montageapologeten geworden“ sei und gleichzeitig die Montagetheorie Eisensteins, „die praktische Umsetzung der intellektuellen Montage als Hieroglyphenfilme und Bilderrätsel“, kritisiere.
Man kann die Ereignisse des Jahres 1926 somit auch als Auseinandersetzung um die Deutungshoheit in der Filmtheorie interpretieren, als einen Schritt in Balázs’ Entwicklung von der ‚Schauspieler-‚ zur ‚Kameratheorie’. Hat Balázs also unter dem Einfluss Eisensteins seine ‚Bekehrung’ zur Montage erfahren, deren Extreme im Werk Eisensteins aber gleichzeitig abgelehnt? Wie stark mischen sich dann im zweiten Werk des Exil-Ungarn die eigenen Theorien aus ‚Der sichtbare Mensch’ mit den Ansichten des Sowjet-Regisseurs?
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Hintergrund: eine Annäherung an den, Montage'-Begriff
- Balázs:,Der sichtbare Mensch' (1924)
- Der sichtbare Mensch' des Kinozeitalters
- Der Film und die, Physiognomie'
- Fokus: Montage?
- Ideologie?
- Das, Duell'
- Balázs:,Produktive und reproduktive Filmkunst' (1926)
- Eisenstein: die Replik
- Exkurs: Die Montagetheorie der frühen Jahre (1923-1929)
- ,Béla vergißt die Schere' (1926)
- Die nichtökonomische „Basis“: der Vortragsort
- „Kollektivismus“ gegen „Starismus“
- Der filmische „Kollektivismus“
- Balázs:,Der Geist des Films' (1930)
- Reflexion der technischen Neuerungen
- ,Physiognomie' 1930
- Montage: ein,Bekehrter'?
- Andere Einflüsse Eisensteins?
- Ideologie?
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht die Beziehung zwischen Béla Balázs und Sergej Eisenstein, insbesondere im Kontext der Montagetheorie. Es wird untersucht, ob und inwieweit Balázs unter dem Einfluss Eisensteins seine eigene Sichtweise auf Montage entwickelt hat. Die Arbeit beleuchtet die Entwicklung von Balázs' Filmtheorie, die von der,Schauspielertheorie' zur,Kameratheorie' übergeht, und analysiert, wie Balázs' Schriften mit den Ansichten Eisensteins interagieren.
- Entwicklung der Filmtheorie von Béla Balázs
- Der Einfluss von Sergej Eisenstein auf Balázs' Denken
- Die Rolle von Montage in der Filmtheorie
- Die Beziehung zwischen Balázs' ,Sichtbarem Menschen' und Eisensteins Montagetheorie
- Die Kritik von Eisenstein an Balázs' Positionen
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Arbeit stellt die kontroverse Auseinandersetzung zwischen Béla Balázs und Sergej Eisenstein im Jahr 1926 vor, die als „legendärer Streit“ in die Geschichte der Filmtheorie eingegangen ist. Der Fokus liegt auf der Frage, ob und inwieweit Balázs unter dem Einfluss Eisensteins seine „Bekehrung“ zur Montage erfahren hat.
- Hintergrund: eine Annäherung an den, Montage'-Begriff: Dieser Abschnitt beleuchtet die Entwicklung des Begriffs „Montage“ in der Filmgeschichte, ausgehend von Georges Méliès und seinen frühen filmischen „Tricks“. Er beschreibt die unterschiedlichen Ansätze zur Montage in den USA (Griffith) und der UdSSR (Kuleschow, Eisenstein) und skizziert die Bedeutung von Eisenstein für die Filmtheorie.
- Balázs:,Der sichtbare Mensch' (1924): Dieses Kapitel analysiert Balázs' Werk, „Der sichtbare Mensch“, das als Hauptwerk der „Schauspielertheorie“ gilt. Es werden die Thesen Balázs' zur Rolle des Schauspielers im Kino und die Beziehung des Films zur „Physiognomie“ beleuchtet. Außerdem wird die Frage aufgeworfen, ob Balázs in diesem Buch bereits Überlegungen zur Montage anstellt.
- Das, Duell': Hier wird das Aufeinandertreffen von Balázs und Eisenstein im Jahr 1926 näher betrachtet. Es werden Balázs' Vortrag „Produktive und reproduktive Filmkunst“ und Eisensteins Kritik daran („Béla vergißt die Schere“) analysiert. Der Abschnitt beleuchtet die unterschiedlichen Positionen der beiden Filmtheoretiker zur Montage und deren Bedeutung für die Filmtheorie.
- Balázs:,Der Geist des Films' (1930): In diesem Kapitel wird Balázs' Werk „Der Geist des Films“ analysiert. Es werden die Überlegungen Balázs' zu den technischen Neuerungen im Film und die Rolle von Montage in seiner Theorie beleuchtet. Die Frage, ob Balázs in diesem Werk tatsächlich ein „Bekehrter“ zur Montage ist, wird diskutiert.
Schlüsselwörter
Die wichtigsten Schlüsselwörter, die in der Arbeit behandelt werden, sind: Filmtheorie, Montage, Béla Balázs, Sergej Eisenstein, „Der sichtbare Mensch“, „Der Geist des Films“, „Produktive und reproduktive Filmkunst“, „Béla vergißt die Schere“, „Schauspielertheorie“, „Kameratheorie“, Physiognomie, Ideologie, Sowjetkino.
- Citation du texte
- Stefan Krause (Auteur), 2011, Ein "Montageapologet"?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/171204