Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung und Ziele der Arbeit
2 Definition des Begriffs Synchronisation
3 Synchronisation in Deutschland: früher und heute
4 Synchronisationsprozess
5 Allgemeine Merkmale der Synchronisation
5.1 Lippensynchronität
5.1.1 Qualitative Lippensynchronität
5.1.2 Quantitative Lippensynchronität
5.2 Paralinguistische Synchronität
6 Linguistische Aspekte der Synchronisation
6.1 Die Standardsprache
6.2 Der Varietätenraum
6.2.1 Diatopik
6.2.2 Diastratik
6.2.3 Diaphasik
6.3 Die Einordnung des Chti im Varietätenraum Frankreich
6.3.1 Syntopische Einordnung
6.3.2 Synstratische Einordnung
6.3.3 Symphasische Einordnung
6.4 Der Varietätenraum in Deutschland
7 Filmübersetzung als kultureller Transfer
7.1 Realien
7.2 Toponyme
7.3 Nachnamen
8 Synchronisationsanalyse des Films Bienvenue chez les Ch'tis
8.1 Analyse der synchrontechnischen Ebene
8.1.1 Lippensynchronität
8.1.2 Paralinguistische Synchronität
9 Analyse der Übersetzung des Films Bienvenue chez les Ch'tis
9.1 Inhalt des Films
9.2 Die Rolle der Standardsprache
9.3 Übertragung der Diatopik
9.4 Übertragung der Diastratik
9.5 Übertragung der Diaphasik
9.6 Übertragung der kulturspezifischen Elemente
9.6.1 Realien
9.6.2 Toponyme
9.6.3 Nachnamen
10 Schlussbemerkung
11 Bibliographie
1 Einleitung und Ziele der Arbeit
„Quand y a un étranger qui vient vivre dans ch'Nord, il brait deux fois: quand il arrive et quand il repart“ (Bienvenue chez les Ch'tis, Bobine 3, N° S/T 326f.). Diese Redewendung aus dem französischen Film Bienvenue chez les Ch'tis des Regisseurs und Hauptdarstellers Dany Boon weist auf die Besonderheiten der Kultur und der Sprache der Chtis hin und gibt eine erste Vorstellung von den eventuell auftretenden Problemen, die bei der Übersetzung des Films auftreten können.1 Was bedeutet braire? Warum ch'Nord? Und was geschieht mit einem Fremden, wenn er im Norden ankommt und wenn er wieder geht? Diese Fragen stellten sich nicht nur die Übersetzerin Tanja Frank und die Synchronregisseurin Beate Klöckner, sondern auch Franzosen, denn das Chti versteht selbst das übrige Frankreich kaum. Darüber hinaus werden die nördlichste Region Frankreichs, der Nord-Pas-de-Calais, und seine Bewohner, die Chtis, in Frankreich kaum wahrgenommen. Doch seit dem bahnbrechenden Erfolg der herzlichen Parodie auf die Sprache und die Kultur der Chtis, der sogar mehr Zuschauer in die französischen Kinos lockte, als der bis dahin erfolgreichste französische Film La grande vadrouille (1966) mit Louis de Funès und der weltweit erfolgreichste Film Titanic (1998), erlebt der Norden einen wahren Aufschwung. Die Touristenzahlen stiegen schlagartig und die Region und ihre Bewohner werden auf einmal als sympathisch und herzlich empfunden.2
An dieser Stelle kommen wir auf das Zitat vom Anfang zurück. Was heißt das nun? 'Lässt sich ein Fremder im Norden nieder, weint er zwei mal: wenn er ankommt und wenn er wieder geht.' Ein Franzose, der womöglich aus Südfrankreich stammt und in die Region Nord-Pas-de-Calais zieht, wird auf den ersten Blick den Eindruck haben, alles dort sei rau: das Klima, die Menschen, die Sprache. Lebt er sich jedoch ein, akzeptiert das Wetter, genießt den Wind beim Volkssport Strandsegeln, lernt die herzlichen und gastfreundlichen Bewohner kennen und gewöhnt sich an den Charme der Sprache, so möchte er eigentlich nicht mehr gehen, denn er merkt: der Norden ist alles andere als rau.
