Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Polen - der „Awkward Partner" der EU
2. Das Konstrukt europäischer Gemeinschaft
2.1 . Die Bedeutung europäischer Identität
2.2. Prozessperspektive von Identität
3. Die Grundlagen polnischer Identität
3.1 . Das „Land des Freiheitskampfes"
3.2. Das Verhältnis von polnischer zu europäischer Identität
4. Fallbeispiel: Der Beitritt Polens zur EU im Jahr 2004
4.1 . Gezielte Identitätspolitik durch Beitritts-Kampagnen
4.2. Die polnische Zivilgesellschaft und ihre positive Haltung zum EU-Beitritt
5. Fallbeispiel: die polnische Debatte zum Verfassungsvertrag der EU
5.1 Die Nicht-Beachtung der Thematik durch die polnische Parteipolitik
5.2 Die Haltung der polnischen Bevölkerung zum Verfassungsvertrag 1
6. Polens „geteilte Öffentlichkeit" und die einsetzende Phase der „Normalisierung"
1. Polen - der „Awkward Partner" der EU
Die Osterweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 hat in den auf sie folgenden Jahren einigen gemeinschaftspolitischen Staub aufgewirbelt. Von besonderer Bedeutung für die Debatte war dabei immer die Integration Polens, des größten Beitrittslandes, das schon allein seiner teils dramatischen, immer wechselvollen Geschichte wegen untrennbar mit dem normativen Konstrukt „Europa" verbunden ist. Doch nicht nur historische Gründe lassen sich für Polens Sonderstellung innerhalb der Debatte ausmachen: Als etwa im Jahr 2003 der Irak-Krieg ausbricht, findet sich Polen inmitten der „Koalition der Willigen" wider, sehr zum Unmut der Lenker der europäischen Großmächte Deutschland und Frankreich, die eigentlich gerne ein Exempel gemeinsamer europäischer Außen- und Sicherheitspolitik statuiert hätten. Nicht erst seitdem fragt man sich innerhalb wie außerhalb des Landes gelegentlich: „Passt Polen nach Europa?"[1] ' Der (voreilig gewonnene) Eindruck, dass dem vielleicht nicht so sei, erhärtet sich in den folgenden Jahren: als im Jahr 2005 die national-soziale „Recht und Gerechtigkeit" (PiS) an die Macht in Sejm und Paiac Prezydencki gelangt, befürchtet man in Mittel- und Westeuropa einen „Eurosceptic backlash"[2]. Die Regierungsparteien (außer der PiS noch die agrarisch-populistische „Selbstverteidigung" und die national-klerikale „Liga polnischer Familien") seien schließlich zum Teil schon 2003 gegen den EU-Beitritt des Landes gewesen, im EU-Parlament im Rahmen der „Union für das Europa der Nationen" organisiert, und hätten sich darüber hinaus im Wahlkampf 2005 nicht gerade mit Forderungen nach einer „Vertiefung"[3] der europäischen Integration hervorgetan. Hatte man es in Polen vielleicht mit einem neuen „Awkward Partner"[4] der EU zu tun?
In stetem Gegensatz zu dieser durchaus verbreiteten Ansicht scheint jedoch seit jeher die breite Zustimmung der polnischen Bevölkerung zu Europa generell, dem EU-Beitritt sowie dem europäischen Verfassungsvertrag im Speziellen, zu stehen. So waren im Jahr 2006 einer repräsentativen TNS-OBOP- Umfrage zufolge knapp 70% aller Polen dafür, die Kooperation unter den Staaten Europas weiter zu vertiefen und eine ebenso große Zahl (!) war der Überzeugung, dass die EU eine Verfassung brauche.[5] Ein vitales Interesse für gemeinsam Europäisches, ebenso wie dessen identitäre Verankerung, scheint in der polnischen Bevölkerung demnach weitaus tiefer zu liegen als innerhalb der sie vertretenden politischen Eliten. Wie passt dies zusammen? Besitzt Polen eine „geteilte Öffentlichkeit", was die Kommunikation und die Perzeption von europäischer Gemeinschaft in Zivilgesellschaft und Politik angeht? Dieser Fragestellung möchte sich folgende Arbeit anhand einer Analyse dessen widmen, wie europäische Gemeinschaft in Polen kommuniziert und bewertet wird und welche Rolle dabei die Konstruktion nationaler Identität spielt. Die Kampagne zum EU-Beitritt Polens im Jahr 2003 sowie die polnische Debatte zum EU-Verfassungsvertrag in den Jahren 2004 - 2006 sollen dabei als Untersuchungsobjekte dienen.
