Zur Aufrechterhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit müssen international tätige Unternehmen effektive Wettbewerbsstrategien entwickeln und hinsichtlich der Entwicklungen des Marktes flexibel bleiben. Die Wahl des Unternehmensstandortes und die Möglichkeit seiner nachträglichen Verlegung sind dabei von zentraler Bedeutung. Denn neben Lohnniveau, Produktions- und Transaktionskosten haben besonders die gesetzlichen Rahmenbedingungen am Standort einen entscheidenden Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens. Großes Interesse besteht an einer identitätswahrenden Sitzverlegung.
Häufig stehen jedoch der innereuropäischen identitätswahrenden Verlegung des Gesellschaftssitzes staatliche Regelungen entgegen.
Um einen funktionierenden Binnenmarkt zu gewährleisten, müssen die Gesellschaften dennoch mobil sein. Dies soll in der Europäischen Union durch die Niederlassungsfreiheit der Art. 49, 54 AEUV (ex-Art. 43, 48 EGV) garantiert werden.
In einer Reihe von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes wurden Regelungen des Zuzugsstaates, die die grenzüberschreitende Sitzverlegung beschränken, als unvereinbar mit der Niederlassungsfreiheit erklärt. Unklar war jedoch bis Ende 2008, inwiefern auch Beschränkungen durch den Wegzugsstaat den Anforderungen der Niederlassungsfreiheit genügen müssen.
Das Urteil in der Rechtssache „Cartesio“ sollte Klarheit diesbezüglich bringen.
Der EuGH stellte schließlich fest, dass die Niederlassungsfreiheit der Gesellschaft grundsätzlich kein Recht auf rechtsformwahrende Sitzverlegung einräume. Identitätswahrende Formwechsel, also Verlegungen des Gesellschaftssitzes unter Änderung des auf die Gesellschaft anwendbaren Rechts, dürften allerdings durch die Mitgliedstaaten nur bei zwingenden Allgemeininteressen behindert werden. Das Urteil erfüllt damit nicht die allgemeinen Erwartungen, einer den Zuzugsentscheidungen ähnlichen, liberalen Entscheidung und stößt größtenteils auf Kritik. Schließlich bringt es nicht die erhofften Mobilitätserleichterungen für die Gesellschaften in Europa mit sich und bekräftigt die 20 Jahre zuvor entwickelte Daily-Mail-Doktrin.
Aber ist „Cartesio“ wirklich so kritisch zu beurteilen? Wie begründet der EuGH seine Entscheidung?
Aufgabe dieser Arbeit soll es sein, die Entscheidung „Cartesio“ und deren Folgen grundlegend zu untersuchen, um anschließend festzustellen, inwieweit die europäischen Gesellschaften in Zukunft in der Lage sind, ihren Sitz identitätswahrend zu verlegen.
Inhaltsverzeichnis
- A. Einleitung
- I. Problemstellung
- II. Vorgehensweise der Untersuchung
- B. Ausgangssituation
- I. Internationales Gesellschaftsrecht
- 1. Qualifikation und die Frage nach dem Gesellschaftsstatut
- a) Gründungstheorie
- b) Sitztheorie
- 2. Zwischenergebnis
- II. Gemeinschaftsrechtliche Grundsätze
- 1. Wegzugskonstellation „Daily Mail“
- 2. Zuzugskonstellation
- a) „Centros“
- b) „Überseering“
- c) „Inspire Art“
- d) Folgen
- aa) Das Ende der Sitztheorie?
- bb) Fazit
- III. Ergebnis
- C. Sitzverlegung nach „Cartesio“
- I. Erwartungshaltung
- 1. „Hughes de Lasteyrie du Saillant“
- 2. Schlussanträge des Generalanwalts Maduro
- II. Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Cartesio“
- 1. Sachverhalt
- 2. Entscheidung und Entscheidungsgründe
- a) Kein Recht auf rechtsformwahrende Sitzverlegung
- b) Recht auf identitätswahrenden Formwechsel
- 3. Bedeutung und kritische Würdigung
- a) Kein Recht auf rechtsformwahrende Sitzverlegung
- aa) Anwendungsbereich des Art. 54 AEUV
- bb) Vergleich mit der Niederlassungsfreiheit natürlicher Personen
- cc) Differenzierung zwischen Zuzug und Wegzug
- b) Recht auf identitätswahrenden Formwechsel
- III. Grenzüberschreitende Sitzverlegung nach Cartesio
- 1. Rechtsformwahrender Wegzug
- a) Kapitalgesellschaften
- b) Personengesellschaften
- 2. Formwechselnder Wegzug
- a) Beschränkungen des Wegzugsstaats
- b) Aufnahme im Zuzugsstaat
- 3. Ergebnis
- D. Prognose
- I. Rechtspolitischer Ausblick aus deutscher Sicht
- 1. Wegzugsbeschränkungen
- 2. Die Gründungstheorie als allseitige Kollisionsnorm?
- II. Gemeinschaftsrechtliche Handlungserfordernisse
- 1. Sitzverlegungsrichtlinie
- 2. Unternehmensformen des Gemeinschaftsrechts
- a) Europäische Aktiengesellschaft (SE)
- b) Europäische Privatgesellschaft (SPE)
- E. Schlussbetrachtung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit analysiert die rechtlichen Rahmenbedingungen für die grenzüberschreitende Sitzverlegung von Gesellschaften innerhalb der Europäischen Union im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Niederlassungsfreiheit. Der Schwerpunkt liegt auf der Klärung der Frage, inwieweit Gesellschaften ein Recht auf identitätswahrende Sitzverlegung haben, d.h. die Möglichkeit, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, ohne ihre Rechtsform zu ändern.
- Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften
- Recht auf identitätswahrende Sitzverlegung
- Grenzüberschreitender Formwechsel von Gesellschaften
- Gemeinschaftsrechtliche Handlungserfordernisse
- Rechtspolitischer Ausblick auf die Sitzverlegung von Gesellschaften
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung stellt die Problemstellung dar und beschreibt die Vorgehensweise der Untersuchung.
- Das Kapitel „Ausgangssituation“ behandelt das internationale Gesellschaftsrecht und die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften.
- Das Kapitel „Sitzverlegung nach „Cartesio““ analysiert die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Cartesio“ und deren Bedeutung für die grenzüberschreitende Sitzverlegung von Gesellschaften.
- Das Kapitel „Prognose“ gibt einen rechtspolitischen Ausblick auf die Sitzverlegung von Gesellschaften und diskutiert die Notwendigkeit einer Sitzverlegungsrichtlinie sowie die Rolle von europäischen Unternehmensformen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit zentralen Aspekten des Gesellschaftsrechts, insbesondere der Niederlassungsfreiheit, der Sitztheorie, der Rechtsformwahrung, dem grenzüberschreitenden Formwechsel und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache „Cartesio“.
- Citation du texte
- Alexandra Sommer (Auteur), 2010, Identitätswahrende Sitzverlegung von Gesellschaften in Europa nach Cartesio (BGH NJW 2009, 569), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/174177