Für die Übersetzerin Tanja Frank und die Synchronregisseurin Beate Klöckner bestand nun die Schwierigkeit, diese Aspekte im Deutschen zu vermitteln. Allen voran war die Übertragung der Lautung und des Wortschatzes des Chti und die sich daraus ergebenden Sprachspiele und Missverständnisse die schwierigste Hürde, die es zu überwinden galt. Doch auch die Übertragung der assoziativen Bedeutungen der Sprache und der Konnotationen der kulturspezifischen Elemente stellten eine Herausforderung bei der Übersetzung des Films dar. Und letztendlich musste die Übersetzung noch den Anforderungen der technischen Vorgaben der Synchronisation genügen.
Das Ziel dieser Arbeit besteht darin herauszufinden, ob und in wieweit die deutsche Synchronfassung Willkommen bei den Sch'tis dem französischen Original hinsichtlich Sprache, Lippensynchronität und Übertragung der kulturspezifischen Elemente gerecht wird. Um dies herauszufinden, werden in einem theoretischen Teil die Filmsynchronisation allgemein charakterisiert und die synchrontechnischen Probleme der Lippensynchronität aufgezeigt. Anschließend wird der Varietätenraum nach Coseriu explizit dargestellt, um das Chti in das Diasystem der Varietäten einzuordnen. Daraufhin werden die im Film erwähnten kulturspezifischen Besonderheiten analysiert. Diese theoretischen Grundlagen dienen dem anschließenden Vergleich des französischen Originals mit der deutschen Synchronfassung hinsichtlich der Lippensynchronität und der besonderen Merkmale der Sprache und der Kultur der Chtis. Der Vergleich soll die Vorgehensweise beim Übersetzen herausstellen und aufzeigen, ob die Übersetzung dem französischen Original Rechnung tragen kann.
2 Definition des Begriffs Synchronisation
Der Begriff Synchronisation ist abgeleitet von dem griechischen Wort 'synchron', das sich aus s n 'zugleich' und chrónos, 'Zeit' zusammensetzt.3 Im Duden wird die Synchronisation folgendermaßen definiert:
„1.(bes. Film) a) Bild u. Ton in zeitliche Übereinstimmung bringen; b) zu den Bildern eines fremdsprachigen Films, Fernsehspiels die entsprechenden Worte der eigenen Sprache sprechen, die so aufgenommen werden, dass die Lippenbewegungen der Schauspieler (im Film) in etwa mit den gesprochenen Worten übereinstimmen: einen Film s.; die synchronisierte Fassung eines Films.“ (Internetquelle 2 ± Duden (2009) ± Deutsches Universalwörterbuch, Online)
Diese Definition zeigt, dass es sich bei der Synchronisation um einen technischen Prozess handelt. Sie verweist auf die Notwendigkeit der Lippensynchronität (siehe Punkt 5.1), ohne jedoch näher auf andere Kriterien der Synchronisation einzugehen. Die eigentliche Arbeit der Übersetzung, die hinter dem Prozess der Synchronisation steht und ohne die eine Synchronisation gar nicht erst möglich wäre, wird nicht erwähnt. Die anschließenden Erläuterungen zur Synchronisation dienen dem anstehenden Vergleich auf synchrontechnischer Ebene (siehe Punkt 8) der französischen Originalfassung des Films Bienvenue chez les Ch'tis mit seiner deutschen Synchronisation Willkommen bei den Sch'tis.
