Leseprobe
Assignment – Kate Chopin, The Story of an Hour (1894)
In der Kurzgeschichte The Story of an Hour von Kate Chopin wird eine Ehefrau (Mrs. Mallard) mit dem Tod ihres Ehemannes konfrontiert. Nach einer kurzen Phase, in der die Frau erwartungsgemäß vom Schmerz über den Verlust des Ehemannes überwältigt ist, erweist sich dieser Verlust im Laufe der Geschichte allerdings als Befreiung für sie. Als der fälschlicherweise todgeglaubte Ehemann dann aber doch die Wohnungstür öffnet, stirbt die Ehefrau an einem Schock. Statt eines Todes durch Erschrecken, diagnostizieren die Ärzte einen Tod durch Freude über das unerwartete Wiedersehen.
Laut Zapf (1996, 197) ist The Story of an Hour eine „der bemerkenswertesten amerikanischen Kurzgeschichten des 19. Jahrhunderts“. Dem ist völlig zuzustimmen, denn diese Kurzgeschichte wagt es, das damals vorherrschende Frauenbild des viktorianischen Zeitalters zu kritisieren. Das Lebensziel einer Frau in der viktorianischen Epoche bestand darin, zu heiraten, Kinder zu gebären und sie aufopferungsvoll großzuziehen. Die Arbeit außerhalb des Haushaltes war verwerflich und gesetzlich waren verheiratete Frauen ihren Männern fast völlig unterworfen (Nünning 2005, 143 – 144). Das heißt, der Vater war das Familienoberhaupt und hatte sozusagen die Zügel in der Hand.
Dieses Bild kann man sich auch gut vorstellen, wenn man sich über die Erzählinstanz des ersten Abschnitts (Zeile 1 – 12) der Kurzgeschichte Gedanken macht. Es liegt weder eine Identität der Seinsbereiche noch Innenperspektive vor; es handelt sich hierbei also um auktoriales Erzählen, bei dem die Erzählinstanz eine große Distanz zu seinen Figuren einhält und von ihrem olympischen Standpunkt aus alles überblicken kann. Ihr ist es möglich, so wie hier (Zeile 1 – 8), weit in die Vergangenheit zu blicken. Dem Leser wird quasi von oben eine Zusammenfassung der Ereignisse übermittelt. Vor allem der erste Satz (Zeile 1 – 2), der im Passiv verfasst ist, verstärkt den Eindruck der großen Distanz, die man als Leser zum Geschehen hat. Dieses Kotrollieren der Situation durch die auktoriale Erzählinstanz steht für die Kontrolle, die die viktorianische Gesellschaft, hier verkörpert durch Richards (ein Freund von Mr. Mallard) und durch die Schwester (Josephine) der Hauptperson (Mrs. Mallard), auf Mrs. Mallard ausübt.
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