Soziale Arbeit mit jugendlichen Zigeunern

Ein Vergleich von zwei Projekten in Düsseldorf und Köln und die Entwicklung eines Modells für Neuss


Diplomarbeit, 1990

78 Seiten, Note: 3


Leseprobe

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1 Vorwort

2 Einleitung

3 Zigeuner - ihre Gesellschaftsform und Kultur

4 Ausgrenzung und Stigmatisierung der Zigeuner

5 Soziale Arbeit mit jugendlichen Zigeunern in Projekten in Köln und Düsseldorf

6 Projektentwicklung - sozialpädagogische Arbeit mit jugendlichen Zigeunern in Neuss

7 Resümee - zukünftige Entwicklungen und mögliche Wege der konkreten Umsetzung des Projekts "Zigeunerwerkstatt"

8 Quellen


1 Vorwort

 

Bei der Auswahl eines geeigneten Themas für diese Arbeit, hat meine bereits sechsjährige berufliche Tätigkeit und Erfahrung eine entscheidende Rolle ge­spielt.

 

1984 wurde ich als Lehrer (seit 1987 als Angestellter des Caritasverbandes für das Stadtdekanat Neuss e.V.) mit der Betreuung von Zigeunerkindern beauf­tragt. Diese Betreuung beschränkte sich anfänglich ausschließlich auf die Hilfe bei Schulaufgaben und schulischen Problemen. Später erstreckte sich meine Tätigkeit dann zunehmend auf die gesamte soziale Betreuung der Zigeuner.

 

Im Laufe der Jahre kristallisierten sich zunehmend die spezifischen Probleme der Heranwachsenden, im Hinblick auf ihre soziale und berufliche Zukunft her­aus. Diese Probleme wirkten und wirken sich unmittelbar auf ihre gesamte so­ziale Gemeinschaft aus.

 

Aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit, bot es sich an, die aufgetretenen Pro­bleme und insbesondere Fragestellungen in der vor liegenden Arbeit aufzuneh­men, zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen.

 

Es wäre zudem mein Wunsch, die Ergebnisse der Arbeit in der Zukunft zu ver­werten, und die konkrete Umsetzung des geplanten Projekts in die Realität an­zustreben.

2 Einleitung

"Wir bitten das deutsche Volk: Nehmt uns auf in Eure Brüderlichkeit. Baut die Vorurteile gegen uns ab. Gebt uns die Möglichkeit zu einer uns gemäßen Erziehung, Ausbildung und Arbeit. Wir sind nicht asozial und möchten es gerne verhindern, daß unsere Nachkommen es werden. Helft nicht nur in der weiten Welt, sondern dem Lazarus vor Eurer Tür." (Sobeck; 1976, S.2)

 

Diese Worte richtete der zur Woche der Brüderlichkeit 1963 von den Zigeunern in Hildesheim gewählte Panschayat = Fünf-Männer-Rat an die Öffentlichkeit.

 

Die Bitte um Hilfe und Toleranz, ist auch der Ruf der Zigeuner nach Anerken­nung von Sitten und Gebräuchen dieser Ethnie. Eine Bitte, ihre Wert- und Mo­ralvorstellungen zu akzeptieren, zu fördern und, den Vorstellungen der Zigeuner entsprechend, in ein Förderprogramm einzubeziehen.

 

Die den Zigeunern eigenständige Kultur wurde und wird durch die mehr oder weniger starke Integration in unsere Gesellschaft entweder destruiert oder assi­miliert. Sehr stark betroffen von diesen unaufhaltsamen Vorgängen sind vor al­lem die Kinder und Jugendlichen. Sie wachsen in einer sie beschützenden und liebenden Welt der Sippe und Familie auf, sind aber gleichzeitig (spätestens zu Beginn der Schulzeit) Einflüssen von außen ausgesetzt, die sie und ihre Eltern im harmlosesten Fall verunsichern, oder - schlimmer noch - in den permanenten inneren und äußeren Kampf um Anerkennung und materielle Versorgung zwin­gen.

 

Den Heranwachsenden muß deshalb vordringlich ermöglicht werden, ihren Wert- und Lebensvorstellungen entsprechend leben und arbeiten zu können, gleich­zeitig aber auch die Möglichkeit eröffnet werden, dies in einer Gesellschaft zu tun, die nach anderen Werten lebt und handelt.

 

Die vorliegende Arbeit möchte zum einen aufzeigen, wie professionelle Hilfe bis­her mit diesem Problem umgegangen ist, und modellhaft ein konkretes Projekt in Zusammenarbeit mit den Betroffenen entwickeln. Sie - die Arbeit - soll auch dazu dienen, die "Welt des Zigeuners" ein wenig mehr verstehen und begreifen zu lernen, und zeigen, daß ein Miteinander von verschiedenen Kulturen in einer Gesellschaft nur durch Toleranz und intensive Auseinandersetzung möglich ist.

