"Malen" und "Leben" - Bilderwelten als Realitätsersatz in den "Wahlverwandtschaften"


Examensarbeit, 2010

85 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 EINFÜHRENDES ZU DEN BILDERWELTEN

2 LEBENDE BILDER: DER VERSUCH EINER PERFEKTEN ILLUSION
2.1 Von Pygmalions Elfenbeinstatue zu den Lebenden Bildern
2.2 Lucianes Tableaux vivants - belebte Kunst oder erotische Bühnenshow?

3 SCHRIFTBILDER: DER VERSUCH, DIE ZEICHEN ZU BEHERRSCHEN
3.1 Schrift - Schriftbild - Bild: Briefe und das chemische Gleichnis
3.2 E - O: Verliebt in (s)ein Schriftbild
3.2.1 Eduard - Otto
3.2.2 Eduard - Ottilie

4 LANDSCHAFTSMALEREI: DER VERSUCH, IN DER BILDERWELT ZU LEBEN
4.1 Arkadiensehnsucht
4.2 Leben und Sterben in der Bilderwelt
4.2.1 Kirchhofästhetik: Sterben in der Idylle
4.2.2 Sehnsucht - Bild - Tod in der Romansymbolik: die Wassermühle
4.2.3 Ein „Versuch“ über die Malerei: das Leben in der Idylle

5 OTTILIE: LEBENDES BILD UND WANDELNDE TOTE
5.1 Melancholie - Mimesis - Lebensferne: Ottilies Wesensdilemma
5.2 Ein „zweites Leben [...] im Bilde“: die Marienikone
5.2.1 Heiligenbilder: der rettende Einfall?
5.2.2 Fehlversuche: „das himmlische Kind“

6 FAZIT UND SCHLUSSBEMERKUNGEN

LITERATUR

ABBILDUNGEN

1 Einführendes zu den Bilderwelten

Das einzige Produkt von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin, nach Darstel- lung einer durchgreifenden Idee gehandelt zu haben, wären etwa meine Wahlver- wandtschaften,1 verriet Goethe am 6. Mai 1827 einer Reihe von Gästen, zu denen sein Vertrauter Johann Peter Eckermann zählte. Aber von welchem einheitlichen Gedanken spricht der Verfas- ser dieses Romans, der schon formal in zwei Teile zerfällt? Immerhin stellt er im ersten ein Figurenensemble in den Vordergrund, zentriert jedoch den zweiten um eine einzelne Figur - um Ottilie. Den ersten Hinweis bietet das Tagebuch der jungen Frau, über das Goethe den Leser wissen lässt, dass „ein roter Faden“2 es durchziehe, denn die Frage nach einem Raster wird dadurch auf die Metaebene überführt: Eine Idee durchzieht das Tagebuch, das Tagebuch den Roman. Nach dieser Annahme muss der Schlüssel zum Entziffern der Wahlverwandtschaften im Diarium zu finden sein. Schon im ersten Ein- trag kommt für ein so auffallendes Motiv nur die Idee des Bildes in Frage. Durch seine Bilderwelten also soll der Roman „für den Verstand faßlich“3 werden.

Tatsächlich finden sich Bilder im weiteren Sinne in einer schier unüberschaubaren Fülle im Roman, teilweise in Form von Schriftlichkeit, Symbolik oder rituellen Feiern. Im scheinbaren Durcheinander jenen Faden zu entdecken, der wiederum jede dieser Bil- derwelten durchzieht, das ist die Aufgabe, die es zu lösen gilt. Einführend werden dazu Lucianes Lebende Bilder hinterfragt, die auf ein die Bildprozesse aktivierendes Moment verweisen. Mit der Analyse der Bildqualitäten der Lese- oder Schreibsequenzen werden dann Tendenzen, Chancen, Probleme und Gefahren dieser Prozesse erörtert. Die Figur Eduard wird dazu in den Vordergrund treten. Nach dem Vertiefen der neuen Ergebnisse mittels der Landschaftsästhetisierungen, die Charlotte sehr intensiv betreibt, wird zuletzt eine Dreierkonstellation ermittelt, die nicht nur Ursache und Auswirkungen der Verbild- lichungsprozesse miteinander verbindet, sondern die Augen für ein Paradoxon öffnet: Dieses ist erstens im Bilderwesen selbst verborgen, zweitens unterminiert es jeden Ver- such, die Bilderwelt zu erschließen, drittens löst es den fatalen Antagonismus von „Ma- len“ und „Leben“ (394) aus, der die Wahlverwandtschaften mit jener einheitlichen Bild- Idee ausstattet, wie Ottilies Heiligenbilder schlussendlich belegen.

2 Lebende Bilder: der Versuch einer perfekten Illusion

2.1 Von Pygmalions Elfenbeinstatue zu den Lebenden Bildern

Im zehnten Buch der Metamorphosen schrieb Ovid die Geschichte des zyprischen Bild- hauers Pygmalion nieder.4 Von den aus Gewinnsucht Prostitution betreibenden und von Venus verstoßenen Propoetiden zutiefst enttäuscht, lebt Pygmalion ausschließlich für seine Kunst, kreiert aber schließlich unbewusst sein persönliches Frauenideal in Form einer Elfenbeinstatue. Diese erweist sich als derart realitätsnah, dass sich Pygmalion in sein eigenes Kunstwerk verliebt und es durch die Göttin Venus zum Leben erwecken lässt.

Birgit Jooss leitet aus dieser Episode zwei Grundsätze für ihre Arbeit über Lebende Bilder als Kunstform des 19. Jahrhunderts ab:

Zum einen die Liebe Pygmalions, des Erschaffers, zu seinem die Wirklichkeit vor- täuschenden Werk und zum anderen die Belebung einer Elfenbeinstatue, also der toten Materie. Die Kunst steht dabei für das Leben, Pygmalion für den genialen Künstler, und die weibliche Statue wird zum Symbol der Beziehung zwischen der toten Wirklichkeit des Materials und der belebten ideellen Wirklichkeit der Kunst, zur Personifikation ästhetischer Prinzipien. Der Glaube an die Macht der Kunst, die nicht nur nachahmen, sondern auch erschaffen kann, kommt anschaulich zum Aus- druck.5

In der Zeit intensiver „Diskussion um Kunst um Leben, um Subjekt und Objekt sowie um Illusion und Wirklichkeit“6 zur beginnenden Neuzeit musste Ovids Parabel freilich eine besondere Rolle spielen. Zu jenen Intellektuellen, die die Idee verfolgten, Kunstwerke durch das exakte Kopieren der Natur zu beleben, zählte der französische Aufklärer Denis Diderot7. Seine These sieht vor, die Grenzen zwischen Kunst und Realität durch die vollkommene Illusion der Natur verwischen zu lassen, um so beim Betrachter den Eindruck zu erwecken, das Kunstwerk sei real:

Diderot [...] forderte von den Künstlern ein suggestives statt deskriptives Bild, denn seiner Ansicht nach war ein Kunstwerk nur dann wirklich erfolgreich, wenn Kunst und Künstler vom Betrachter vergessen wurden. In diesem Zustand existierte ein Kunstwerk nicht mehr als ein bloßes Stück Leinwand oder Marmor, sondern wurde selbst zur Natur.8

Dieser schöpferische Anspruch an die Kunst scheint nur die Konsequenz des Kunstver- ständnisses zu sein, das sich aus Ovids Parabel ableiten lässt, beinhaltet aber einen fol- genschweren Unterschied: Bedurfte es bei Ovid zum Verwischen der Grenzen zwischen Schein und Sein noch der Intervention einer Gottheit, fällt es jetzt dem Künstler selbst zu, seinem Werk durch die vollkommene Illusion sowie durch die „subjektive Einbil- dungskraft des Betrachters“9 Leben einzuhauchen. Künstler und Betrachter werden zu- sammen zum Schöpfer, indem sie die „Unterscheidung von Lebendem und Totem“10 sowie jene von Kunst und Natur auflösen. Die göttliche Intervention entfällt. Um dieses Zentrum kreiste die Faszination von der vollkommenen Illusion ebenso wie der Streit zwischen den Intellektuellen der Goethezeit, den dieser kühne Anspruch hervorrufen musste11.

Für Amateurkünstler schien das Nachstellen von bekannten Gemälden jedenfalls die Chance zu bieten, selbst zum Lebenserwecker zu werden. Wurden diese Lebenden Bil- der, auf Französisch Tableaux vivants, zunächst nur im Rahmen von Theatervorführun- gen von Schauspielern dargestellt, hielten sie bald Einzug in reiche Gesellschaftskreise, vor allem in die des Adels. Birgit Jooss untermauerte in ihrer Dissertation eindrucks- voll, dass es der zunehmende Perfektionsanspruch an die Inszenierungen rasch erforder- te, teure Elemente wie Dekoration, Kostüme, Requisiten und Beleuchtung mit einzube- ziehen, und schließlich die Szene sogar mit Musik und Duft passend zu untermalen12. So wurden die Tableaux vivants zu einer eigenständigen Kunstform der Privilegierten, die mit hohem Kosten- und Zeitaufwand verbunden war und nicht selten zur Installation fester Bühnen in Privathäusern führte.13

Goethe kam erstmals auf seiner zweiten Italienreise in Neapel mit den Lebenden Bildern in Kontakt. Emma Hamilton posierte dort in Attitüden, die antike, auf Vasen abgebilde- te Statuen nachempfinden sollten14 und in Zuschauerberichten als derart emotionales Er- lebnis empfunden wurden, dass die Betrachter „bisweilen nicht mehr zwischen der Dar- stellerin und der dargestellten Figur unterscheiden“15 konnten. Freilich war es das Ziel, mit Attitüden „Gefühle auszulösen“16, um das Kunstwerk nicht nur zu betrachten, sondern zu erfahren, aber mit der Kunst, die nachempfunden werden sollte, war diese Reaktion eben nicht verknüpft. Vielmehr lenkten die Reize der Darstellerin und ihrer Posen vom Thema der Attitüden - den antiken Kunstwerken - so sehr ab, dass „der Zuschauer bald erschüttert, bald gerührt, bald zum Mitleid, zur Mitfreude, zum Abscheu, zur Liebe hingerissen“17 wurde. Es sind insbesondere die Grenzen zwischen Kunst und Erotik, die bei dieser Version der Lebenden Bilder ineinanderfließen. Ziemlich ausführlich kritisierte Goethe am 27. Mai 1787 in Neapel deshalb den zwar unterhaltend reizvollen aber dilettantischen Charakter der Darbietungen der Lady Hamilton:

Auffallend war mir ein aufrechtstehender, an der Vorderseite offener, inwendig schwarz angestrichener Kasten, von dem prächtigsten goldenen Rahmen eingefaßt. Der Raum groß genug um eine stehende menschliche Figur aufzunehmen, und demgemäß erfuhren wir auch die Absicht. Der Kunst- und Mädchenfreund, nicht zufrieden das schöne Gebild als bewegliche Statue zu sehen, wollte sich auch an ihr als an einem bunten, unnachahmbaren Gemälde ergötzen und so hatte sie manchmal innerhalb dieses goldenen Rahmens, auf schwarzem Grund vielfarbig gekleidet, die antiken Gemälde von Pompeji und selbst neuere Meisterwerke nach- geahmt. [...]

Darf ich mir eine Bemerkung erlauben, die freilich ein wohlbehandelter Gast nicht wagen sollte, so muß ich gestehen, daß mir unsere schöne Unterhaltende doch ei- gentlich als ein geistloses Wesen vorkommt, die wohl mit ihrer Gestalt bezahlen, aber durch keinen seelenvollen Ausdruck der Stimme, der Sprache sich geltend machen kann. Schon ihr Gesang ist nicht von zusagender Fülle. Und so mag es sich auch am Ende mit jenen starren Bildern verhalten. Schöne Personen gibt’s überall, tiefempfindende zugleich mit günstigem Sprachorgan versehene viel seltener, am allerseltensten solche wo zu allem diesen noch eine einnehmende Gestalt hinzu- tritt.18

Trotz seiner aus künstlerischer Sicht vernichtenden Kritik an den Erlebnissen in Sir Hamiltons „geheime[m] Kunst- und Gerümpelgewölbe“19 konnte sich Goethe dem Reiz der Tableaux vivants aber nicht entziehen. Jooss wies nach, dass er sie als Direktor des Weimarer Hoftheaters seit 1791 selbst plante und inszenierte, mit dem Weimarer Adel als Darsteller20, 1803 setzte er sich sogar dafür ein, die Theaterbühne als ein „figurenlo- ses Tableau“21 zu betrachten. Als Förderer „privater Liebhaberbühnen“ sowie durch die Aufnahme dieser Kunstform in die Wahlverwandtschaften verhalf er ihr letztlich sogar zu ihrer enormen Popularität im deutschsprachigen Raum.22 Für Goethe blieben die Bilder vor allem ein „Zwitterwesen“ zwischen „Mahlerey“ und „Theater“23, aber sie sind auch eine „Mischform“ zwischen einer Kunstpräsentation sowie „der realen Gegenwart attraktiver Personen“, die sich zwischen dem Ideal des wahren Schönen und dem profanen Interesse am sinnlich reizenden Körper“24 bewegt.