2. Das Konstrukt europäischer Gemeinschaft
2.1. Die Bedeutung europäischer Identität
So wie eine Demokratie ohne Demokraten unmöglich scheint, erwächst der Europäischen Union erst daraus eine breite Legitimationsbasis, dass ihr genügend Bürger zur Verfügung stehen, die sich als Europäer begreifen und bereit sind, den politischen Prozess zu bereichern, indem sie aktiv partizipieren (vgl. No-Demos-These). Die Ausbildung einer europäischen Identität wird dabei seit den Anfängen europäischer Einigung als wichtiges Instrument dieser Integration und Legitimation betrachtet, oftmals verbunden mit der Hoffnung auf eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit[6] - zwei Konditionen des Euopäisierungsprozesses, die sich gegenseitig bedingen und notwendige, jedoch nicht hinreichende Voraussetzungen füreinander bilden. Dabei erscheint die Bedeutung einer gemeinsamen europäischen Identität von beinahe noch größerer Tragweite, da das normative Grundprinzip der EU, das Beschwören europäischer Gemeinsamkeiten, nur auf Basis geteilter Werte und Überzeugungen, Geschichte und Erfahrungen funktional sein kann. Der Appell an die Solidarität der Mitglieder der Gemeinschaft, an Frieden, Völkerverständigung und gemeinsame Entwicklung kann nur verfangen, wenn ähnliche Resonanz zumindest nicht ausgeschlossen werden muss. Das diffuse Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören und aus diesem Grund gelegentlich auf das Streben nach dem eigenen nationalen Vorteil verzichten zu können, ist, was das europäische Projekt in seinem Innersten zusammenhält und was die Entwicklung europäischer Identität so bedeutsam macht.
2.2. Prozessperspektive von Identität
Im Wortsinn bedeutet „Identität" die „völlige Gleichheit" (Duden: Die deutsche Rechtschreibung, 22. Auflage 2000, S. 488.). Selbstverständlich muss man eine solche völlige Gleichheit als Endpunkt eines Kontinuums betrachten: mit „europäischer Identität" nämlich meint man vielmehr einen Nationen übergreifenden Grundkonsens, der dazu beiträgt, die rein nationalen Dichotomien zu überwinden und auf diese Weise das stets virulente „Othering" zu de-nationalisieren.[7], [8] Das bedeutet jedoch auch, dass die Herausbildung einer europäischen Identität nicht von einer vollkommen Aufgabe der nationalen Identität abhängt, sie kann hingegen auch als Amalgam aus beidem verstanden werden, als duale Identität im Gegensatz zu einer exklusiven.[9] Da Identität ein Konstrukt ist, das in stetigem Wandel begriffen ist und „einem kontinuierlichen öffentlichen Deutungsprozess"[10] obliegt, der sich diskursiv in der Öffentlichkeit entfaltet, sind als analytische Objekte einer Untersuchung speziell die öffentlich gewordenen Handlungen, Überzeugungen und Interaktionen von politischen Eliten[11] und Zivilgesellschaft von Bedeutung.[12] Den Medien kommt daher in Identitätsdiskursen eine vermittelnde und bedeutungszuwei- sende Funktion zu, die sie im Raum zwischen politischer Elite und Zivilgesellschaft entfalten. Für die Analyse eines solchen Entwicklungsprozesses von Gemeinschaft bieten sich Längsschnittanalysen von Diskursen, aber auch zeitlich und vor allem thematisch begrenzte Kampagnen, die auf der Rezipientenseite Reaktionen einfordern, durch die Medien gedeutet und vermittelt werden und die Perzeptionen der Kommunikatoren offenlegen. Auf Zweiteres soll im Rahmen der beiden Fallbeispiele zurückgegriffen werden. Als Indikatoren sollen unter Anderem die mediale wie politische Aufmerksamkeit (Sal/ence), die dem jeweiligen Thema zuteil wird, die Einschätzungen der Bevölkerung und ihr Involvement, die Frames und Rechtfertigungen, die in die Debatte eingebracht werden, oder auch die Symbolik, auf die zurückgegriffen wird, dienen.