3 Synchronisation in Deutschland: früher und heute
Um zu verstehen, wieso Deutschland heute neben Frankreich, Italien, Spanien und den spanischsprachigen Ländern Lateinamerikas zu den typischen Synchronisationsländern zählt, ist es hilfreich, einen Blick auf die Geschichte der Synchronisation zu werfen.4
Wesentlich für die Entwicklung der Synchronisation war der Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm am Anfang des 20. Jahrhunderts.5 Der Tonfilm hatte anfangs einen schweren Stand bei Produzenten und Publikum, da er ausschließlich in der Originalsprache gezeigt wurde. Es gab mehrere Verfahren zur Überwindung der Sprachbarriere, etabliert haben sich aber in Deutschland seit den 30er Jahren nur die Untertitelung und die Synchronisation. In der Nachkriegszeit wurden Filme als Umerziehungsmittel verwendet und dementsprechend wurden viele Filme synchronisiert.6 Die Beachtung der Lippensynchronität spielte schon zu dieser Zeit eine Rolle. Die Übertragung kulturspezifischer Elemente wurde, im Gegensatz zu heute, nicht angestrebt, sondern alles wurde eingedeutscht.7 Zu diesem Zwecke konnte nur die Synchronisation verwendet werden. Seit den 60er Jahren ist die kostengünstigere Untertitelung, bei der der Zuschauer den Originalton hört und eine ein- bis zweizeilige Übersetzung auf der Leinwand liest, weniger beliebt. Selten sieht man auch voice over Fassungen, bei der die Übersetzung von ein oder zwei Sprechern vorgelesen wird und der Originalton noch leise im Hintergrund zu hören ist. Diese Übertragungsart findet sich in Deutschland z.B. in Interviews. Zu den seltenen Übertragungsarten gehört auch die Simultanverdolmetschung, bei der ein Dolmetscher einen Film, der nur einmal gezeigt wird und den er bereits gesehen hat, simultan verdolmetscht.8
Im vorliegenden Fall soll nur auf die Synchronisation des Films Bienvenue chez les Ch'tis eingegangen werden.
4 Synchronisationsprozess
An dieser Stelle sind einige Vorabbemerkungen angebracht, die den Prozess der Synchronisation in Deutschland und die damit verbundenen Bearbeitungsphasen des Originaldialogtextes näher erklären. Denn gerade der Prozess der Synchronisation hat einen erheblichen Einfluss auf die Rohübersetzung und damit auf die endgültige Sendeversion.9
Der Übersetzungsprozess ist hierzulande üblicherweise zweigeteilt. Zunächst wird bei der intralingualen Adaption auf der Basis der Originaldialogliste eine Rohübersetzung erstellt.10 Dem Rohübersetzer liegt hierbei als Arbeitsgrundlage in der Regel nur eine continuity, d.h. die fremdsprachige Dialogliste und nicht der Film vor. Folglich muss er gesprochene Sprache auf der Basis geschriebener Sprache umsetzen, wobei ihm zusätzlich - ohne den Film als Übersetzungsgrundlage - wichtige Informationen über sprachliche und paralinguistische Elemente, wie Mimik und Gestik, die in der continuity nur selten erwähnt werden, vorenthalten werden.11 Darüber hinaus sind die Veränderungen, die während der Dreharbeiten vorgenommen wurden, nicht in der continuity enthalten.12 Durch die Zweiteilung des Übersetzungsprozesses in Rohübersetzung und Synchronübersetzung und aufgrund der Tatsache, dass sich der Rohübersetzer hauptsächlich nur an den continuities orientieren kann, entstehen sehr wörtliche und in einigen Fällen sogar Wort-für-Wort- Übersetzungen, die häufig gegen die Äquivalenzkriterien verstoßen und zu Übersetzungsfehlern führen, die sich schließlich negativ auf den endgültigen Synchrontext auswirken können.13 Da die Synchronisation eine Sonderform des Übersetzens darstellt, muss eine gute Übersetzung nicht in jeder Hinsicht die Kriterien der Äquivalenz erfüllen, sondern auch anderen Anforderungen wie der Synchronität genügen.14 Es ist evident, dass Rohübersetzer, aus Mangel an für die Übersetzung wichtigen Materials, dem nicht gerecht werden und keine qualitativ gute Arbeit liefern können. Von ihnen wird daher lediglich eine möglichst wortgetreue Rohübersetzung verlangt, die dem Synchronübersetzer als Basis für den zweiten Teil des Übersetzungsprozesses, der Synchronübersetzung, dient.