Im fünften Kapitel des zweiten Romanteils der Wahlverwandtschaften wird die Idee des Grafen, „wirkliche bekannte Gemälde vorzustellen“ (433), vom anwesenden Adel als Gesellschaftsspiel realisiert. Mit Hilfe des bisher erarbeiteten Vorwissens ist nun zu untersuchen, inwieweit in Goethes Roman körperliche Reize die Kunstrezeption stören, oder ob im Roman die perfekte, das Kunstwerk belebende Illusion gelingt.

2.2 Lucianes Tableaux vivants - belebte Kunst oder erotische Bühnenshow?

Nachgestellt werden drei Gemälde: der „Belisar nach van Dyck“, Poussins „Ahasverus und Esther“ sowie „die sogenannte väterliche Ermahnung von Terburg“. (433 f.) Jooss untersuchte die beliebtesten Kunstwerke, die im 19. Jahrhundert als Tableaux vivants inszeniert wurden, aber zumeist nur als Reproduktionsstiche oder in der Form anderer Kopien verfügbar waren.25 Weil solche Kupferstiche durch das Übertragen zumeist sei- tenverkehrt zum Original waren26 und im Detail natürlich zahlreiche Fehler aufwiesen, ließe sich das Nachstellen dieser Kopien schon im Voraus als Kunstform anfechten. Im Rahmen eines Gesellschaftsspiels ist noch mehr zu bezweifeln, dass ein Kunstwerk als Lebendes Bild exakt imitiert werden kann.

Poussins Ahasverus und Esther zählte zwar ebenso zu den durch Imitate überall bekann- ten und beliebten Motiven wie der Belisar oder die Instruction Paternelle27, aber diesem dritten Bild wohnt bereits eine gewisse Ironie bei: Während der in der Goethezeit ver- breitete Nachstich von Johann Georg Wille zwei ältere, sitzende Personen - nach Wille die beiden Elternteile - und eine jüngere, stehende Frau - die ermahnte Tochter - zeigt, sind auf Terborchs Original die sitzenden Figuren jünger und können deshalb nicht die Eltern der jungen Frau sein. Tatsächlich ist Terborchs Motiv in der Moderne als Bor- dellszene anerkannt, in der eine Kupplerin eine Prostituierte - die stehende Figur - an einen Freier vermittelt.28

Ob Goethe „den Irrtum seiner Figuren teilt“29, wovon Bernd Seiler ohne einen Grund zu nennen ausgeht, Birgit Jooss aber bestreitet,30 ist nicht nachvollziehbar, denn der Ro- mantext liefert keine klaren Indizien. Zumindest verdeutlicht dieser Irrtum aber, dass jede Imitation auch als eine Interpretation des Gemäldes zu verstehen ist. Und weil es sich daher mit den Tableaux vivants ebenso verhält, ist trotz der einwandfrei berechtig- ten Zweifel zu klären, ob die in den Wahlverwandtschaften inszenierten Bilder als eine legitime Interpretation durch die Darsteller und die Zuschauer trotz der berechtigten Einwände zum Leben erweckt werden.

Zumindest die Voraussetzungen für eine gute Inszenierung scheinen nicht schlecht. Die Wahl der drei überaus bekannten Motive stellt sicher, dass Darsteller und Zuschauer die erforderlichen Kenntnisse besitzen, um eine exakte Imitation zu erstellen und diese kri- tisch zu würdigen. Über Luciane, deren Mitwirken an den drei Bildern mit jedem weite- ren zunimmt, verrät der Erzähler außerdem, dass „ihr schöner Wuchs, ihre volle Gestalt, ihr regelmäßiges und doch bedeutendes Gesicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr schlanker Hals [...] schon wie aufs Gemälde berechnet“ (433) seien. Selbst eine „bedeu- tende“ (434), die Erwartungen anspannende Musik ist in die Präsentation mit einbezo- gen. Ferner begründet Michael Fried in seinem Aufsatz über „Malerei und Betrachter“, weshalb die Bildauswahl die kunstwissenschaftlichen Ansprüche an ein Tableau vivant vollkommen erfüllt: Diderots positives Urteil über Jacques Louis Davids Belisarius, den Goethes Zeitgenossen in einem weiteren Irrtum dem flämischen Maler Anthonis van Dyck zuschrieben,31 beruhe auf dem am Bildrand dargestellten Soldaten, in dem der Aufklärer die moralische Schlüsselfigur des Gemäldes erkenne. Die besondere „Kom- position“ des Belisar veranlasse „den tatsächlichen Betrachter, in diesem Falle Diderot, sich in die Position des Soldaten zu versetzen“, um ihm dadurch „einen besonders inti- men Zugang zur Welt des Bildes“ zu ermöglichen.32 Indem der Betrachter die Perspek- tive des Soldaten einnimmt, der dem blinden General einen mitleidvollen Blick schenkt, ist er in das Gemälde unmittelbar integriert. Daher erreiche David mit dem Belisar die perfekte Illusion, so Diderot.

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Abb.1: Luciano Borzone, Der blinde Belisarius, Kupferstich von Gérard Jean-Baptiste Scotin (Ausschnitt) aus dem 18. Jh.

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Abb. 2: Nicolas Poussin, Esther und Ahasverus, Kupferstich von Jean Pesne (Ausschnitt) aus dem 17. Jh.

Trotz der guten Voraussetzungen misslingt die perfekte Imitation in den Wahlverwandt- schaften. Der Betrachter verlässt die reale Welt nicht, sondern meint nur, in die „Welt des Bildes“ einzutreten, und der Erzähler lässt das Kartenhaus zusammenstürzen:

Die Gestalten waren so passend, die Farben so glücklich ausgeteilt, die Beleuchtung so kunstreich, daß man fürwahr in einer andern Welt zu sein glaubte; nur daß die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins eine Art von ängstlicher Empfindung hervorbrachte. (434)

Die Suche nach Gründen für dieses Scheitern führt uns zunächst auf den Soldaten als Diderots Schlüsselfigur zurück. Im Roman soll „der Architekt den vor ihm teilnehmend traurig stehenden Krieger nachbilden, dem er wirklich etwas ähnlich sah“ (433). Die mangelhafte Ähnlichkeit zwischen Darsteller und Figur ist für die Lebenden Bilder zwar unerheblich,33 aber der Architekt wird zuvor als ein „Dilettant“ enttarnt, der durch das „Ausmalen“ der Kapelle seine berufsspezifischen Kompetenzen überschreitet, weil er als Maler tätig wird. (vgl. 412) Wenn aber der Dilettant die moralische Schlüsselrolle übernimmt, wird der Sinn der Lebenden Bilder im Roman fragwürdig: Ist es wirklich das Ziel der Figuren, Kunst zu präsentieren oder diese kritisch zu rezipieren? Schon be- vor die Tableaux inszeniert werden, weist der Erzähler darauf hin, dass solche Bilder „einen unglaublichen Reiz“ (433) ausüben. Dass dieser Reiz auch hier nicht künstleri- scher, sondern körperlicher Natur ist, beweist ein kurzer Blick auf den Initiator des Ge- sellschaftsspiels, den Grafen:

Ich finde, sagte er, hier so manche wohlgestaltete Personen, denen es gewiß nicht fehlt, malerische Bewegungen und Stellungen nachzuahmen. Sollten sie es noch nicht versucht haben, wirkliche bekannte Gemälde vorzustellen? (433)

Indem der Graf die körperlichen Attribute als für das Posieren in einem Lebenden Bild besonders relevant herausstellt, erinnert er an die Gesellschaft in Neapel, die die durch Goethe kritisierten Attitüden der Lady Hamilton bewunderte.34 Der Romantext bietet weitere Anspielungen auf jenen Abend im Mai 1787, wobei Luciane in die Rolle der Lady schlüpft. Entsprechend kommentiert der Erzähler auch ihren „Gesang zur Guitar- re“ (433):

Das Instrument spielte sie nicht ungeschickt, ihre Stimme war angenehm; was aber ihre Worte betraf, so verstand man sie so wenig als wenn sonst eine deutsche Schöne zur Guitarre singt. (432)

Trotz Lucianes Talentbankrott ist die Gesellschaft im Schloss unangemessen beeindruckt, denn Luciane erntet wie die Lady in Neapel Lob und „lauten Beifall“ (433). Nur der Graf, von dem sich Luciane an diesem Abend mehr erhofft als nur „höflich[es]“ (433) Verhalten, erweist sich als ehrlicher Kritiker: „Ich habe nichts als Vokale gehört und die nicht einmal alle“. (433) Weil der Graf, „ein einsichtsvoller Mann“ (434), sicher vermutet, dass Luciane bei den Tableaux vivants vollkommen „in ihrem Fach sein würde“ (433), nimmt er die sich bietende Chance wahr, die unerwünschte Verehrerin loszuwerden, indem er ihr unermüdliches Streben nach Aufmerksamkeit zu erfüllen versucht - mit Erfolg: Während Luciane beim Belisar, „halb bescheiden, das junge Weibchen im Hintergrund“ mimt, entwickelt sie im zweiten Bild, in der ohnmächtig hingesunkenen Königin alle ihre Reize, und hatte sich kluger Weise zu den umgebenden unterstützenden Mädchen lauter hübsche wohlgebildete Figuren ausgesucht, worunter sich jedoch keine mit ihr auch nur im mindesten messen konnte. (434)

Die Lebenden Bilder sind eine Show, in welcher Luciane als erotische „Entertainerin“ ihre körperliche Schönheit zur Schau stellt. Ein Symbol für diese Aufmerksamkeits- sucht ist der Affe, den sie sonst überall mit sich führt, der aber auf dieser Reise zurück- bleiben musste. Charlotte tröstet ihre verzweifelte Tochter, indem sie das Fehlen des re- alen Affen mit einem „Bildband der wunderlichsten Affenbilder“ (424) kompensiert. Überhaupt ist das „Bildnis“ des Tiers, das Luciane nicht ohne Grund „malen lassen“ will, ein adäquater Stellvertreter des realen Affen (423 f.). Ein Bild tritt an die Stelle des ersehnten aber unerreichbaren Objekts. Mittels der Tableaux vivants wird Luciane jetzt selbst zur Attraktion - zum Affen in ihrem persönlichen Bilderzoo. Nicht das Kunstwerk sondern ihre Reize versucht sie zu inszenieren, um als erotische Allegorie von den Zuschauern bewundert und verehrt zu werden. Im dritten Bild schließlich sollte Luciane in ihrem höchsten Glanze erscheinen. Ihre Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken, waren über alle Begriffe schön, und die Taille, von der bei den modernen antikisierenden Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird, höchst zierlich, schlank und leicht zeigte sich an ihr in dem älteren Kostüm äußerst vorteilhaft [...]. (435)

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Abb. 3: Gerard Terborch, „Die väterliche Ermahnung“, Kupferstich von Johann Georg Wille (Ausschnitt) von 1765.

Wenn der Erzähler die Schönheit der Zöpfe, Kopfform, Hals, Nacken und Taille her- vorhebt, beschreibt er nicht die belebte Szene des Gemäldes, sondern eine attraktive Frau. Auch keiner der Zuschauer nimmt das Werk Terborchs wahr, das imitiert werden sollte, und die Kunstform Tableaux vivants verkommt darüber zur Farce. Lucianes körperliche Attribute absorbieren den moralischen Gehalt der Instruction Paternelle förmlich und zu betrachten ist die junge Frau, nicht Poussins Malerei:

Man konnte mit dem Wiederverlangen nicht endigen, und der ganz natürliche Wunsch, einem so schönen Wesen, das man genugsam von der Rückseite gesehen, auch ins Angesicht zu schauen, [...] dergestalt überhand, daß ein lustiger, ungedul- diger Vogel die Worte, die man manchmal an das Ende einer Seite zu schreiben pflegt: tournez s’il vous plaît laut ausrief und eine allgemeine Beistimmung erregte. (435)

Wie sehr die erotische Komponente die Attitüden und Lebenden Bilder dominiert, verdeutlichte 1817 auch die Gräfin, Malerin und Darstellerin Julie von Egloffstein, indem sie ihr „fühlbares Herzklopfen“ schildert, als ihr bewusst wurde, daß nun alle Blicke auf mir ruhten - ja, daß ich einzig und allein deshalb dasäße, um mich beäugeln zu lassen. All das Lob, das ich von allen Seiten aus der dunkeln Menhe draußen in meine Halle herein vernahm, die einzelnen schmeichelhaften Äußerungen, die halblaut von fürstlichen Lippen flossen, waren wahrhaftig nicht geeignet, meine Herzschläge zu mindern - im Gegenteil trieben sie mir erst recht das Blut ins Gesicht und straften die Schminke Lügen, die fingersdick mir auf den Backen lag.35

Ob vom Verfasser intendiert oder nicht, als Lebendes Bild erinnert die Instruction Paternelle im Roman vielmehr an die Bordell- als an die Familienszene. Motiv wie Resultat der Aufführung ist nicht das künstlerische, sondern das erotische Moment, das ihnen beiwohnt. Daher bleiben Kunst und Realität auch in den Wahlverwandtschaften zwei separate Welten und Lucianes Bilder unbelebt.

