Leseprobe
Dieses Essay beschäftigt sich mit der Rolle der deduktiv-nomologischen Erklärung in der Rational Choice Theorie in der Auslegung Hartmut Essers1. Um diese Fragestellung hinreichend genau zu bearbeiten, bedarf es einer Einführung in die Thematik und einer präzisen Definition der verwendeten Begrifflichkeiten, welche im Folgenden dargelegt wird.
Die Rational Choice Theorie (dt.: Theorie der rationalen Entscheidung) ist eine Handlungstheorie, welche dem Akteur rationales Handeln im Sinne individueller Nutzenmaximierug zuschreibt und sich dem methodologischen Individualismus verpflichtet, also versucht, von der Mikroebene ausgehend soziale Prozesse auf der Makroebene zu erklären. Im Gegensatz zur idealtypischen ökonomischen Modellvorstellung des rein zweckrationalen, vollständig informierten, egoistischen Homo Oeconomicus2 (dt.: Der Wirtschaftsmensch) beziehungsweise zum idealtypischen soziologischen Modell des Homo Sociologicus 3 (dt.: Der soziologische Mensch), welches dem handelnden Subjekt vollkommene Abhängigkeit von gesellschaftlichen Rollenerwartungen, Normen und sozialen Sanktionen unterstellt, berücksichtigt Hartmut Esser in seiner Auslegung die conditio humana im Sinne des Resourceful- Restricted-Evaluating-Expecting-Maximizing-Man-Modells (kurz RREEMM-Modell). Dieses Modell ergänzt die idealtypischen Annahmen des Homo-Oeconomicus- und des Homo-Sociologicus-Modells bezüglich des Akteurs (Man), um die natürlichen Handlungsrestriktionen des Menschen (Restricted), die Fähigkeit zur intelligenten Nutzung gegebener Handlungsresourcen (Resourceful), dem Unterliegen subjektiver Situationseinschätzungen (Expecting), die Fähigkeit zur Abwägung verschiedener Handlungsoptionen (Evaluating) und schreibt dem Menschen Gesamtnutzen- maximierendes Handeln (Maximizing) zu.4
Das deduktiv-nomologische Modell beschreibt eine formalisierte Struktur der wissenschaftlichen Erklärung eines kausalen Zusammenhangs, welche von den deutschen Philosophen Carl Gustav Hempel und Paul Oppenheim 1948 in ihrem gemeinsamen Aufsatz "Studies in the Logic of Explanation"5 vorgeschlagen wurde und daher in der Literatur oft auch als Hempel-Oppenheim-Schema bezeichnet wird. Nach dem deduktiv-nomologischem Modell wird die Frage "Why does the phenomenon happen?"6 interpretiert als Frage "according to what general laws, and by virtue of what antecedent conditions does the phenomenon occur?"7. Daraus leitet sich folgendes allgemeines Schema zur Erklärung eines Sachverhalts ab:
Eine deduktiv-nomologische Erklärung ist ein logisch korrektes Argumentum a posteriori 8 , welches aus einem Explanas9 (die Faktoren, welche das Ereignis erklären), welches wiederum in allgemeine Gesetzmäßigkeiten und Randbedingungen aufzuschlüsseln ist und einem daraus folgendem Explanandum 10 (das zu erklärende Ereignis) besteht.11 Demnach ist folgende Argumentation eine methodisch korrekte deduktiv-nomologische Erklärung: „Wenn eine Person raucht, wird sie einen Herzinfarkt erleiden (Explanas, Gesetz). Da Person X raucht (Explanas, Randbedingung), wird sie auch einen Herzinfarkt erleiden (Explanandum).“12
[...]
1 Hartmut Esser, geboren am 21.12.1943 in Elend/Harz ist Professor für Soziologie an der Universität Mannheim und gilt als Vorreiter auf dem Gebiet mikrofundierter Methodologie in den Sozialwissenschaften.
2 Vgl. dazu Hirshleifer, Jack/Glazer, Amihai/Hirshleifer, David: Price Theory and Applications. 7. Aufl., Cambridge: Cambridge University Press, 2005, Kapitel 3.
3 Vgl. dazu Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. 16. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006.
4 Vgl. Esser, Hartmut: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 1999, S. 237-239.
5 Hempel, Carl G./Oppenheim, Paul (1948): Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science. 1948:15, S. 135-175.
6 In etwa: „ Warum tritt das Phänomen auf? “ Hempel/Oppenheim: S. 136.
7 In etwa: „ Aufgrund welcher allgemeingültigen Gesetze und aufgrund welcher Vorbedingungen tritt das Phänomen auf? “ ebd.
8 Vergleiche dazu Kirchners Begriffsdefinition in: Kirchner, Friedrich bearb. von Michaëlis, Carl: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe. 5. Aufl, Lepzig: Verlag der Dürr'schen Buchhandlung 1907.
9 Partizip Präsens Aktiv von lat. explanare „auslegen, erklären, deuten“. Also: Das erklärende.
10 Gerundivum neutrum von lat. explanare „auslegen, erklären, deuten“. Also: Das zu erklärende.
11 Vgl. Hempel/Oppenheim: S. 136-138. Insbesondere auch die schematische Darstellung einer deduktiv-nomologischen Erklärung auf S. 137.
12 Vgl. Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang: Internet-Lexikon der Methoden der empirischen Sozialforschung. http://www.lrz.de/~wlm/ilm_d15.htm (30.06.2011).