Bei dieser intralingualen Adaption arbeitet der Synchronübersetzer unter Einbeziehung des Filmmaterials die Rohübersetzung gemäß den Erfordernissen der Synchronisation und der Lippensynchronität in Dialogtexte um und erstellt die Synchronübersetzung, die anschließend den Synchronsprechern in Form eines Synchronbuchs vorliegt.15 Das Synchronbuch wiederum ist die Grundlage für die Aufnahme der einzelnen takes. Diese sind kleine Filmabschnitte, die ungefähr zwei oder drei Sätze umfassen.16 Spielfilme werden in ca. 300 bis 400 takes zerlegt und in zwei bis fünf Meter lange Schleifen zusammengeklebt, die dann im Synchronstudio wiederholt abgespielt werden können.17 Die 10 bis 25 Sekunden langen takes werden den Synchronsprechern vorgeführt, die den Text synchron zum Film sprechen. Zur Kosteneinsparung werden die takes meist nicht in chronologischer Reihenfolge aufgenommen.18 Während der Aufnahme im Synchronstudio kann der Synchronregisseur noch weitere Veränderungen an der Synchronübersetzung vornehmen, um beispielsweise der Lippensynchronität (siehe Punkt 5) und der Bedeutungsäquivalenz gerecht zu werden, den Sprechstil der Figuren anzugleichen und die Lautqualität zu sichern.19 Die Endversion, also der übersetzte Film, heißt laut Herbst Sendeversion.20
5 Allgemeine Merkmale der Synchronisation
Im Synchronstudio wird die Sendeversion der übersetzten Texte von Synchronsprechern oder Schauspielern aufgenommen und in das Videosignal gemischt. Abhängig von Land und Synchronstudio geht dieser Prozess unterschiedlich vonstatten. Die davon unabhängigen Parameter Lippensynchronität und paralinguistische Synchronität sollen im Folgenden konkretisiert werden.21
5.1 Lippensynchronität
Ziel der Synchronisation eines Films ist es, eine möglichst genaue Lippensynchronität zu erreichen, um beim Zuschauer die Illusion zu wahren, er würde ein Original sehen. Dabei ist festzuhalten, dass Lippensynchronität nur in bestimmen Fällen angestrebt werden muss, was im Folgenden erläutert werden soll.
5.1.1 Qualitative Lippensynchronität
Qualitative Lippensynchronität ist gegeben, wenn „die Artikulation bestimmter Laute […] des Originalfilms im Synchrontext Entsprechungen“ (Herbst 1994: 32) hat. Es müssen demnach die Lippen- und Kieferbewegungen zum Synchrontext passen. Die zeitliche Dauer ist hierbei vorerst nicht entscheidend. Die qualitative Lippensynchronität ist in so genannten Off-Passagen, in denen der Sprecher nicht im Bild oder nur von hinten zu sehen ist, unerheblich. In On-Passagen dagegen ist die qualitative Lippensynchronität jedoch maßgeblich, wenn der Sprecher in Großaufnahme gezeigt wird und die Kiefer-und Lippenbewegungen deutlich zu sehen sind. Ist der Sprecher nur von der Seite zu sehen oder kann man nur erkennen, dass Lippen bewegt werden, muss nur die quantitative Lippensynchronität (siehe Punkt 5.1.2) beachtet werden. Die Lippensynchronität ist also nur in bestimmten Passagen von Bedeutung, deren Zahl von Film zu Film variiert.22
5.1.2 Quantitative Lippensynchronität
Abweichungen bei der quantitativen Lippensynchronität sind häufig auffälliger. Deshalb ist in On-Passagen zu beachten, dass der Synchrontext zeitgleich mit Beginn und Ende der Lippenbewegung anfängt bzw. endet. Da die Länge von Originalton und Synchronton in den meisten Fällen nicht übereinstimmen, werden Passagen, in denen der Sprecher nicht bzw. nur von hinten zu sehen ist oder Sprechpausen genutzt, um Spielraum bei der Synchronisation zu schaffen.23 Zudem hängt die Sprechgeschwindigkeit mit der quantitativen Lippensynchronität zusammen. Hierbei sind auch kulturell bedingte Besonderheiten zu beachten, wie z.B. dass im Deutschen zu langsames Sprechen mit Gelassenheit oder Desinteresse in Verbindung gebracht werden kann, wohingegen zu schnelles Sprechen Eile ausdrückt.24