Zuletzt ist der rein imaginäre Charakter dieser Erotik „mittels Einbildungskraft des Bet- rachters“36 zu betonen, wodurch sich der Bogen zurück zur Parabel schlagen lässt: Pygmalion verliebt sich nicht nur in sein Elfenbeinkunstwerk, er „küßt es und vermeint wiedergeküßt zu werden, spricht es an, umarmt es und glaubt, den Druck der Finger auf den berührten Gliedern zu bemerken“37. Er behandelt die Statue bereits wie eine reale Geliebte, bevor sie durch die Göttin der Liebe, Sinnlichkeit und Schönheit zum Leben erweckt wird. Weil eben diese Intervention eines höheren Wesens im Roman fehlt und die Anwesenden mit dem Versuch, ihre Bilder selbst zu beleben, scheitern, lässt sich das Begehren dort nur imaginär erfüllen, nämlich durch den „Akt des Betrachtens“38. Selbst abseits der Bühne umgibt eine Bilderwelt die Figur der Luciane, deren Aufmerk- samkeitssucht ihr alles abverlangt, um im Mittelpunkt der Ereignisse zu stehen. Ein Bild darstellen, das ist für sie der normale Lebensumstand, wenn sie „des Tags drei viermal“ die Kleider wechselt, um dann „im wirklichen Maskenkleid, als Bäuerin und Fischerin, als Fee und Blumenmädchen“ (420 f.) vor der Gesellschaft zu erscheinen. Zudem kenn- zeichnet eine gefährliche Ambivalenz Lucianes attraktive oder destruktive Bilderwelt. So verursacht ihre „Art von Wohltätigkeit“ den nachhaltigen Zusammenbruch eines sensiblen Mädchens, weil Charlottes Tochter versucht, „ein Wunder zu tun und das Frauenzimmer der Gesellschaft wiederzugeben“, aber „die Kranke“ die sich um sie ver- sammelnde „Sozietät“ nicht ertragen kann. (440 f.) Im Allgemeinen wirkt sie auf die Schlossbesucher „wie ein brennender Kometenkern, der einen langen Schweif nach sich zieht“ (420). Ferner verweisen onomastische Aspekte auf diese in der Bilder- und Sym- bolwelt verwurzelten Ambivalenz: Luciane trägt den „verlängerten Namen“ der christli- chen Heiligen Lucia von Syrakus, die von ihrem römischen Verlobten als Christin de- nunziert wurde, weil sie aus Askese Jungfrau bleiben wollte und Kleider sowie Geld an Arme verschenkte. Zur Strafe sollte Lucia Liebesdienste in einem Bordell verrichten, was eine himmlische Intervention verhinderte. Lucia starb nach ihrem Martyrium durch das Schwert, später wurde ihr „das Patronat der Augenkranken und Blinden“ zuer- kannt.39 Sie wird zwar in der Vorweihnachtszeit am 13. Dezember verehrt, aber neben der offensichtlichen namentlichen Relation ist ihr Name vor allem über dieses Datum, das im Julianischen Kalender auf die Wintersonnenwende, die längste Nacht des Jahres, fällt, mit reichem luziferischem Brauchtum verknüpft. Lucien-Gestalten werden dementsprechend als Präfiguration Christi, als jungfräuliche Braut in weißem Kleid oder aber als satanisches Wesen dargestellt.40

Zur Schattenseite des Namens rechnet Nils Reschke mit dem Affen als Begleiter Luzi- fers ein weiteres (anti-)christliches Symbol, dem Luciane entspricht. Entsprechend seien in ihren Bildern „Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Sehen und Blindheit“41 ineinan- der verschränkt.

Lucianes Tableaux vivants bieten in diesem Kontext nicht nur einen Ausblick auf die Motive des Verbildlichens im Roman überhaupt, nämlich das erotische Begehren der im Schloss versammelten Gesellschaft, sondern deuten zudem die damit verbundenen Risi- ken an, wenn den Bildern neben der attraktiven offensichtlich eine überaus destruktive Macht innewohnt, die nachfolgend kritisch untersucht wird. Letztlich wird Luciane die Bühne dafür ihrer Stiefschwester Ottilie überlassen müssen, der wahren Meisterin der Bilder unter den Romanfiguren. Sie verkörpert nur in einen kurzen Moment die Eigen- schaften, „die bei der schweigsamen Ottilie bereits in Charakter und Gestalt angelegt sind“42. Zuvor ist aber den Prinzipien des Verbildlichens im Kontext der Schriftlichkeit und damit der Figur Eduard die volle Aufmerksamkeit zu widmen, bevor sich der Fokus auf die Landschaftsarbeiten, die vor allem Charlottes Bilderdomäne sind, richtet.

3 Schriftbilder: der Versuch, die Zeichen zu beherrschen

3.1 Schrift - Schriftbild - Bild: Briefe und das chemische Gleichnis

Ein zentrales Kommunikationsmedium im Roman sind die Briefe der Figuren, die, wie Gabriele Brandstetter feststellt, „nicht einfach als Text, sondern als komplexe Schreib- Szenen“ wirken, was die Schreiben selbst zu einer „Geste“ 43, ihr Inhalt aber zur Neben- sache werden lässt. Exemplarisch zu verdeutlichen ist dies durch den „tröstlichen Brief“ (292), den Eduard für den Hauptmann verfasst, weil er von Charlotte nach einem Streit dazu veranlasst wurde. Enttäuscht vom Unwillen seiner Frau, den sich in „traurige[r] Lage“ (287) befindlichen Freund auf das Schloss einzuladen, bemerkt Eduard: Einen solchen Brief zu versenden hieße „so viel wie keinen“ (292) zu schicken. Charlotte aber verteidigt den Brief als ein freundschaftliches Symbol: „Und doch ist es in manchen Fällen, versetze Charlotte, notwendig und freundlich lieber Nichts zu schreiben als nicht zu schreiben“ (292). Als sich das Paar später anders entscheidet, befürwortet Charlotte, obwohl ihr „Gefühl“ diesem Plan „widerspricht“ (291), „in einer Nachschrift“ (300) des zweiten Briefs an den Hauptmann dessen Besuch ausdrücklich. Weil sie aus Unsicher- heit „mit einer Art von Hast“ schreibt, verunstaltet sie „das Papier zuletzt mit einem Tintenfleck“ (301). Eduard verhindert nicht nur, dass Charlotte den Tintenklecks wieder entfernt, sondern deutet diesen in ein Zeichen der Vorfreude um, mit der der Freund „erwartet werde“ (301). Nach Brandstetter wird hier ein „Nicht-Zeichen“ zur vermeint- lich intendierten Briefinformation und dadurch „das Grundkonzept des empfindsamen Briefs und Briefwechsels“ vom „Brief-Text“ in eine „Brief-Szene“ als „Schreib-Akt“ überführt.44 Mit anderen Worten: Das Schriftbild, das Eduard wie Charlotte zusammen in mehreren Schritten - in einem „Akt“ - erschaffen, beinhaltet die eigentliche Nach- richt, aber die Schrift selbst ist als Kommunikationsmedium diskreditiert.