 

Ich möchte jedoch nicht soweit gehen, die sozialpolitischen und sozialgeschicht­lichen Faktoren zu untersuchen. Soweit sie zum Verständnis notwendig sind, soll ein kurzer Abriß der historischen Entwicklung erfolgen, jedoch lediglich deshalb, um eine Kontinuität in der Beschreibung der Projekte gewährleisten zu können. Die furchtbaren Verbrechen, die Zigeuner während der Nazi-Zeit erleben muß­ten, sind hinlänglich bekannt und bzgl. der Themenstellung nur von peripherer Bedeutung.

 

Es scheint mir auch weniger wichtig, die allgemeine soziale Betreuung im Vor­dergrund der Untersuchung zu sehen. Rechtsberatung, Hilfe bei Behördengän­gen und die wirtschaftliche Grundsicherung ist selbstverständlich Grundbe­standteil in allen unter suchten Projekten, und auch Basis der Betreuungsarbeit. Die Probleme der heranwachsenden Zigeunergeneration in Bezug zu Ausbil­dung und Erwerbstätigkeit, sollen jedoch vorrangig betrachtet werden. Nicht zu­letzt auch deshalb, weil diese Generation in einer psychosozialen Situation ist, in der sie oftmals konträren Einflüssen und Emotionalitäten ausgesetzt ist. Sie sind traditionell ihrer Familie und Ethnie verpflichtet, lernen jedoch zunehmend die Majoritätsgesellschaft mit all ihren Ansprüchen, Verpflichtungen und Anpas­sungszwängen kennen.

 

Der Umgang mit Zigeunern hat mich viel neues gelehrt - neue Verhaltensweisen auch in der Sozialarbeit. Diese Arbeit soll auch geprägt sein von diesen Verhal­tensweisen und Einschätzungen. Hier möchte ich vor allem die Behutsamkeit und eine gewisse Ruhe anführen, die unbedingt notwendig sind, um Prozesse initiieren und aufrecht erhalten zu können. Eine Behutsamkeit, die gegründet sein sollte auf der Achtung, Individualität und Identität der Zigeuner. Auch will ich die zahlreichen Tabus und "ethnischen Geheimnisse" - soweit sie mir bekannt sind - nicht offenlegen . Sie waren und sind Bestandteil dieses Volkes und sollen es auch bleiben. Jede Art von Offenlegung und Transparenz, hat automatisch eine Zerstörung der kulturellen Identität zur Folge.

 

Der Kontakt zu Zigeunern hat mich zudem mehr und mehr davon überzeugt, auch andere Wertigkeiten und Methoden in der sozialen Arbeit zuzulassen und zu überdenken. Ich meine hier eine emotionale Offenheit. Eine Öffnung und Zulas­sung der eigenen Gefühle im Umgang mit den Zu-Betreuenden, und eine Umset­zung dieser emotionalen Erfahrungen in die sozialarbeiterische und sozialpäd­agogische Betreuung. Diese sozio-emotionale Methode ist m.E. wichtige Grund­voraussetzung, um Vertrauen zu gewinnen und langfristig auch "Erfolg" zu haben.

3 Zigeuner - ihre Gesellschaftsform und Kultur

 

Innerhalb des thematischen Rahmens dieser Arbeit halte ich es für dringend notwendig, einen kurzen Einblick in die Lebensweise und ureigenste Kultur der Zigeuner zu geben. In den letzten Jahren ist von vielen Seiten zur Problematik der Zigeuner in unserer Gesellschaft viel unrichtiges geschrieben und gesagt worden. Dies, zu mindest zu Teilen zu korrigieren, ist mein Anliegen.

 

Da jugendliche Zigeuner in besonderem Maße im Zusammenhang mit ihrem direkten sozialen Umfeld zu sehen und zu bewerten sind, ist es zudem notwendig, einen - wenn auch groben - Über blick über diese Kulturform zu geben.

 

Ich wurde und werde in Zusammenhang mit meiner Tätigkeit sehr oft auf den Terminus Zigeuner angesprochen. Man verbindet mit diesem Begriff nach wie vor eine diskriminierende Bezeichnung.