5.2 Paralinguistische Synchronität
Die qualitative Lippensynchronität hängt vor allem mit der Gestensynchronität, einem Typ der paralinguistischen Synchronität, zusammen. Hierzu gehören alle kinetischen Elemente einer Äußerung, die mit der gesprochenen Sprache in Verbindung stehen. Zu ihnen zählen Kopf- und Handbewegungen oder z.B. das Hochziehen der Augenbrauen. Gesten fallen in der Regel mit einer betonten Silbe zusammen, denn es ist kaum möglich eine Silbe zu betonen, ohne die Augenbrauen hochzuziehen. Dementsprechend hat dies Einfluss auf den Grad der Mundöffnung und die Ausgeprägtheit der Lippenbewegung. Bei der Synchronisation soll diese paralinguistische Synchronität möglichst beibehalten werden, damit die Geste in der Zielsprache ebenso motiviert ist, wie im Originalfilm.25
Nach der Beschreibung der technischen Vorgaben der Synchronisation wird im folgenden Abschnitt auf die sprachlichen Aspekte eingegangen.
6 Linguistische Aspekte der Synchronisation
Im Allgemeinen wird fast ausnahmslos in die Standardsprache synchronisiert.26 Die Synchronisation des Films Bienvenue chez les Ch'tis stellt somit also eine Ausnahme dar. In der französischen Originalfassung wird Sprache thematisiert und es wird mit den Besonderheiten des nordfranzösischen parler Chti gespielt, der im Deutschen durch eine „künstlich geschaffene […] Sprache“ (Internetquelle 2 ± Duden (2009) ± Deutsches Universalwörterbuch, Online), einer so genannten Kunstsprache oder auch Kunstdialekt zum Ausdruck kommt.
Im Folgenden wird die Standardsprache allgemein und im speziellen in Bezug auf die historische Sprache Französisch beschrieben. Um das parler Chti zu charakterisieren, wird das Varietätensystem nach Coseriu erläutert und das Chti in dieses Diasystem der Varietäten eingeordnet, wobei die Theorie und Terminologie Coserius und der Autoren, die seine Theorie weiterverfolgen, als Grundlage dienen.27
6.1 Die Standardsprache
Coseriu definiert die Standardsprache als exemplarische Sprache, die sich aus der Gemeinsprache, die entsteht, wenn ein Dialekt, über die ganze Gemeinschaft erhoben wird, herausgebildet hat. Die Standardsprache entsteht durch die Normierung der Gemeinsprache und gilt für die gesamte Gemeinschaft einer Sprache.28 Sie wird auch als Hochsprache bezeichnet und zeichnet sich durch ihre Überregionalität und überdachende Funktion aus. Die ihr zugrunde liegende Gemeinsprache dient als überregionale Verkehrssprache und ihre Beherrschung ist Voraussetzung für den sozialen Aufstieg.29 Schreiber konstatiert, dass die offizielle, präskriptive Norm, auf der die Standardsprache basiert, sich bereits als ausreichendes Kriterium zu ihrer Charakterisierung erweist.30 Coseriu hingegen differenziert nicht zwischen präskriptiver und deskriptiver Norm. Der Normbegriff beinhaltet bei ihm vielmehr „all das, was in der einen oder anderen funktionellen Sprache entsprechenden Rede traditionell, allgemein und beständig, wenn auch nicht notwendig funktionell ist, nämlich alles, was man 'so und nicht anders' sagt“ (Coseriu 1992: 297). Demnach ist, laut Coseriu, die Norm die normale Realisierung einer Sprachform in Abgrenzung zur Rede und zum System. Alles, was unterhalb der Norm liegt, wird als Substandard bezeichnet.31