Indem der Schreiber ein Schriftbild kreiert, wird er faktisch zum Künstler. Konkretisiert werden die Rollen von Schriftlichkeit und Schreiber - und Leser! - in der „Gleichnisre- de“ (313) im vierten Kapitel des ersten Romanteils. Als Charlotte ihrem Mann, der ei- nen chemischen Sachtext vorliest, ins Buch blickt, weil sie das Stichwort „Verwandt- schaften“ vernommen hat, tadelt sie der Vorlesende, der „solche Unarten“ nicht dulde. (313) Charlotte, die dem „von Erden und Mineralien“ (313) handelnden Text zuvor kei- ne Aufmerksamkeit schenkte, bezieht dieses Wort auf die Verwandtschaftsverhältnisse von Menschen, weil ihre Fachkenntnisse „nicht hinreichen, den Begriff bildlich zu fül- len. Eine bildliche Seite, sei es als Vorstellung oder als Sichtbarkeit, gehört offenbar der sprachlichen Artikulation wesenhaft zu“45. Ihre Bitte an die Männer, sie „kürzlich“ zu „belehren“, löst die Gleichnisrede aus, in welcher das missverstandene „Kunst-Wort“ zu einem Startpunkt wird, von dem aus die drei Diskutierenden den Sachverhalt immer weiter verbildlichen, im Versuch, diesen Charlotte korrekt zu vermitteln (314): Der Hauptmann erklärt die chemischen Substanzen zu „Naturwesen“ mit einem „Bezug auf sich selbst“, Eduard macht „ihr und uns die Sache durch Beispiele bequem“, führt dazu „Regentropfen“, „Quecksilber“, „Öl“ und „Wasser“ an. (315) Charlotte sieht sich da- durch in ihrer Annahme bestärkt, weist darauf hin, dass alles, das „gegen sich selbst ei- nen Bezug hat, [...] auch gegen andere ein Verhältnis haben“ (315) muss, und merkt an:

Es fehlt nicht viel, sagte Charlotte, so sieht man in diesen einfachen Formen die Menschen, die man gekannt hat; besonders aber erinnert man sich dabei der Sozie- täten, in denen man lebte. Die meiste Ähnlichkeit jedoch mit diesen seelenlosen Wesen haben die Massen, die in der Welt sich einander gegenüber stellen, die Stände, die Berufsbestimmungen, der Adel und der dritte Stand, der Soldat und der Zivilist. (315 f.)

An diesem Punkt verdrehen die Freunde ihre Diskussion: Ab diesem Moment verwen- den die drei nicht mehr reale Beispiele, um sich die chemischen „Kunst-Worte“ zu er- klären, sondern sie veranschaulichen ihre Lebens- und Erfahrenswelt - die empfundene Wirklichkeit - mit Hilfe chemischer Elemente: Eduard meint, die Geschehnisse des Romans vorwegnehmend: „Die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken“. (317) Der Hauptmann belegt dies mit dem chemischen Bei- spiel des Kalksteins:

Bringt man ein Stück solchen Steines in verdünnte Schwefelsäure, so ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gyps; jene zarte luftige Säure hingegen ent- flieht. Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden und man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aussieht als wenn ein Verhältnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwählt würde. (317)

Charlotte führt den Gedanken weiter, indem sie diesen Prozess nicht mit einer Wahl, sondern mit „Naturnotwendigkeit“ (317) verbindet, der Hauptmann leitet ihn in die „Zeichensprache“ über, indem er die Buchstaben A, B, C, D verwendet. (319) Schließlich ist es aber wiederum Eduard, der die scheinbar offensichtliche Relation dieser vier Zeichen mit den Romanfiguren ausspricht, um aus der Gleichnisrede „eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch“ (319) zu ziehen:

Du stellst das A vor, und ich dein B: denn eigentlich hänge ich doch nur von dir ab und folge dir, wie dem A das B. Das C ist ganz deutlich der Capitain, der mich für diesmal dir einigermaßen entzieht. Nun ist es billig, daß wenn du nicht ins Unbe- stimmte entweichen sollst, dir für ein D gesorgt werde, und das ist ganz ohne Frage das liebenswürdige Dämchen Ottilie, gegen deren Annäherung du dich nicht länger verteidigen darfst. (319 f.)

Das Experiment mit den vier Substanzen wird nunmehr zum zentralen Motiv des Ro- mans. Mittler, der Charlotte überredet hat, den Hauptmann doch auf das Schloss einzu- laden (vgl. 298), wird zum Katalysator, der die Reaktion auslöst. Diese Experimentalsi- tuation ist wiederum die Folge davon, dass der chemische Fachtext veranschaulicht wird. Dessen Inhalt wurde aber inzwischen derart stark verbildlicht, dass er praktisch keine Rolle mehr spielt. Im Fazit bedeutet dies, dass das von Charlotte, Eduard und dem Hauptmann kreierte Bild für sich alleine steht und dadurch absolut wird - als Teil der fiktionalen Realität: Mit der „Desorganisation hergebrachter symbolischer Ordnungen“ wird der Signifikant zu einer „opaken Eigenmacht“46, die sich überdies jeder weiteren Kontrolle entzieht. Zeichen werden zu mysteriösen Entitäten mit „Sinn und Verstand“ (319), die nunmehr mit den Romanfiguren übereinstimmen. Aber diese „zur Tätigkeit innerlich immer bereiten Wesen“ (319) sind dem Experiment willenlos unterworfen. Während der Hauptmann von „Wahlverwandtschaft“ (317) spricht, betont Charlotte zu Recht die „Naturnotwendigkeit“ der neuen, offensichtlich nicht wieder auflösbaren Verbindungen:

[...] wenn von Ihren Naturkörpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in den Händen des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt. Sind sie aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott! (317)

Interessant ist, dass Charlotte, die sich in der zitierten Stelle nur auf die bildliche, che- mische Ebene zu beziehen scheint, trotzdem den das Experiment kontrollierenden Che- miker von Gott unterscheidet. Der Chemiker repräsentiert daher nicht Gott auf bildli- cher Ebene, sondern stellt eine zweite Macht dar, die nur in der Bilderwelt wirksam ist, wo „Wahlverwandtschaft“ zu einem Euphemismus wird, weil ein Gesetz die Konstella- tionen bestimmt.47 Erst wenn Eduard, Charlotte und der Hauptmann ihre Verhältnisse in eben diese Welt projizieren, verzichten sie dadurch auf jedwede Einflussnahme. Für diese künstlich kreierte Ohnmacht ist es bezeichnend, und für die vier Entitäten umso fataler, dass sich Eduards Interpretation im Nachhinein als eine seiner zahlreichen Fehlinterpretationen herausstellt, wenn zwar zwei Zweierkonstellationen entstehen, diese aber nicht den intendierten, jederzeit wieder auflösbaren entsprechen.

