Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Lebenswelt
2.1 Lebenswelt im Allgemeinen
2.2 Lebenswelt Schule
3. Der Klassenrat
3.1 Der Klassenrat bei Freinet
3.2 Der Klassenrat in der Individualpsychologie
4. Gesprächsführung
5. Schlussfolgerung aus den theoretischen Grundlagen
6. Die Konzeption der Einführung des Klassenrats in der Klasse 3b
6.1 Darstellung der Lerngruppe
6.2. Erste Überlegungen für ein mögliches Vorgehen
6.3 Der organisatorische Rahmen
6.3.1 Die Elemente des Klassenrats
6.4 Vorbereitung des Klassenrats im Deutschunterricht
6.5 Darstellung der ersten Sitzung nach Einführung des Klassenrats
6.6 Die Gesprächsregeln für den Klassenrat
6.7 Zwischenreflexion
6.8 Darstellung einer Sitzung drei Wochen nach Einführung des Klassenrats
6.9. Schlussreflexion
7. Fazit
Literatur
Anhang
1. Einleitung
Schule hatte schon immer den Auftrag, neben Lernzielen auch elementare soziale Kompetenzen zu vermitteln. Dieser zweiten Komponente kommt dabei ständig steigende Bedeutung zu. Nur mündige und eigenverantwortliche Bürgerinnen und Bürger sind in der Lage, ihre Position in einer immer komplexeren modernen Gesellschaft zu vertreten und ihren Beitrag zu einer funktionierenden demokratischen Ordnung zu leisten. Dabei wachsen Kinder heute unter Bedingungen auf, die sich ständig verändern. Gerade Grundschulkinder unterscheiden sich dabei nicht nur in ihrer Herkunftsgeschichte oder ihren schulischen Vorerfahrungen, sie bringen auch ein besonders breites Spektrum an Wertvorstellungen und Umgangsformen mit. Jedes einzelne Kind lebt in seiner individuellen Lebenswirklichkeit, die durch das gesamte Umfeld geprägt wird, zu dem das Elternhaus ebenso gehört wie auch die Schule. Die Spannungen zwischen den Lebenswelten führen oft zu Konflikten. Um Kinder bei der Bewältigung dieser oft emotional belastenden Situationen zu unterstützen, brauchen sie Anleitung, ihre Angelegenheiten konstruktiv zu bearbeiten. Erst wenn sich Kinder in der Schule in ihrer ganzen Persönlichkeit aufgehoben und ernstgenommen fühlen, kann Schule ein Ort mit Lebensqualität und damit auch ein geeigneter Ort zum Lernen und zur eigenständigen Entwicklung sein.
Welchen Anforderungen Schule genügen muss, um neben Lern- auch Lebensort zu sein, formuliert der Bremer Orientierungsrahmen Schulqualität, auch Stadionmodell genannt. Wesentliche Aspekte sind hier „das soziale Klima in der Schule“ und die „Schülerunterstützung im Lernprozess und in der Persönlichkeitsentwicklung“ zu den zentralen Bereichen.[1]
Um die Qualität schulischer Bildung zu sichern, definiert die Kultusministerkonferenz in ihren Standards präzise Anforderungen für die Lehrerbildung. So wird beispielsweise gefordert, dass „ LehrerInnen die sozialen und kulturellen Lebensbedingungen von SchülerInnen kennen und Einfluss auf ihre individuelle Entwicklung nehmen.“[2] Außerdem sollen LehrerInnen mit den SchülerInnen eigenverantwortliches Urteilen und Handeln und einen konstruktiven Umgang mit Konflikten üben.“[3] LehrerInnen „ gestalten soziale Beziehungen und erarbeiten mit den SchülerInnen Regeln des Umgangs und der Gesprächsführung.“[4]
Ein sehr hilfreiches Instrument bei der Umsetzung dieser Anforderungen kann der Klassenrat sein. Dieser kann alle genannten Aspekte umfassen und daher schon in der Grundschule ein Forum für die ernsthaften Anliegen der Kinder sein. Doch kann dieser Austausch nur funktionieren, wenn die Kinder miteinander ins Gespräch kommen können. Dazu gehört nicht nur das Sprechen, sondern auch das Hören. Um gehört zu werden, müssen sie auch zuhören können.