 

Ich möchte mich an dieser Stelle Frau Sobeck [1] anschließen. Sie sagt: "Wir diskriminieren keine Zigeuner, auch dann nicht, wenn wir diese ethnische Gesellschaftsgruppen insgesamt als Zigeuner bezeichnen, und es fühlt sich auch kein Zigeuner, der zu uns kommt und mit uns zu tun hat oder bisher mit uns zu tun hatte, von uns dadurch diskriminiert, daß wir wissen, daß er Zigeuner ist; im Gegenteil, er gibt seine Probleme zu erkennen, die er hat, w e i l  er Zigeuner ist. Diese Probleme hat er auch, wenn er sich als "Sinti oder Roma" bezeichnet wissen will." (Sobeck; 1986, S.29)  Der Begriff Zigeuner deckt sich im übrigen mit Bezeichnungen im Ausland. Tsigane heißt er in Frankreich, Acigan in Bulgarien, Cygan in Polen, Cigano in Portugal, Tschinghiane in der Türkei etc. (ebd.; S30-31) Nur wer das Wort Zigeuner in geringschätziger und abwertender Bedeutung mißbraucht, diskriminiert die Zigeuner. Der Zigeuner selbst empfindet den Begriff nicht als diskriminierend. Im Gegenteil, z.B. die Bezeichnung Sinte möchte diese Gruppe von den Nichtzigeunern nur dann hören, wenn sie ihnen vertrauen kann. Mehrfach auf dieses Thema angesprochen, versicherten die mir bekannten Zigeuner, daß sie stolz seien, Zigeuner zu sein. Dies würden sie auch nach außen tragen und dazu stehen. Es käme halt darauf an, wie jemand diesen Begriff Zigeuner interpretiert bzw. was er da mit verbindet.

 

In diesem Sinne möchte ich den in der vorliegenden Arbeit benutzten Begriff Zigeuner weder in Anführungszeichen setzen, noch als Terminus der Diskriminierung verstanden wissen. Der langjährige Kontakt mit Zigeunern hat mich gelehrt, in Hochachtung und Zuneigung über diese Menschen zu sprechen.

 

3.1 Historische Hintergründe

 

Sie sind vor ca. 4500 Jahren aus ihrer Heimat Indien ausgewandert, und haben sich daraufhin in verschiedenen Etappen über die ganze Welt verteilt. Der Name Zigeuner leitet sich ab von Atsingani/Atsinganos. Dies ist eine Bezeichnung einer Gruppe Reisender indischer Herkunft, die im 11. Jahrhundert in Griechenland auf tauchten. Diese Gruppe Reisender hat sich immer als Ethnie in ihrer Kultur und Autonomie unterschieden wissen wollen und sie wünschen, daß ihre Identität gewahrt wird (Sobeck; 1988, S.7-10). Frau Sobeck sagt hierzu: "Zigeuner sind dagegen ethnische Minderheiten mit einer eigenen Muttersprache, dem "Romanes", welches ein Dialekt aus dem Sanskrit ist und von daher auf ihr Ursprungsland Indien hindeutet. ...Ihre Kultur ist schriftlos; ihre Gesellschaftsordnung reguliert sich durch Tradition und mündliche Überlieferung." (ebd.; S.7)

 

Dies ist wichtig zu wissen, wenn man sich mit der Problematik der Heranwachsenden auseinandersetzt. Der größte Teil der Eltern- und Großelterngeneration ist des Lesens und Schreibens unkundig. Wenn Kenntnisse vorhanden sind, so sind diese rudimentär und zumeist autodidaktisch angeeignet. Den Kindern war und ist es also nicht vergönnt, Hilfe bzgl. dieser Kulturtechniken durch die ältere Generation zu erfahren.

 

Seit Zigeuner in Deutschland auftauchten, - 1407 erstmals in Hildesheim urkundlich erwähnt - haben sie in vielen unterschiedlichen Berufen und Erwerbstätigkeiten ihren Lebensunterhalt verdient. An dieser Stelle soll jedoch keine Auflistung im historischen Rückblick geschehen. Es ist hier lediglich wichtig zu wissen, daß auch die heute lebenden Generationen traditionsgemäß ein ambulantes Gewerbe anstreben.

 

An erster Stelle wäre hier der sogenannte Hausierhandel zu nennen. Weitere Tätigkeiten und Erwerbsquellen waren und sind:

 

 Schrotthandel

 

 Autohandel, -reparatur

 

 Antiquitätenhandel

 

 Möbelrestauration

 

 Instrumentenbau und –handel

 

 Teppichhandel

 

 Musik

 

 Schausteller

 

 hier und da auch noch Messerschleifer, Korbmacher und noch vor dem letzten Weltkrieg

 

 Schirm- und Kesselflicker sowie Pferdehändler

 

