Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Integrationstheorien
2.1 Neofunktionalismus
2.2 Intergouvernementalismus
3 Der Europäische Luftverkehrsmarkt
3.1 Entwicklungen vom Chicagoer Abkommen bis zur ersten EG-Erweiterung
3.2 Liberalisierung des US-Luftverkehrsmarktes und deren Folgen für die EG
3.3 Politics in der EG auf dem Weg zur achten Freiheit der Luft
4 Schlussfolgerungen
5 Bibliographie
5.1 Gedruckte Literatur
5.2 Internetressourcen
6 Anhang
6.1 Die acht Freiheiten der Luft
6.2 Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
Seit dem 1. April 1997 ist der zivile Luftverkehr in der Europäischen Union (EU) voll- ständig liberalisiert und dereguliert. Damit wurde allen in der EU registrierten Fluggesellschaf- ten, die achte und letzte Freiheit der Luft (vgl. Kap. 6.1), die Kabotage, gewährleistet. Die Kabo- tage erlaubt diesen Fluggesellschaften in jedem anderen EU-Land, ausserhalb des Registrie- rungsstaats, Inlandflüge (domestic flights) anzubieten und durchzuführen (Arndt 2004: 17, 58). Der Weg von der ersten Freiheit der Luft bis zur Kabotage begann mit der Convention on Inter- national Civil Aviation (Chicagoer Abkommen) vom 7. Dezember 1944. In Art. 1 des Abkom- mens wird festgehalten, dass die Souveränität der Staaten (über ihren Luftraum) als Basis der internationalen Luftfahrt dient und dass gem. Art. 6 keine Fluggesellschaft ohne das Einver- ständnis eines betroffenen Staates dessen Luftraum oder Territorium benützen darf (ICAO 2006; Hartmann-Rüppel 2002: 24f.).
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der freie Wettbewerb der Fluggesellschaften einerseits also durch das Chicagoer Abkommen und der aus ihm hervorgegangenen International Civil Aviation Organization (ICAO), andererseits durch Tarifabsprachen im Rahmen der Interna- tional Air Transportation Association (IATA) und bilateralen Abkommen zwischen Staaten be- schränkt. Somit waren den international tätigen Fluglinien vorerst drei wichtige Voraussetzungen zu einer uneingeschränkten Marktteilnahme vorenthalten: (1) Der offene Zugang zum Markt, der das Einrichten eines Streckennetzes erlaubt, (2) die freie Wahl der eigenen Mittel in Bezug auf das eigene Verkehrsvolumen (Quantität und Frequenzen der Flüge) und (3) die Möglichkeit marktgerechte Tarife zu bilden (Hartmann-Rüppel 2002: 24f.). Mit der Gründung erster europäi- scher Institutionen war die Erwartung verbunden, dass sich die Menschen in Europa frei und re- gelmässiger bewegen können. Dem standen die Marktbeschränkungen im Luftverkehr demnach diametral und stärker als in anderen Verkehrsbranchen entgegen. Gerade deswegen hatte die Luftfahrt das Potential einen integralen Teil in der politischen Integration (West-)Europas zu spielen, sollten dem Luftverkehrsmarkt die Voraussetzungen zu einer uneingeschränkten Markt- teilnahme gewährleistet werden (Lawton 1999: 91f.). Unter der Berücksichtigung, dass die Ent- wicklung der Luftfahrt in einem Zusammenhang mit dem Integrationsprozess Europas steht, ist für meine Analyse folgende Fragestellung von Interesse: Inwiefern trug die (zunehmende) wirt- schaftliche Liberalisierung der Luftfahrt zu einer Vertiefung der europäischen Integration bei?
Zur Beantwortung meiner Frage verwende ich die integrationstheoretischen Ansätze des (eofunktionalismus und des Intergouvernementalismus. Diese beiden wichtigen Integrationsthe- orien prägen die wissenschaftliche Debatte seit Ende der 1950er Jahre und bieten unterschiedli- che Erklärungsmodelle für Prozesse regionaler Integration an (Faber 2005: 23). Der Zeitraum, welcher in der Analyse berücksichtigt wird, reicht vom Ende des Zweiten Weltkriegs, als mit dem Chicagoer Abkommen ein wichtiges Regelwerk der Zivilluftfahrt geschaffen wurde, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, als die Deregulierung des europäischen Luftverkehrsmarkts abgeschlossen war. In der vorliegenden Untersuchung werden sowohl die Analyseebene der Staaten als auch die über den Staaten liegende, supranationale Ebene betrachtet. Nachfolgend werden zuerst die Prämissen des Neofunktionalismus und des Intergouvernementalismus präsentiert und wichtige Begriffe definiert. Das darauffolgende Kapitel analysiert die Auswirkungen der Entwicklungen des Luftverkehrsmarkts auf die europäische Integration mit Hilfe der Integrationstheorien. Zuletzt folgen die Beantwortung meiner oben erwähnten Fragestellung sowie eine Kritik an der Anwendbarkeit der Theorien auf die Integrationsprozesse.