Wie können nun Kinder so miteinander ins Gespräch kommen, dass sie ihre Anliegen nicht nur vorbringen, sondern schließlich auch klären können ? Welche Art von Unterstützung ist für die Gesprächsführung im Klassenrat förderlich? Das zentrale Thema dieser Arbeit bildet die Frage, welche gestaltenden Faktoren grundsätzlich notwendig sind, damit ein Einsteig in die Arbeit im Klassenrat gelingen kann. Die Konzeption eines Klasserats basiert auf theoretischen Grundlagen zu Lebenswelt, Klassenrat und Gesprächsführung, die im ersten Teil dieser Arbeit vorgestellt werden. Die praktische Umsetzung umfasst die gesamte Konzeption der Einführung des Klassenrats in einer dritten Grundschulklasse, ausgehend von den ersten Überlegungen für eine mögliche Vorgangsweise bis zur Darstellung zweier ausgewählter Klassenratssitzungen. Den Abschluss dieser Arbeit bilden eine Reflexion und ein Fazit.
2. Lebenswelt
2.1 Lebenswelt im Allgemeinen
Der Bremer Rahmenplan für die Primarstufe gibt vor, dass fachliche Aspekte an vorfachliche Erfahrungen, an Handlungszusammenhänge und lebensweltliche Bedeutsamkeit gebunden sind.[5] In der pädagogischen bzw. fachdidaktischen Literatur wird Lebenswelt häufig synonym mit dem Begriff Umwelt verwendet. So heißt es bei Kahlert: „Unter Umwelt wird in der Regel alles das verstanden, was in Gegenwart oder Zukunft unmittelbar oder vermittelt vom Kind wahrgenommen wird oder werden könnte, aber dem Kind nicht zugehörig ist und ihm nicht zugerechnet wird.“[6] Die handelnde Auseinandersetzung mit der Umwelt wird von Vorstellungen begleitet, die ein Individuum sich über sich selbst und über die eigenen Beziehung zur Umwelt macht. Diese Vorstellungen beziehen sich inhaltlich auf Gegenstände, Tiere und Pflanzen, auf technische Konstrukte, auf Gegenwart und Zukunft aber auch auf soziale Gegebenheiten und Vorgänge wie Familie, Streit, Versöhnung, Verbote, Rechte und Pflichten.[7] Somit enthält der oben angeführte Umwelt-Begriff auch eine wesentliche subjektive Komponente. Es kann von einer inneren und äußeren Lebenswelt ausgegangen werden, wobei die innere Lebenswelt u.a. die Persönlichkeit, Werte, Vorstellungen und Erfahrungen, das Selbstkonzept und die Identität, Interessen und Bedürfnisse des Individuums beschreibt. Zur äußeren Lebenswelt gehören Familie, Freunde, Schule, Freizeit, Medien und die Umgebung insgesamt.
2.2 Lebenswelt Schule
Jeden Tag wechseln die Schüler und Schülerinnen von ihrer familiären Lebenswirklichkeit in die Lebenswelt Schule und verbringen dort den halben, oft aber auch nahezu den ganzen Tag. Doch die Kinder kommen nicht nur als Lernende in die Schule, sie bringen ihre Vorerfahrungen, ihre Wertvorstellungen, ihre Sorgen und Ängste mit. In der Schule begegnen sich nicht nur Kinder mit unterschiedlichen kulturellen oder sozialen Hintergründen, sondern auch Kinder, die durch familiäre Probleme erheblich geprägt und auch belastet sind. Die unterschiedlichen Vorstellungen und Erfahrungen in den jeweiligen Lebenswelten führen nicht selten zu Spannungen in der Klasse, aus denen Konflikte entstehen können. Um darauf angemessen reagieren zu können, muss die Schule ihrerseits die Lebenswelten ihrer Schülerinnen und Schüler in ihr pädagogisches Handeln mit einbeziehen. Andererseits muss die Schule aber auch von der Seite der Eltern und der Öffentlichkeit als eigenständige Lebenswelt anerkannt werden. Bei Friedrich heißt es: „ Schulzeit ist Lebenszeit.“[8] Damit ist gesagt, dass Schule sich nicht darin erschöpft, auf das „eigentliche“ Erwachsenenleben vorzubereiten. Vielmehr ist die Schulzeit ein selbständiger Abschnitt aus der Lebenszeit und muss von den Lehrkräften einer Schule entsprechend eingeordnet werden. Um lernen zu können, ist es notwendig, dass sich die Kinder in der Schule mit ihrer ganzen Persönlichkeit angenommen und aufgehoben fühlen können. Wenn das gelingt, können sie auch lernen, die anderen Kinder mit ihren Vorstellungen, Bedürfnissen und Schwierigkeiten wahrzunehmen und zu achten. Nur so kann die Schule zu einem Lebensort werden.