3. Die Grundlagen polnischer Identität
3.1. Das „Land des Freiheitskampfes"
Polen ist eine stolze Nation, die „sich seit altersher als ein Teil Europas"[13] sowie als Verteidiger des westlichen Christentums und der eigenen Staatlichkeit gegen östliche Potentaten versteht[14], als ein „Land des Freiheitkampfes".[15] Nichts könnte dieses Selbstbild besser fassen als die am 3. Mai 1791 beschlossene freiheitliche polnische Verfassung. Sie ist bis heute als „nationales Wahrzeichen"[16] erhalten geblieben, der Tag ihres Beschlusses ist seit dem Fall des Eisernen Vorhanges wieder polnischer Nationalfeiertag. Eigentlich jedoch setzt die Polonisierung des Landes erst mit seinem Verschwinden von der Landkarte, der Eingliederung ins russische Zarenreich im Jahr 1830, ein. Dieses Trauma des Umge- ben-Seins von kaum zu bändigenden fremden Mächten, des Bedroht-Seins der eigenen nationalen Existenz ist bis heute als „Erinnerung gefährdeter Staatlichkeit"[17] im kollektiven Gedächtnis tief verankert und bricht sich in gelegentlichem Misstrauen gegenüber den benachbarten Großmächten Bahn.[18]
Nachkriegspolen ist aufgrund der weitgehenden Vernichtung der jüdischen Minderheit durch Deutsche im zweiten Weltkrieg und der sowjetischen Nationalitätenpolitik eine ethnisch sehr homogene Gemeinschaft[19], eine „Kulturnation"[20] reinsten Wassers.[21] Kulturell-ethnische Konflikte sind seither kein Thema mehr, was jedoch nicht bedeuten soll, dass es keine Cleavage[22] innerhalb der polnischen Gesellschaft gibt: Gerade in den letzten Jahren scheinen die Konfliktlinien zwischen Modernen und Traditionalisten, zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Säkularismus und Klerikalismus wieder auf vertieft. Dies manifestiert sich in einer ungewöhnlich stark polarisierten Rechten des politischen Spektrums, deren populäre Extreme die säkular-zentralistisch-moderne, europäisch orientierte „Bürgerplattform" (PO) und die klerikale-peripher-traditionalistische, eher europaskeptische PiS repräsentieren.[23] Die polnische Bevölkerung ist sich demnach trotz ihrer hohen ethnischen und kulturellen Homogenität mitnichten in allen Dingen einig, außer in einem: ihrem großen Stolz auf das eigene Land. Im Jahr 2002 etwa geben 99% aller Polen an, mindestens „ziemlich stolz" auf ihr Land zu sein.[24]
3.2. Das Verhältnis von polnischer zu europäischer Identität
Einige Komponenten der polnischen nationalen Identität sind unvermittelt anschlussfähig an die europäische Vorstellung von Gemeinschaft, so etwa die polnische Verfassungstradition oder, mit gewissen Abstrichen, die tief verwurzelte, katholische Tradition des Landes. Was das Verhältnis weiterer Komponenten des polnisch-europäischen Identitätskonstruktes zueinander betrifft, lässt sich Polen als eine Nation, die zwar einerseits aus ihrer stolzen Geschichte lebt, aber dennoch eine gewisse Sehnsucht nach Europäischem verspürt, beschreiben: gerade nach dem Fall des Eisernen Vorhanges erscheint „die Bedeutung europäischer Identität eng verbunden mit der Abkehr von der staatssozialistischen Vergangenheit“[25], als eine Art schillernder Gegenentwurf zur tristen, instabilen Realität der Übergangsphase. Die öffentliche Zustimmung zu einem EU-Beitritt befindet sich zu dieser Zeit auf einem Rekordniveau und beträgt etwa im Jahr 1994 77%.[26] Da sich die Polen selbst als traditionellen Teil Europas wahrnehmen, ist für sie auch die Unterscheidung zwischen Europa, der Europäischen Union und europäischer Kultur müßig[27]: die Meinungen zu Europa und der EU sind geprägt von einer affektiven Zuwendung, deren Anziehungskraft erst mit dem Beginn der zeitweise zähen Beitrittsverhandlungen Ende der 1990er-Jahre und der damit einhergehenden zunehmenden Rationalisierung und Utilitarisierung des polnischen Europabildes spürbar nachlässt.[28]
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[1] ' Stern 2006, Mitte
[2] Szczerbiak 2007, Seite 4
[3] ibid, Seite 4
[4] ibid, Seite 4
[5] Instytut Spraw Publicznych 2006a, Seiten 6ff.
[6] vgl. Latzer & Sauerwein 2006, S. 10
[7] vgl. Weigl 2007, S. 100ff.
[8] vgl. Latzer & Sauerwein 2006, S. 14
[9] vgl. McManus-Czubinska et al., S. 138
[10] Brusis 2003, S. 255
[11] Die Annahme, dass es nur zwischen den Polen „Zivilgesellschaft", den Medien und „den politischen Eliten" zu Interaktionen kommt, ist selbstverständlich sehr vereinfachend, aber für das polnische politische System, das auf einer sehr modernen Form der Parteienorganisation (zentralistisch, professionalisiert, personalisiert, ohne Massenbasis) beruht, zumindest als Annäherung nicht unbegründet; vgl. Brusis 2003, S. 258
[12] ibid., S. 255
[13] Sauerland 2006, S. 1 65 McManus-Czubinska et al. 2003, S. 122
[14] ibid, S. 1 73
[15] ibid, S. 172
[16] vgl. Brusis 2003, S. 259 ibid, S. 260
[17] vgl. Sauerland 2006, S. 175 vgl. Brusis, S. 260
[18] McManus-Czubinska et al. 2003, S. 121
[19] Zur Einführung ins Cleaage-Konzept vgl. Lipset & Rokkan (1967): Cleavage structures, party systems, and voter
[20] alignment.
[21] Auch hierbei handelt es sich notwendigerweise um eine Vereinfachung. Das polnische Parteiensystem ist
[22] keineswegs ein Zwei-Parteien-System, jedoch entfielen auf PO und PiS bei den letzten Wahlen im Jahr 2007
[23] immerhin knapp 73%.
[24] McManus-Czubinska et al. 2003, S. 121
[25] Brusis 2003, S. 258
[26] ibid, S. 256
[27] ibid, S. 257
[28] vgl. Szczerbiak 2001, S. 105ff.