An dieser Auflistung wird deutlich, daß die sogenannte "Reiselust" oder der "Wandertrieb", der den Zigeunern als "naturgegeben" an gedichtet wird, aus sozio-ökonomischen Gründen entstanden ist (und deshalb eigentlich nicht mehr so benannt werden sollte). Die oben genannten Tätigkeiten sind aufgrund des Zwangs zur Weiterreise (Vertreibungen) entstanden und haben sich über Jahrhunderte glänzend bewährt. Alle Erwerbstätigkeiten konnten "unterwegs" ausgeübt werden. Überall gab es Kunden, die die beruflichen Fertigkeiten der Zigeuner auch gern in Anspruch nahmen. In den 30er Jahren dieses Jahrhunderts entstand dann ein Kontinuitätsbruch, da die Erlaubnis ein Gewerbe ausüben zu dürfen, von einem festen Wohnsitz abhängig war. Der Zuzug in Ballungsgebiete wurde also initiiert und somit auch die Entwicklung hin zur Seßhaftigkeit.

 

Es zeigt sich zudem, daß Berufe gewählt werden, die ein hohes Maß an Selbständigkeit gewährleisten. Lohnabhängige Arbeit ist ihnen in der Regel fremd und wird als erniedrigend und nicht mit der Familienkultur der Zigeuner vereinbar angesehen.

 

3.2 Die Enkulturation der Zigeuner - Der "andere Generationenvertrag"

 

Zum Verständnis der Sozialisation des Zigeuners, ist es wichtig, zu wissen, wie das Kind bzw. der Heranwachsende erzogen, angeleitet und in die Gruppe integriert wurde und wird; undzwar deshalb wichtig, weil m.E. die noch zu behandelnde Problematik der Berufsfindung in unmittelbarem Zusammenhang mit den Enkulturationsprozessen steht.

 

Schoeck definiert Enkulturation als den "... Lernprozeß, durch den ein Individuum allmählich die Kultur seiner Gruppe erwirbt; dazu gehören Wertvorstellungen, Leitbilder, ebenso wie einfache und komplexe Verhaltensmuster. ... Von Enkulturation spricht man, wenn ein Mensch in die Kultur seiner Eltern eingeführt wird, ..." (Schoeck; 1974, S.90).

 

Gerade dieser erworbene und von Seiten der Eltern eingeführte Prozeß der Eingliederung in die Gruppe, ist ein Prozeß, der sich durch das gesamte Leben eines Zigeuners als permanent prägend zieht.

 

In der Gesellschaft des Nichtzigeuners finden in der Regel andere Prozesse statt. Die Heranwachsenden gewinnen hier mit zunehmendem Alter an Selbständigkeit und verlangen die Trennung von der Familie. Hier gehört es selbstverständlich zur Sozialisation, daß die Kinder sich von den Eltern lösen und früher oder später ein Leben führen, daß sich von dem der Elterngeneration mehr oder weniger unterscheidet. Die Sozialisation der Kinder ist also weniger durch die Eltern geprägt. Das Individuum und die soziale Umgebung nehmen ebenfalls Einfluß auf die Entwicklung.

 

Im Gegensatz dazu steht die Gesellschaftsform der Zigeuner. Sie zeichnet sich aus durch Exklusivität und Geschlossenheit. Sie lebt von der Tradition und den mündlich überlieferten Werten und Normen. Darüber hinaus war diese Ethnie geradezu dazu gezwungen, an ihren Kulturgütern festzuhalten, um in Zeiten der Verfolgung und Stigmatisierung überlebensfähig zu sein. "Die Zigeuner als ethnische Minderheit konnten innerhalb der Mehrheitsgesellschaft ihren Fortbestand nur dadurch sichern, daß sie an ihren Traditionen, insbesondere an ihrer Sprache und ihren Wertvorstellungen festhielten, sie pflegten und von Generation zu Generation weitergaben. Sie haben sich niemals staatlich organisiert, sondern grenzen sich von der Majoritätsgesellschaft dadurch ab, daß sie den Familienverband - Großfamilie, sowohl vertikal als auch horizontal - streng und solidarisch zusammenhalten." (Sobeck; 1988, S.43)

 

Der "besondere" Generationenvertrag umfaßt folgende Merkmale und Spezifika:

 

 Volljährigkeit in unserem Sinne gibt es nicht. Solange der Vater lebt, sind die Söhne ihm gehorsam.

 

 Der Kinderreichtum ist die Sozialversicherung der älteren Generation; alte und kranke Menschen werden weder ausgegrenzt, noch abgeschoben.

 

 Tradition und Brauchtum bestimmen die Lebens- und Gemeinschaftsmaxime; Fremdbestimmung wird abgelehnt; Geschlossenheit ist erstrebenswert, weil dadurch die Identität erhalten bleibt. (ebd.; sinngemäß S. 43)

 

Dieser spezifische Generationenvertrag war und ist somit immer zwingend zu berücksichtigen, wenn soziale Arbeit greifen soll. Die Autonomie und Authenzität wird bei äußeren Eingriffen zerstört, was sich nachhaltig schädigend für diese ethnischen Gesellschaftsgruppen auswirkt.