Die französische Standardsprache ist durch einen Normierungsprozess entstanden, bei dem die Varietät der Île-de-France, das Franzische, ein primärer Dialekt neben anderen primären Dialekten, wie dem Picardischen, Normannischen etc., zur Gemeinsprache erhoben wurde und die anderen Varietäten überdachte. Dieser Prozess geht bereits auf das Mittelalter zurück, wurde aber erst im Jahr 1634 durch die Academie française institutionalisiert. Sie ist für die Festlegung der Standardsprache, dem so genannten bon usage verantwortlich, der zum Leitbild für den korrekten Sprachgebrauch wurde und somit die Zurückdrängung der primären Dialekte vom Zentrum in die äußeren Bereiche Frankreichs bewirkte, wo sie auch heute nur noch in den äußersten Randgebieten gesprochen werden. Das Standardfranzösische wird in der Schule gelehrt und durch öffentliche Medien und Institutionen vermittelt.32 Im Großteil Frankreichs wird die französische Gemeinsprache, das français commun, verwendet, das sich heute nicht mehr durch geographische Kriterien bestimmen lässt, sondern durch diaphasische und diastratische Faktoren bedingt ist.33 Die Standardsprache im Allgemeinen kann diatopische, diastratische und diaphasische Verschiedenheit aufweisen, z.B. wenn eine Gemeinsprache als Sprache in verschiedenen Ländern gesprochen wird. Das Standardfranzösische in Frankreich ist aber weitgehend unmarkiert.34
6.2 Der Varietätenraum
Um Sprache im Sinne von „beim sprachlichen Handeln realisierbares Isoglossensystem“ (Coseriu 1988a: 18) im Varietätenraum einzuordnen, gliedert Coseriu jenen in drei Dimensionen. Diese entsprechen den inneren Varietäten einer historischen Sprache bzw. Einzelsprache. Dies ist eine Sprache, „die sich als ideale Einheit herausgebildet hat und von ihren sowie den Sprechern anderer Sprachen als solche identifiziert wird, und zwar im Allgemeinen durch ein 'eigenes' Adjektiv“ (Coseriu 1992: 280), z.B. die französische Sprache. Sie wird nicht gesprochen, sondern durch die funktionelle Sprache umgesetzt, d.h. es ist nicht möglich beim Sprechen die gesamte französische Sprache zu realisieren, sondern nur eine ihrer Varietäten, wobei an mehreren Punkten des Sprechens verschiedene funktionelle Sprachen realisiert werden können.35
Die historische Sprache ist gekennzeichnet durch innere Varietäten, nämlich diatopische, (unterschiedliche Dialekte), diastratische, (unterschiedliche Niveaus) und diaphasische (unterschiedliche Sprachstile). Den drei Typen der Verschiedenheit stehen drei Arten der Einheit gegenüber, d.h. einheitliche sprachliche Systeme innerhalb der historischen Sprache. Einheiten, die an einem Punkt im Raum betrachtet werden und keine durch den Raum bedingten Unterschiede aufweisen, nennen sich syntopische Einheiten oder auch Dialekt. Der Begriff der Syntopik kann für alle regionalen Varietäten einer historischen Sprache verwendet werden, auch für die Hochsprache. Einheiten, die nur in einer soziokulturellen Schicht betrachtet werden, nennen sich Sprachniveau oder synstratische Einheiten. Einheiten der Ausdrucksweise, die keine diaphasischen Unterschiede aufweisen, werden als symphasische Einheiten oder Sprachstil bezeichnet.36 Eine syntopische Einheit ist zwar nicht räumlich differenziert, kann aber Unterschiede in Niveau und Stil aufweisen sowie jedes Niveau diatopisch und diaphasisch unterschiedlich und jeder Stil diatopisch und diastratisch verschieden sein kann.37 Diese Varietätenkette kann nur in dieser Reihenfolge (Dialekt → Niveau → Sprachstil) funktionieren und nicht umgekehrt. Die drei Dimensionen der Variation werden im Folgenden explizit dargestellt.