3. Der Klassenrat
Kurzgefasst versteht man unter Klassenrat eine regelmäßig stattfindende Gesprächsrunde aller Schüler/innen einer Klasse und ihrer Lehrer/in mit einem klar strukturierten Ablauf. Alle Teilnehmer sind gleichberechtigt und müssen sich an die vereinbarten Regeln halten. Die Methode des Klassenrats ist auf unterschiedliche Konzeptionen und Einflüsse zurückzuführen. So können Célestin Freinet und John Dewey als Begründer bezeichnet werden. Es sind aber auch andere Konzeptionen entwickelt worden, wie z.B. die der Individualpsychologie nach Adler. Für mich liegt der Fokus jedoch auf dem Ansatz von Freinet, der deshalb vorrangig behandelt wird.
3.1 Der Klassenrat bei Freinet
Der französische Reformpädagoge Célestin Freinet (1896 – 1966) hat die Entwicklung der Methode Klassenrat wesentlich geprägt. Seine Motivation zur Entwicklung einer Klassenversammlung ist mit seiner eigenen Lebenssituation zu erklären, in der er sich als junger Lehrer befand. Er nahm seine eigene Schulzeit als „eine Kette leidvoller Erfahrungen“ wahr.[9] Körperliche Züchtigung und unverständliche Schulbücher bestimmten den Unterricht, den er als ein Vermitteln von Inhalten ohne Bezug zum eigenen Leben erlebte. Seine elementare Kritik am französischen Schulwesen bewog Freinet, die Partizipation seiner Schülerinnen und Schüler an den Unterrichtsinhalten zu fördern. Eine Klasse sollte wie eine Kooperative geführt werden und sich selbst im Klassenrat verwalten. Für Freinet bildeten Eigenverantwortung und Selbstorganisation die Grundlage für seine Vorstellung von „moderner Schule“. Die wöchentliche Klassenversammlung fungierte hier als ein Forum für die verschiedenen Meinungen zum gemeinsamen Leben und Arbeiten in der Klasse. In der Klassenversammlung wurden Regeln für die Zusammenarbeit festgelegt, Arbeitsergebnisse präsentiert und Lösungen für vorhandene Probleme gesucht. Freinet sah Konflikte als unabdingbare Lerngelegenheiten, ihre konstruktive Bearbeitung vorausgesetzt. Der Klassenrat im Sinne Freinets dient somit der Möglichkeit zur Selbstkritik, der Ermunterung zur Äußerung der eigenen Meinung und der Förderung des Gemeinschaftsempfindens. Es soll aber auch erlernt werden, sich den einmal akzeptierten Ordnungsregeln zu unterwerfen. „Die einzige normale Strafe, die verhängt wird, sollte die sein, dass der angerichtete Schaden wiedergutgemacht, das Zerstörte wieder repariert, das Beschmutzte wieder gereinigt wird und man eine besondere Aufgabe übernimmt, um den der Klasse zugefügtem Schaden wieder gutzumachen.“[10] Ein besonderes strukturierendes Element bei Freinet ist die Wandzeitung. Die Einträge der Kinder zu den Rubriken:“ Wir üben Kritik – Wir beglückwünschen - Wir fordern!“ geben, ähnlich wie ein Tagebuch, einen Überblick über die Geschehnisse der Woche. Friedrichs beschreibt einen typischen Ablauf einer Klassenratssitzung im Sinne Freinets wie folgt: Eine Schülerin oder ein Schüler leitet als „président“ gemeinsam mit seiner Sekretärin oder seinem Sekretär die Klassenversammlung. Die Lehrkraft hält sich im Hintergrund. Zuerst wird der Klassenrat eröffnet, anschließend verliest der Schriftführer oder die Schriftführerin das Protokoll der letzten Sitzung. Dann werden Punkte der Tagesordnung wie beispielsweise Finanzen besprochen. Anschließend wird die Wandzeitung vom Schriftführer vorgelesen. Alle Anliegen werden sofort bearbeitet und, wenn möglich, Lösungen zugeführt. Abstimmungen erfolgen durch Handheben.[11] Schon in den Anfängen des Klassenrats schien die Rubrik „Kritik“ besonders viel Raum eingenommen zu haben. Für Freinet war es daher schon damals ein Anliegen, den Klassenrat nicht automatisch mit negativen Assoziationen zu belegen. In seinem Buch „Die moderne französische Schule“ formulierte er: „ Das Gute, Dynamische, Aufmunternde muss bei unseren Klassenversammlungen immer über dem Unzureichenden, dem Versagen und dem Schlechten stehen, denn die Schule hat sich zu lange darauf beschränkt, zu kontrollieren und zu kritisieren...“[12] Freinet empfahl daher, an den Anfang und auch an das Ende des Klassenrats positiv besetzte Themen zu setzen.