4 Ausgrenzung und Stigmatisierung der Zigeuner

 

Um eine wirksame soziale Arbeit mit Zigeunern machen zu können, muß man sich stets vor Augen halten, daß diese seit Jahrhunderten verfolgt und ins soziale Abseits gedrängt worden sind. Den grausamen Höhepunkt dieser Verfolgung erlitten sie während der Zeit der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten. Aufgrund der zeitlichen Nähe der hinlänglich bekannten Verbrechen an den Zigeunern, wirken sich Erinnerungen an diese Zeit bis heute auf das Verhalten aus. Kontaktfindung und Vertrauensbildung zu Nichtzigeunern sind durch diese Erfahrungen erheblich erschwert. Es ist deshalb dringend notwendig, den in der sozialen Arbeit Tätigen soviel Wissen um die Kultur und das Schicksal dieser Menschen mitzugeben, daß er mit entsprechender Behutsamkeit und Rücksicht auf sie zugeht.

 

Dieses Kapitel soll deshalb grundlegende Voraussetzungen und bereits gemachte Erfahrungen mitteilen. Die Prozesse der Stigmatisierung sind nicht zuletzt Ursache für den falschen Umgang miteinander, und dies nicht nur zwischen Zigeunern und Nichtzigeunern, sondern auch im Prozeß der beruflichen Interaktion.

 

4.1 Zigeuner - eine ethnische Minderheit

 

Man muß wissen, daß soziale Arbeit mit Zigeunern keinesfalls Randgruppenarbeit ist. Wenn man davon ausgeht, daß der Begriff Randgruppe inhaltlich definiert ist mit sozialen Gruppen, die unterschiedlichster sozialer Herkunft sind und stark differierende psycho-soziale Probleme haben, sind Zigeuner - im Gegensatz dazu - als Ethnie zu begreifen.

 

Dies bedeutet nun, daß ein "Zusammenhang zwischen Kultur und Persönlichkeit" besteht, und "kulturspezifische Sozialisationsprozesse" (Schoeck; 1974, S.102) das Leben der Zigeuner beeinflussen. Diese prägenden Elemente, sind bei der sozialen Arbeit zu berücksichtigen.

 

Zigeuner als eine ethnische Minderheit mit einer eigenen Muttersprache, dem "Romanes", gehören neben den Juden in Deutschland zur einzigen Gesellschaftsgruppe ohne eigenen Siedlungsraum. Sie halten sich an die Gesetze der Majoritätsgesellschaft, achten das Staatssystem und die Rechtsordnung. Sie wünschen keine Sonderbehandlung und versuchen sich anzupassen.

 

Ihre eigene Gesellschaftsordnung versuchen sie - in der Regel unbemerkt - einzufügen. Sie handeln nach dem Prinzip: "Eine Minderheit genießt solange Schutz und Freiheit, wie sie nicht sichtbar wird" (Sobeck; 1988, S.7-10).

 

In einem Aufsatz über das Ordnungs- und Tabusystem der Zigeuner, schreibt Rainer E. Tenfelde [2]: "In unregelmäßigen Abständen treffen sich die männlichen Angehörigen einer Gruppe von verschiedenen Familien unter dem Vorsitz eines Rechtssprechers, um anstehende Fragen, nicht nur aus dem Bereich des Tabusystems, sondern auch allgemeine Ordnungsprinzipien betreffend, zu besprechen. Diese Versammlung wird häufig Harmanation genannt. Redeberechtigt in dieser Versammlung sind neben dem Rechtsprecher auch sogenannte Wortführer, die man als regionale Sprecher der Familien bezeichnen könnte, und sonstige männliche Zigeuner, die sich nicht wegen bekanntgewordener Verstöße gegen geltende Tabus oder sonstige unehrenhafte Handlungen außerhalb der Gruppe gestellt haben. Die Bedeutung der Beiträge der Teilnehmer einer derartigen Harmanation ist stark abhängig von der Stellung des Betreffenden in der Gruppe, die wiederum durch seine Abstammung, sein Lebensalter, seine Kinderzahl und ähnliches bestimmt wird." (Tenfelde; 1981, S.97-98)

 

Diese interne Rechtsordnung der Zigeuner ist dem Nichtzigeuner in der Regel nicht bekannt. Es gehört z.B. zur Meidungsvorschrift, mit Außenstehenden darüber nicht zu reden. Diese Harmanation (manche Ethnien nennen sie auch "Tsilo") kann als Institution gelten; das bedeutet, sie ist real und muß in der Sozialarbeit mit Zigeunern - besonders jugendlichen Zigeunern - (möglichst unausgesprochen vor ihnen) berücksichtigt werden.