6.2.1 Diatopik
Innerhalb einer historischen Sprache gibt es Unterschiede in geographischer Hinsicht, die diatopischen Varietäten. Es handelt sich dabei um Dialekte mit einem vollständigen phonetischen, grammatikalischen und lexikalischen System, die in ihrem Wesen mit der Sprache gleichzusetzen sind. Hinsichtlich seines Status ist der Dialekt einer Sprache untergeordnet und wird von einer historischen Sprache umfasst. Die Gemeinsprache ist dabei selbst ein Dialekt. Folglich ist der Dialekt eine Varietät der Sprache, der sich wiederum in Varietäten aufspalten kann.38 Bezieht man sich auf Einheiten, die nur einen bestimmten Ort betreffen, spricht man von syntopischen Einheiten.
Coseriu teilt die Dialekte in primäre, sekundäre und tertiäre Dialekte ein. Primäre Dialekte sind die ältesten Dialekte einer Gemeinsprache und stellen die Grundlage dieser dar. In der historischen Sprache Französisch sind dies das Picardische, das Normannische etc. Durch die Kolonialisierung gelangten die primären Dialekte nach Übersee und entwickelten sich dort durch diatopische Variation der Gemeinsprache zu sekundären Dialekten, z.B. das québécois. Unter tertiären Dialekten versteht man die regionalen Varianten der Gemeinsprache, die die Standardsprache durchgesetzt hat, die sogenannten français régionaux.39 Die français régionaux entstanden, als die Sprecher der primären Dialekte zum französischen Standard übergingen, wodurch sich neue diatopische Varietäten auf der Basis des französischen Standards entwickelten. In Paris und Umgebung gibt es heute keine bzw. kaum diatopische Markierungen.40 Im übrigen Frankreich finden sich derartige Varietäten in Form von lokalen Sonderfärbungen, den so genannten parlers, als schwindende Reste alter Dialekte ('dialectes', z.B. das Picardische) und als langues régionales (z.B. Bretonisch). An dieser Stelle soll Coserius Ansatz um die Einteilung der diatopisch markierten Varietäten von Müller erweitert werden, der die dialectes, parlers und langues régionales hierarchisch eine Ebene unter die français régionaux stellt.41 Damit zählt das Chti zu den parlers, d.h. es handelt sich um eine lokale Sprache, die älter als die français régionaux und durch die Überlagerung des Picardischen durch die Gemeinsprache entstanden ist.42
6.2.2 Diastratik
Die Unterschiede zwischen den soziokulturellen Schichten einer Sprachgemeinschaft werden diastratische Varietäten genannt. Bezieht man sich nur auf eine synstratische Einheit, spricht man von Sprachniveau. Dazu gehört zum Beispiel die gehobene Sprache, die Sprache der Mittelschicht, die volkstümliche Sprache etc.43 Früher waren in Frankreich die diatopischen Unterschiede viel ausgeprägter als heute. Im Gegensatz dazu ist heute die Variation im Bereich der Diastratik angestiegen. Diastratisch niedrig markiert sind Sprachformen, die nach unten vom Standard abweichen. Diastratisch hoch markiert sind diejenigen, die nicht bzw. nach oben vom Standard abweichen, z.B. das vous zwischen Ehepartnern, die dem französischen Bildungsbürgertum entstammen. Große diastratische Unterschiede entstehen durch Bildungsunterschiede in der Gesellschaft. Heute wird die Standardsprache nur vom gehobenen Bildungsbürgertum realisiert.44
6.2.3 Diaphasik
Unterschiedliche Sprechsituationen und Umstände beim Sprechen bedingen die Ausdrucksweise. Diese Variation nennt sich Diaphasik. Die Ausdrucksweise hängt von Sprecher, Hörer, Situation oder Gelegenheit zum Sprechen und Gesprächszusammenhang ab. Der heterogenen Diaphasik steht die symphasische Einheit oder der Sprachstil (familiärer, epischer, lyrischer, allgemein literarischer Stil etc.) gegenüber.45
„Zu den Sprachstilen gehören auch die 'Gruppensprachen', die sich auf der gleichen sozio- kulturellen Ebene (oder unabhängig davon) unterscheiden können: zum einen die großen 'biologischen Gruppen' ('Sprache der Männer', 'Sprache der Frauen', die in manchen Sprachgemeinschaften sehr verschieden sind), und der Generationen […]; zum anderen die 'Sprachen' der sozialen Gruppen und der Berufsgruppen“ (Coseriu 1988a: 25).