3.2 Der Klassenrat in der Individualpsychologie
Die Individualpsychologie wurde durch Alfred Adler (1870 – 1937) begründet. Ende der 1920er Jahre haben Adler und sein Schüler Dreikurs den Klassenrat an 20 Wiener Schulen etabliert und sich mit der Dynamik der Gruppe und mit demokratischen Verhaltenweisen beschäftigt. Dreikurs war davon überzeugt, dass ein Kind nur dann voll handlungsfähig sein kann, wenn es sich von der Gruppe als wertvolles Mitglied angenommen fühlt. Er sah den Klassenrat als notwendiges Verfahren an, um ein demokratisches Miteinander zu erreichen. Der Klassenrat individualpsychologischer Prägung und die Klassenversammlung nach Freinet haben trotz unterschiedlicher Ansätze gemeinsame Zielvorstellungen. So soll bei beiden die Partizipation von Schülerinnen und Schülern gefördert werden. Außerdem ist die Gesprächsführung bei der Bearbeitung von Konflikten vergleichbar. Die wesentlichen Themen sind auch hier positive Rückmeldungen, Vorschläge und Kritik. Die Individualpsychologie entwickelte jedoch auch ihre eigenen Aspekte. Hierzu gehört insbesondere das Prinzip der Ermutigung, das als positive Runde einen festen Platz im Klassenrat erhält. Nach Adler bedarf jeder Mensch der Ermutigung, indem ihm echtes Interesse und Anerkennung entgegengebracht werden. Ermutigung im Sinne Adlers findet im Klassenrat statt, wenn Schülerinnen und Schüler:
- Aufgaben anvertraut bekommen, die wichtig für das Gemeinschaftsleben in der Klasse sind
- persönliche Probleme einbringen können und erleben, dass sich die anderen dafür interessieren
- erleben, dass ihre Meinung ernst genommen wird, wenn sie Lösungsvorschläge einbringen[13]
4. Gesprächsführung
Das Gespräch kann als Grundform der Kommunikation bezeichnet werden. Nach Geissner lässt es sich definieren als „die intentionale, wechselseitige Verständigungshandlung mit dem Ziel, etwas zur gemeinsamen Sache zu machen bzw. etwas gemeinsam zur Sache zu machen“[14] Diese Definition macht deutlich, aus welchen komplexen Vorgängen ein Gespräch besteht. Nun ist aber gerade Sprache einer der Bereiche, wo sich die Heterogenität von Grundschulkindern am prägnantesten zeigt. Während manche Kinder aus einer sprachintensiven Umgebung kommen, erleben andere in ihren Familien kaum ein gemeinsames Gespräch oder haben kulturell bedingt einen eher geringen Wortschatz. Um aus der wöchentlichen Gesprächsrunde einen Ort des Austausches für alle Kinder einer Klasse zu machen, wird vor allem Übung in Gesprächskompetenz benötigt. Der Bremer Rahmenplan Deutsch für die Primarstufe listet in seinen Standards u.a. die folgenden Gesprächskompetenzen auf, die Kinder am Ende der vierten Klassen erworben haben sollten, um in der weiterführenden Schule erfolgreich weiter zu lernen:
Schülerinnen und Schüler:
- führen themenbezogene Gespräche,
- vereinbaren Regeln und halten diese ein,
- hören anderen zu, gehen auf Gesprächs- und Redebeiträge anderer ein und bringen ihr Verstehen zum Ausdruck,
- diskutieren Konflikte mit anderen und entwickeln Klärungsmöglichkeiten,
- richten Bitten an andere, tragen Anliegen vor und setzen sich dafür ein,
- erproben Ausdrucksmöglichkeiten und Situationen im szenischen Spiel und
[...]
[1] Bremer Orientierungsrahmen Schulqualität, 2007/2008
[2] Kultusministerkonferenz 2004, S. 9
[3] ebd. S. 9
[4] ebd. S.10
[5] vgl. Pädagogische Leitlinien Rahmenplan für die Primarstufe, S. 10.
[6] vgl. Kahlert 2005, S. 12.
[7] vgl. Kahlert 2005, S. 13 f.
[8] vgl. Friedrichs 2009, S. 11.
[9] vgl. Laun in: Friedrichs 2009, S.50.
[10] vgl. Freinet in: Friedrichs 2009, S.45.
[11] vgl. Friedrichs 2009, S. 52 ff.
[12] vgl. Freinet in: Friedrichs 2009, S. 53.
[13] vgl. Friedrichs 2009, S. 60.
[14] vgl. Geissner in: Potthoff 2008, S. 17