 

4.2 Akkulturationsprozesse

 

Die Übernahme von Elementen und Wertvorstellungen einer anderen Kultur fand und findet bei Zigeunern ebenso statt, wie z.B. bei ausländischen Arbeitnehmern, die in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre zunehmend erkannt und problematisiert worden ist.

 

Jahrhundertlang haben die Zigeuner ihre Kultur zu erhalten gewußt. Sie haben sich ausgegrenzt, aber auch besser ausgrenzen können, weil insgesamt die allgemeinen Lebensumstände einfacher waren. "Vielleicht haben gerade die Verfolgungen, denen sie aus gesetzt waren, zur Erhaltung der Kultur beigetragen. Sie ist gekennzeichnet durch die Ablehnung jeder Form von Dialog und des wegen durch äußerste Isolierung. In diesem Jahrhundert, und besonders deutlich nach dem Zweiten Weltkrieg, hat sich die Situation durch eine Reihe auflösender Faktoren immer schneller geändert." (Karpati in: Weiler; 1979, S.54)

 

Es ist hier nun die Frage zu stellen, ob und wie weit Akkulturationsprozesse bei Zigeunern, die in einer Industrienation seßhaft werden mußten, Einfluß genommen haben. Diese Einflüsse zu erkennen und letztlich auch zu bewerten, soll Aufgabe dieses Abschnitts sein.

 

4.2.1 Diskrepanzen zwischen Traditionen und Assimilation

 

Während vieler Gespräche und Beobachtungen mit und bei Zigeunern, hatte ich oft das Gefühl, daß diese Menschen in einer Lebenssituation sind, die von Ihnen verlangt, sich und ihre Identität aufzugeben. Diese Problematik wird häufiger von der Erwachsenen- und Großelterngeneration geäußert. Die Kinder und Heran wachsenden befinden sich hier sicher in einer anderen Phase der Assimilation.

 

"Assimilation ist der soziale Prozeß, durch den ein einzelner, oft Teile der Bevölkerung (z.B. Einwanderer) sich an die Lebens- und Anschauungsformen einer neuen, sie nun umgebenden Gesellschaft anpassen, also ähnlich und aufgrund dieser Angleichung weitgehend akzeptiert werden." (Schoeck; 1974, S.31) Ich werde an dieser Stelle versuchen zu klären, an welchem Punkt der Assimilation sich seßhafte Zigeuner befinden, und in wie weit dies Folgen für alle Beteiligten hat ­für den Zigeuner und für den Sozialarbeiter/-pädagogen.

 

a) Der "andere Generationenvertrag" muß unbedingt in die Überlegungen einbezogen werden. Die Einbindung des Kindes in die Großfamilie ist so prägend, und sein Traditionsbewußtsein so stark, daß es sich innerhalb unserer Gesellschaft (Schule, Nachbarschaft etc.) fremd fühlt und auch als Fremder angesehen und behandelt wird. "Diese Menschen haben ihre eigene Familienstruktur, eine bewährte ethische Tradition, eindrucksvolle Wertvorstellungen und ein gut funktionierendes Gemeinwesen, gebunden an einen besonderen Generationen- und Gesellschaftsvertrag (contrat-sozial). - Wir, wenn wir uns mit unserer sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebensmaxime dort einmischen, können letztendlich nur Verwirrung, Chaos und Dekadenz stiften. Unsere Anstrengungen sollten gerichtet sein und sich beschränken auf das, was diese Minderheit an Hilfen konkret erbittet, an Notlagen vor trägt und an Schwierigkeiten oder Konflikten inmitten der Mehrheitsgesellschaft zu erkennen gibt." (Sobeck; 1989, S. 26)

 

b) Neben den in Punkt 3.1. bereits erwähnten beruflichen Tätigkeiten und Erwerbsquellen, ist es von Bedeutung, die Einstellungen des Zigeuners bzgl. des Berufslebens der Majoritätsgesellschaft zu kennen. "Er gehorcht einzig und allein seinen Sitten und Gesetzen, auf keinen Fall gern einem Vorgesetzten. Einen Vorgesetzten findet der Zigeuner nur im System der Gesellschaften von Nichtzigeunern. Nach seiner Tradition gibt es eine solche hierarchische Ordnungsinstanz nicht, sondern bei ihm gilt die Regel der Würdigung einer Person, die durch ihr Alter oder sittliches Verhalten einen natürlichen Anspruch auf Achtung, Respekt und Gehorsam hat." (Sobeck; 1978, S.18)

 

Die Majoritätsgesellschaft hat und verlangt jedoch hierarchisch gegliederte Ausbildungs- und Berufsstrukturen. Einen Zigeuner - ­nicht nur einen Erwachsenen - zu zwingen, sich diesen Bedingungen ohne Kompromiß zu fügen, ist von vorn herein zum Scheitern verurteilt. Die traditionellen Wertvorstellungen haben an dieser Stelle einen erheblich höheren Stellenwert, als die Verlockungen und vermeintlich positiven Folgen, die unsere Nichtzigeunergesellschaft bietet.