Als Sprachregister können „sehr allgemeine[n] Typen zusammengehöriger Stile“ (Coseriu 1988a: 25), z.B. gesprochene Sprache, Literatursprache oder Schriftsprache bezeichnet werden, d.h. zusammengehörige Stile, die den Aspekten des Lebens, der Kultur und verschiedenen Umständen entsprechen.
[...]
1 Vgl. Boon (2008) Bienvenue chez les Ch'tis. DVD.
2 Vgl. PDF 2, (5f.)
3 Vgl. Internetquelle 2 - Duden (2009) - Deutsches Universalwörterbuch, Online
4 Vgl. Schreiber (2006: 52f.)
5 Vgl. Pruys (2007: 30)
6 Vgl. Pruys (2007: 157)
7 Vgl. Müller (1982: 26)
8 Vgl. Döring (2006: 20ff.), Pruys (2007: 77)
9 Ich stütze mich auf die von Herbst (1994) verwendete Terminologie zur Synchronisation.
10 Vgl. Hesse-Quack (1967: 98), Herbst (1994: 13)
11 Vgl. Herbst (1994: 198f.)
12 Vgl. ibd. (16)
13 Vgl. ibd. (201, 216)
14 Vgl. ibd. (221)
15 Vgl. ibd. (16, 205), Hesse-Quack (1967: 98)
16 Vgl. Herbst (1994: 13)
17 Vgl. Pruys (1997: 89)
18 Vgl. Reinart (2004: 108)
19 Vgl. Herbst (1994: 16, 208), Hesse-Quack (1967: 98)
20 Vgl. (1994: 16)
21 Vgl. Cedeño Rojas (2007: 94)
22 Vgl. Herbst (1994: 29f.)
23 Vgl. ibd. (33f.)
24 Vgl. ibd. (35, 38)
25 Vgl. ibd. (50ff.)
26 Vgl. Herbst (1994: 89)
27 Vgl. Coseriu (1992: 266-302), Coseriu (1988a: 15-43), Coseriu (1988b: 45-61); die Autoren, die Coserius Ansatz weiterverfolgen sind Müller (1985), Koch/Oesterreicher (2001)
28 Vgl. Coseriu (1988: 142f.)
29 Vgl. Ossenkop (2008: 72), Müller (1995: 153), Bußmann (2008: 680)
30 Vgl. Schreiber (1999: 77)
31 Vgl. Schreiber (1999: 80)
32 Vgl. Müller (1985: 135)
33 Vgl. ibd. (139f.)
34 Vgl. Coseriu (1988: 143f.)
35 Vgl. Coseriu (1988a: 26)
36 Vgl. Coseriu (1992: 283), Coseriu (1988a: 25)
37 Vgl. Coseriu (1988a: 26)
38 Vgl. ibd. (17-27)
39 Vgl. Coseriu (1988a: 27), Coseriu (1988b: 51f.), Sokol (2001: 208f.)
40 Vgl. Sokol (2001: 208)
41 Vgl. Müller (1985: 138)
42 Vgl. ibd. (137)
43 Vgl. Coseriu (1988a: 25)
44 Vgl. Müller (1985: 183)
45 Vgl. Coseriu (1992: 283)