2 Integrationstheorien
Der im Zentrum dieser Arbeit stehende Begriff Integration kann in verschiedenen Bedeutungszusammenhängen stehen und auch verschieden verstanden werden. Eine - für diese Arbeit fruchtbare - mögliche Definition versteht Integration als „friedliche und freiwillige Zusammenführung von Gesellschaften, Staaten und Volkswirtschaften über bislang bestehende nationale, verfassungspolitische und wirtschaftspolitische Grenzen hinweg“ (Kohler-Koch/Schmidberger 1996: 152). Von politikwissenschaftlichem Interesse ist dabei in erster Linie der Prozess der Integration und nicht ein statischer Zustand oder eine normative Zielgrösse.
Die bedeutende Stellung des Neofunktionalismus und des Intergouvernementalismus be- ziehen die beiden Integrationstheorien aus ihrer Anknüpfung an den Idealismus bzw. Realismus, welches beides wichtige Theorien und Denkrichtungen innerhalb der Internationalen Beziehun- gen sind (Faber 2005: 23). Beide Integrationstheorien konnten bisher keine abschliessenden Antworten auf Integrationsprozesse bieten, nicht zuletzt wegen der Dynamik der sich stetig ver- ändernden Formen, sowie der politischen Prozesse (politics) der Europäischen Gemeinschaft
(EG) bzw. EU (Bauer/Voelzkow 2004: 13f.).
2.1 eofunktionalismus
Der Ende der 1950er Jahre von Haas formulierte Neofunktionalismus, wurde als direkte Reaktion auf die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), 1951, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Eu- roatom), beide 1957, verstanden. Seine Theorie basierte auf drei zentralen Annahmen: (1) Plura- listische Gesellschaftsstruktur: Politikgestaltung in Westeuropa findet sowohl im nationalen als auch im supranationalen Umfeld, hauptsächlich aufgrund von Aktivitäten organisierter Gruppen mit Partikulärinteressen, statt. (2) Technisch-funktionalistisches Staats- und Politikverständnis: Politische Funktionen werden nicht mehr von der Wirtschaft, Wohlfahrt oder Bildung zu trennen sein und die supranationale Ebene wird die technokratischen politischen Praktiken der National- staaten übernehmen. (3) Rationales und gewinnorientiertes Verhalten der Akteure: Nach durch- laufenem Lernprozess stellen die Akteure des Integrationsprozesses fest, dass ihre Interessen auf supranationaler Ebene besser aufgehoben sind, als auf staatlicher Ebene (Faber 2005: 38f., 42- 44).
Der von Haas verwendete Erklärungsansatz ist damit sehr deterministisch und impliziert, dass das Verhalten der Akteure „[i]n letzter Konsequenz […] somit immer nur nach einer gestei- gerten Nachfrage nach Integration führen“ (Faber 2005: 46) kann. Dieser spill-over-Effekt verblieb in der weiteren Entwicklung der neofunktionalistischen Theorie. Der ursprüngliche De- terminismus aber war ausgeräumt, indem nun davon ausgegangen wurde, dass das ursprüngliche Theoriemodell zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen zur Erklärung regionaler Integration bereitstellte (Faber 2005: 76). So ging z.B. Nye davon aus, dass sich der Integrations- prozess mit der Zeit eher verlangsamt als beschleunigt. Weiter konstatierte er, dass positive In- tegration, d.h. politische Integrationsmassnahmen schwieriger realisierbar sind, als leichter ver- handelbare Liberalisierungsmassnahmen der Marktwirtschaft, also negative Integration (vgl. Pinder 1972: 126). Schliesslich tendieren Integrationsprozesse zu einem Equilibrium, das sich in der Präferenz der Entscheidungsträger für den Status quo ausdrückt. Dies führt zu einer bestimm- ten Trägheit des gesamten Prozesses der regionalen Integration (Nye 1970: 802, 828-830).