 

Besonders deutlich wird dies, wenn man einen Betroffenen selbst zu Wort kommen läßt: "Für uns Zigeuner ist es wichtig, daß die Familie zusammen ist, und zwar so oft es geht. Ein Berufsleben, so wie die Gadsche (in Romanes: Nichtzigeuner, Anm. d. V.) es für selbstverständlich halten, ist für uns nicht attraktiv, weil das nämlich bedeutet, daß wir mindestens 8 Stunden täglich voneinander getrennt sind und uns in dieser Zeit unter den Gadsche befinden und uns an die Art, wie sie leben, anpassen müssen. So, wie die Gadsche miteinander umgehen und miteinander reden, gehen wir Zigeuner nicht miteinander um. Deshalb ist das für uns fremd und beängstigend. Wir fühlen uns unsicher und unwohl, vor allen Dingen auch deshalb, weil die Gadsche andere Werte haben. Ich habe allerdings ganz bewußt die Berufsausbildung mitgemacht, um das Leben der Gadsche kennenzulernen und auch festzustellen, wie ich mit ihnen umgehen muß." (Reinhardt; 1989, S.2-3)

 

Ergänzen möchte ich diese Darlegungen durch eine Stellungnahme eines mir bekannten Zigeuners. Dieser Familienvater hatte neun Jahre in einem abhängigen Arbeitsverhältnis unter Nichtzigeunern gearbeitet. Er kündigte die Arbeitsstelle und wurde somit Bezieher von Arbeitslosengeld/-hilfe. Ich vermutete anfänglich, daß er - bedingt durch diskriminierende Erfahrungen am Arbeitsplatz - seine Arbeit aufgegeben hatte. Dies war nicht der Fall (er war bei seinen Kollegen in einem städtischen Theater sehr angesehen und hatte innerhalb dieser Gemeinschaft auch keine Diskriminierung erfahren). Bedingt durch seinen sehr unregelmäßigen Dienst, vor allen Dingen nachts, am Wochenende und zeitweise tagelang auf Tourneen, und die Erkrankung des Ehepartners, hatte seine Frau ihn vor die Wahl gestellt, die Familie, oder seine berufliche Tätigkeit vorzuziehen. Für ihn stand es außer Zweifel, daß er seiner Familie den Vorrang gab. Eine eventuelle Trennung, hätte für ihn nicht mehr kalkulierbare und verheerende Folgen für sein seelisches Wohlbefinden und sozialen Abstieg bedeutet.

 

c) Ein weiterer themenrelevanter Assimilationsfaktor ist die schulische Ausbildung. Wie eingangs erwähnt, ist die Kultur der Zigeuner schriftlos. Sämtliche Erfahrungswerte, Informationen und Traditionen werden mündlich weitergegeben und verinnerlicht. Dies hat die Zigeuner sicherlich in der Vergangenheit geschützt, und ihnen geholfen, ihre Kultur weitestgehend manifest zu machen.

 

Dies bedeutet gleichzeitig, daß für die heutige Kinder- und Jugendlichengeneration keinerlei Förderung bzgl. lesen und schreiben von Seiten der Eltern erfolgt und erfolgen kann. Denn auch die Eltern und Großeltern sind in der Regel des Lesens und Schreibens unkundig. Gleichwohl wird von Seiten der älteren Generationen heute, die unbedingte Notwendigkeit zur Erlangung von Lese­- und Schreibfähigkeiten eingesehen. Sie unterstützen Bemühungen von Seiten der Schulen oder Sozialbetreuer, ihren Kindern diese Kulturtechniken näher zu bringen. Der Preis dafür kann der Verlust der Identität sein.

 

Nachfolgend möchte ich einige Faktoren nennen, die den Schulbesuch entweder erschweren oder ihn gänzlich unmöglich machen

 

 die Entfernung zur Schule (Ist der Schulweg zu lang, wird er als gefährlich eingestuft und bei schlechter Witterung und/ oder fehlenden Transportmöglichkeiten kommt es zu Fehlzeiten.)