Zudem wirkt diese Macht ausdrücklich destruktiv: Nicht nur der Chemiker wird von Eduard als ein „Scheidekünstler“ betrachtet, der Hauptmann merkt über die Wesen an, dass sie „einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren“, wobei dieser Prozess mit der „Vernunft“ nicht zu verstehen sei. (319) Dadurch ist jeder bewusste Widerstand auf der Basis des menschlichen Intellekts im Voraus vereitelt. Die Romanfiguren werden deshalb zum Spielball dieser Kräfte, die sie durch ihren Wunsch und den Versuch, die Welt vollkommen zu veranschaulichen, um sie zu verstehen, selbst heraufbeschwören:

Für die Briefe Eduards an den Hauptmann sind dieselben Prinzipien wie für die chemi- sche Gleichnisrede feststellbar: Mit Charlottes Worten ist im ersten „Nichts“ (292) zu lesen, der Brief ist auf eine symbolische, „freundlich[e]“ Geste reduziert. Im zweiten Brief deutet Eduard Charlottes Tintenfleck, der ja ein Zeichen ihrer Nervosität ist, als ein Zeichen der Vorfreude fehl. In beiden Fällen ist der Briefinhalt nicht weiter bedeut- sam und wird daher im Unterschied zu den ausführlich zitierten Briefen aus der Pension (307, 320 ff.) vom Erzähler nicht überliefert. Eduards Nachrichten stecken im Schrift- bild - deshalb sucht er alle für ihn bestimmten Nachrichten freilich ebenso in Schriftbil- dern. Unter den drei bisher betrachteten Figuren wendet sich also besonders Eduard der Bildebene zu, wodurch die dort wirksame, mysteriöse Macht einen umso stärkeren Ein- fluss auf ihn ausübt. Alle Versuche, die Bilder- und Symbolwelt zu kontrollieren, indem er sich selbst zum Zeichen erklärt (vgl. 487), müssen in dieser Konstellation scheitern: „In den Buchstaben offenbart sich das objektive Gesetz und enthüllt die Selbsteinschät- zung der Figuren als Selbsttäuschung“.48

Die drei Freunde lassen in der Gleichnisrede, allen voran Eduard in den verschiedenen Briefen, drei Prinzipien des Verbildlichens erkennen. Erstens startet auch in diesem Fall ein Wunsch - kein geringerer als der, die Welt zu verstehen - den Prozess des Verbildlichens. Mit ihrer Anschaulichkeit ist demnach die ebenso enorme wie gefährliche Verführungskraft der Symbole zu erklären:

[...]


1 Goethe/ Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Sämtliche Werke, Münchner Ausg., Bd. 19, hrsg. von Heinz Schlaffer, München 1986, S. 572.

2 Goethe, Die Wahlverwandtschaften; in: Sämtliche Werke, Münchner Ausg., Bd. 9, hrsg. von Christoph Siegrist u. a., München 1987, S. 283-529, hier S. 410. Nachstehend im Text mit der Angabe der Seitenzahl in Klammern zitiert.

3 Goethe/ Eckermann, Gespräche mit Goethe, S. 572.

4 Vgl. Ovid, Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen. Nach der ersten deutschen Prosaübersetzung durch August von Rode, neu übersetzt u. hrsg. von Gerhard Fink, 2. Aufl., Zürich/ München 1990, S. 243-245.

5 Jooss, Birgit, Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin 1999, zugl. Münchner Dissertation 1998, S. 84 f.

6 Jooss, Lebende Bilder als Charakterbeschreibungen in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften; in: Brandstetter, Gabriele (Hrsg.), Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes Wahlverwandtschaften, Freiburg im Breisgau 2003, S. 111-136, hier S. 112.

7 Zu Diderots Theorie der Ästhetik und Kunstrezeption vgl. Borek, Johanna, Sensualismus und Sensation. Zum Verhältnis von Natur, Moral und Ästhetik in der Spätaufklärung und im Fin de Siècle, Wien 1983, S. 53-73. Vgl. zudem Kohle, Hubertus, Ut pictura poesis non erit. Denis Diderots Kunstbegriff, mit einem Exkurs zu J. B. S. Chardin, Hildesheim 1989, S. 106-121.

8 Jooss, Lebende Bilder, S. 88.

9 Ebd., S. 89.

10 Ebd.

11 Auch Goethe kritisierte Diderots Kunsttheorie: Goethe, Johann Wolfgang, Diderots Versuch über die Malerei, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausg., hrsg. von Karl Richter u. a.; Bd. 7, hrsg. von Norbert Miller u. John Neubauer, München 1991, S. 517-565. Näher untersucht wird Goethes Position hierzu in 4.2.3.

12 Vgl. Jooss, Lebende Bilder, S. 136 ff.

13 Vgl. ebd., S. 154.

14 Vgl. Friedenthal, Richard, Goethe. Sein Leben und seine Zeit, München 1965, S. 301.

15 Jooss, Lebende Bilder, S. 106.

16 Ebd.

17 Meyer, Friedrich Johann Lorenz, Lady Emma Hamilton; in: Ders., Skizzen zu einem Gemälde von Hamburg, Drittes Heft, Hamburg 1801, S. 228-252, hier S. 236; zitiert nach Jooss, Lebende Bilder, 106.

18 Goethe, Johann Wolfgang, Italienische Reise, zweiter Teil, Neapel, den 27. Mai 1787, Sämtliche Wer- ke, Münchner Ausg., Bd. 15, hrsg. von Andreas Beyer u. a., München 1992, S. 399-404, hier S. 403 f.

19 Ebd.

20 Vgl. Jooss, Lebende Bilder, S. 131 f.; zu den Nachweisen dort vgl. S. 314 ff., 349 ff., 365 ff. 4

21 Goethe, Regeln für Schauspieler, Sämtliche Werke, Münchner Ausg., Bd. 6.2, hrsg. von Victor Lange u. a., München 1988, S. 703-745, hier S. 705; vgl. ferner Frenzel, Herbert Alfred, Geschichte des Theaters, Daten und Dokumente, 1470-1890, 2., erweiterte Aufl., München 1984, S. 347-359.

22 Jooss, Lebende Bilder, S. 131.

23 Goethe an Heinrich Meyer, 9. Februar 1813; in: Goethes Briefwechsel mit Heinrich Meyer, hrsg. von Max Hecker, Bd. 2, Juni 1797 bis December 1820, Weimar 1919, S. 323 f.