2.2 Intergouvernementalismus
Ab Mitte der 1960er Jahre begann die Theorie des Intergouvernementalismus an Bedeu- tung zu gewinnen, weil immer mehr Entscheidungen, welche in der EG getroffen wurden, auf der Basis intergouvernementaler Verhandlungsprozesse (z.B. im Ministerrat (Rat)) entstanden. Zu Beginn der Theorieentwicklung stand die Kritik am Neofunktionalismus. Hoffmann, der ein- flussreichste Intergouvernementalist dieser Zeit, kritisierte (1) die Entpolitisierung bzw. Techni- sierung politischer Systeme, die dann zu einem neuen supranationalen (politischen) System füh- ren sollte. Des Weiteren kritisierte er (2) die fehlende Unterscheidung verschiedener Politikbe- reiche (policy areas), (3) die fehlende Berücksichtigung des Einflusses von Staaten ausserhalb der EG sowie (4) die fehlende Berücksichtigung, dass Staaten eine gewisse Resistenz gegenüber der Verlagerung von Kompetenzen auf die supranationale Ebene aufweisen (Faber 2005: 86-89). Anschliessend konzipierte Hoffmann eine stark auf dem klassischen Realismus basieren-de Theorie, welche drei zentrale Prämissen beinhaltete: (1) (ationalstaaten sind keine zeitlich begrenzten Organisationsformen, sondern naturgegeben und zeitlos: Der Nationalstaat bleibt der zentrale Akteur im Integrationsprozess und das eigene Interesse der Nationalstaaten in diesem Prozess besteht darin, die staatliche Souveränität und Stärke zu wahren sowie die gemeinsame Stärke Europas auf interkontinentaler Ebene wiederherzustellen. (2) Regionale Integration ge-lingt nur in Bereichen der low politics: Integration hat bis dato nur in der Wohlfahrtsmaximie-rung und in Bezug auf negative Integrationsschritte funktioniert. Für den Bereich der high poli-tics, aus Sicht des Realismus die policy areas der Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, sind weiterhin die staatlichen Regierungen zuständig, da die Staaten ihre Souveränität in diesen Schlüsselbereichen nicht abgeben wollen. (3) (ationalstaaten verfolgen weiterhin ihre eigenen Interessen: Dem neofunktionalistischen spill-over-Effekt setzte Hoffmann die Logik der Diversi-tät entgegen. Nach dieser Logik werden die Staaten aufgrund ihrer Geschichte und der unter-schiedlichen Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit machten, auch in Zukunft verschieden bzw. verschieden konfliktiv reagieren, was sich besonders in Entscheidungs- und Krisensituatio-nen äussern wird (Faber 2005: 92-102).
Eine wichtige Weiterentwicklung dieser Theorie war der von Moravcsik vorgestellte Liberale Intergouvernementalismus, welcher auf einem zweistufigen Modell basiert. Die EG wird hier als “successful intergovernmental regime designed to manage economic interdependence through negotiated policy co-ordination” (Moravcsik 1993: 474) bezeichnet. Die zentralen Argumente dieser Theorie sind, dass sich (1) die EG aufgrund intergouvernementaler Verhandlungen (bargains) entwickelte und dass sich (2) die EG-Mitgliedstaaten rational verhalten würden (Moravcsik 1993: 473, 480). Bald wurde diese Theorie aber dahingehend kritisiert, dass sie unpolitisch, nämlich nur nach ökonomischen Gesichtspunkten argumentiere und war damit interessanterweise derselben Kritik ausgesetzt, welche die Neofunktionalisten in den 1960er Jahren von den Intergouvernementalisten erhielten (Faber 2005: 163).
Grundsätzlich unterscheiden sich die beiden oben vorgestellten Integrationstheorien in ih- ren Zielsetzungen und Prämissen. In Bezug auf meine Fragestellung konstatieren aber beide Theorien, dass im Bereich wirtschaftlicher Massnahmen eine regionale Integration möglich ist. Aus diesen Überlegungen leite ich folgende Hypothese ab, die ich anhand der beiden Integrati- onstheorien testen werde: Je mehr wirtschaftliche Freiheiten die Fluggesellschaften haben, desto tiefer reicht die regionale Integration der EG/EU.
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