24 Jooss, Lebende Bilder, S. 142.

25 Vgl. ebd., S. 177 ff. Mit den einzelnen Nachstichen befasst sich Trunz, Erich, Die Kupferstiche zu den Lebenden Bildern in den Wahlverwandtschaften; in: Ders., Weimarer Goethe-Studien, 2. Aufl., Weimar 1984, S. 203-217.

26 Vgl. Jooss, Lebende Bilder, S. 182.

27 Vgl. ebd., S. 182 f. und 213.

28 Vgl. Seiler, Bernd W., Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deut- schen Literatur seit dem 18. Jahrhundert, Sprache und Geschichte, hrsg. von Reinhart Koselleck u. a., Bd. 6, Stuttgart 1983, S. 279-285, hier S. 280 ff; vgl. zudem Jooss, Lebende Bilder, S. 183; Lebende Bilder als Charakterbeschreibungen, S. 115 f. Nils Reschke erläutert das Aufeinandertreffen einer erotischen und einer bürgerlichen Komponente durch diese zweifache Interpretation: vgl. Reschke, Nils, Die Wirklich- keit als Bild. Die Tableaux vivants der Wahlverwandtschaften; in: Brandstetter, Erzählen und Wissen, S. 137-167, hier S. 150 f. Wolf Kittler unterstellt dieses Bild dem Inzesttabu: vgl. Kittler, Wolf, Goethes Wahlverwandtschaften: Sociale Verhältnisse symbolisch dargestellt; in: Bolz, Norbert (Hrsg.), Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, Hildesheim 1981, S. 230-259, hier S. 244 f. Dagegen wies schon 1944 der Kunsthistoriker Eduard Plietzsch darauf hin, dass Terboch keine moralischen Absichten ausdrücken wolle, sondern seine Bilder stets neutral betitelt habe. Erst später sei versucht worden, das Gemälde literarisch auszudeuten, zum Beispiel als Instruction Pater- nelle durch Johann Georg Wille: vgl. Plietzsch, Eduard, Gerard ter Borch, mit 112 Abbildungen und 2 Farbtafeln, Wien 1944, S.28 f. H. G. Barnes übernahm diese Ansicht in die Literaturwissenschaft: vgl. Barnes, H. G., Bildhafte Darstellung in den Wahlverwandtschaften (mit 1 Abbildung); in: DVjs 30, 1956, S. 41-70, hier S. 19, Anm. 57.

29 Seiler, S. 283.

30 Vgl. Jooss, Lebende Bilder als Charakterbeschreibungen, S. 130. 6

31 Vgl. Seiler, S. 280 und Jooss, Lebende Bilder, S. 207.

32 Fried, Michael, Malerei und Betrachter. Jacques Louis Davids Blinder Belisarius; in: Kemp, Wolfgang (Hrsg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft, Berlin/ Hamburg 1992, S. 208-236, hier S. 216. Vgl. zudem Lennartz, Rita, „Von Angesicht zu Angesicht“. Lebende Bilder und tote Buchstaben in Goe- thes Die Wahlverwandtschaften; in: Schneider, Helmut J. (Hrsg.) u. a., Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne, Bielefeld 2001, S. 145-183, hier S. 149.

33 Vgl. Jooss, Lebende Bilder, S. 143.

34 Vgl. Goethes Reisebericht vom 27. Mai 1787, 2.1.

35 Zitiert nach Jooss, Lebende Bilder, S. 143.

36 Ebd., S. 91.

37 Ovid, Metamorphosen, S. 244.

38 Fried, 214; Brandstädter, Heike E., Der Einfall des Bildes. Ottilie in den Wahlverwandtschaften, Würzburg 2000, S. 187.

39 Reschke, Das Kreuz mit der Anschaulichkeit - Anschauung über/s Kreuz. Die Lebenden Bilder in den Wahlverwandtschaften; in: Schneider, Bildersturm und Bilderflut um 1800, S. 113-143, hier S. 133. Zur Heiligenvita der Lucia von Syrakus vgl. Art. Lucia, hl.; in: Kasper, Walter u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 3., völlig neu bearbeitete Aufl., Bd. 6, Freiburg 1997, Sp. 1081 f.

40 Reschke, Das Kreuz mit der Anschaulichkeit, S. 133.

41 Ebd., S. 133 ff.

42 Jooss, Lebende Bilder, S. 228.

43 Brandstetter, Gabriele, Gesten des Verfehlens. Epistolographische Aporien in Goethes Wahlverwandtschaften; in: Dies., Erzählen und Wissen. S. 41-63, hier S. 52.

44 Ebd., S. 52 f.

45 Brandstädter, Der Einfall des Bildes, S. 43.

46 Wellbery, David E., Die Wahlverwandtschaften; in: Lützeler, Paul Michael und McLeod, James E. (Hrsg.), Goethes Erzählwerk. Interpretationen, Stuttgart 1985, S 291-318, hier S. 300 f. Um Wellberys zentraler These zur Bildlichkeit der Wahlverwandtschaften wird sich das 4.2.1 drehen.

47 Vgl. Schlaffer, Heinz, Namen und Buchstaben in Goethes Wahlverwandtschaften; in: Bolz, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 211-229, hier S. 213.

48 Schlaffer, S. 215.

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
"Malen" und "Leben" - Bilderwelten als Realitätsersatz in den "Wahlverwandtschaften"
Hochschule
Universität Mannheim  (Seminar für Deutsche Philologie, Neuere Germanistik II)
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
85
Katalognummer
V181054
ISBN (eBook)
9783656041115
ISBN (Buch)
9783656041375
Dateigröße
8542 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit widmet sich der Bildhaftigkeit von Goethes Roman in allen Facetten. Behandelt werden... - die "Lebenden Bilder" als Gesellschaftsspiel - die "Schriftbilder" der Romanfiguren - die Ästhetisierung der Landschaft - Ottilies Selbstinszenierung als Heilige - die Symbolik des Romans unter besonderer Berücksichtigung der Wassermühle. Die Arbeit thematisiert diese Bilderwelten in ihrer Ersatzfunktion für die unerfüllbaren oder unerfüllt gebliebenen Wünsche und Bedürfnisse der Romanfiguren.
Schlagworte
Goethe, Wahlverwandtschaften, Lebende Bilder, Eduard, Ottilie, Hauptmann, Charlotte, Bilder, Mühle, Sehnsucht, Tod, Melancholie, Kapelle, Kirchhof, Wasser, Metaphorik
Arbeit zitieren
Andreas Schlindwein (Autor:in), 2010, "Malen" und "Leben" - Bilderwelten als Realitätsersatz in den "Wahlverwandtschaften", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/181054

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