 

 die Person des Lehrers und der Lehrerin (Die persönliche Beziehung und die Einschätzung der Person des Lehrers/der Lehrerin ist für die Zigeunerkinder von besonderer Bedeutung. Sein Verhalten fördert oder behindert die Lernfähigkeit, wenn hier die Ebene des Vertrauens und die menschliche Zuwendung fehlt.)

 

 die Erlangung der Fähigkeit lesen, schreiben und rechnen zu können, reicht völlig aus (Eine weitergehende Bildung wird nicht angestrebt, sie erscheint nicht vonnöten, da die traditionellen - s.o. - Erwerbstätigkeiten mit diesem Bildungsstand zur Existenzsicherung beitragen können.)

 

Die internen Gesetze haben grundsätzlich Vorrang. Dies bedeutet z.B. für den (schulischen) Alltag, daß die Kinder morgens nicht in die Schule geschickt werden, weil sie bis tief in die Nacht bei einem Fest mitgefeiert haben. Auch ein Krankenbesuch in einer an deren Stadt, wäre ein Grund mit der gesamten Familie aufzubrechen, und dementsprechend den Schulbesuch ausfallen zu lassen.

 

Schule, Schulbildung und Berufsausbildung sind Errungenschaften der Nicht-Zigeuner-Gesellschaft. Ihre Notwendigkeit ist schriftlosen Kulturen fremd.

 

"Erziehung findet intern statt und die Schule als Erziehungsinstitution befindet sich außerhalb dieser geschlossenen Erziehungsgemeinschaft. Die Kinder erfahren sich als in die Erwachsenengemeinschaft hineinwachsend und lernen am Beispiel der Erwachsenen, was diese ihnen vorleben. Eine darüber hinausgehende sich außerhalb dieser geschlossenen Gesellschaft befindende Schule wird innerhalb dieser Gesellschaft nicht als notwendig angesehen.

 

Die Schulpflicht beruht auf einem Gesetz, das außerhalb des Gewohnheitsrechtes besteht und auch nicht mit der Autorität des Rechtes der Gruppe ausgestattet ist. So gesehen muß sie als Zwang empfunden werden, der einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Heute ist weitgehend bei den Zigeunern in Deutschland die Notwendigkeit von Schulbildung erkannt. Gleichwohl ist die Schule ein Institut der Fremdgesellschaft und wird auch als fremd empfunden. Hier ist eine Überzeugungsarbeit zu leisten, daß Anforderungen, die das Leben in der modernen Industriegesellschaft an den Einzelnen stellt, die Schulbildung unverzichtbar macht. Das Schulangebot muß angenommen werden, auch dann, wenn seine Notwendigkeit aus der Struktur heraus nicht unbedingt einsichtig ist. Die meisten Zigeuner empfinden dies auch so, indem sie die Notwendigkeit, lesen und schreiben in deutscher Sprache zu lernen, nur insofern anerkennen, als sie diese Fertigkeiten benötigen, um in der Fremdgesellschaft sich durchzusetzen, nicht aber für das Leben in ihrer eigenen Gesellschaft." (Sobeck; 1986, S.49-50)

 

Dieser Feststellung ist, aus meiner persönlichen Erfahrung reflektierend, nichts hinzuzufügen.

 

4.2.2 Soziale Folgen der Assimilation - die Desintegration der Zigeuner

 

Mit dem Prozeß von Integrationsmaßnahmen tut man sich in der Regel in der sozialen Arbeit mit Zigeunern schwer. Die Sozialarbeit vor Ort hat häufig damit zu kämpfen, daß Ansichten von dritter Seite (sei es der Arbeitgeber, die Sozialverwaltung, das Arbeitsamt, das soziale Umfeld, der ehrenamtliche Helfer) am konkret Machbaren vorbei gehen. Viele wohlgemeinte und durchaus reflektierte Vorschläge sind nur dann sinnvoll, wenn sowohl der Sozialarbeiter, als auch die Betroffenen bei jedem Arbeitsschritt und in jeder Prozeßphase einbezogen werden. Es liegt mir fern, an dieser Stelle die hervorragende Arbeit vieler Kolleginnen und Kollegen kritisieren zu wollen. Es ist mir vielmehr ein Anliegen, die Integrationsbemühungen "Außenstehender" zu reflektieren und auf ihre Machbarkeit hin zu überprüfen. Nicht zuletzt sollen an dieser Stelle die Betroffenen selbst zu Wort kommen.

 

"Die meisten soziologischen Begriffsbestimmungen betonen bei der Integration, daß es sich um Vorgänge handle, die 'den Charakter eines sozialen Gebildes als Gestalt verstärken'. Jedenfalls handelt es sich bei der Integration stets um Einfügung in ein bereits bestehendes Gebilde und nicht um eine bloße Anfügung." (Schoeck; 1974, S.168) Ich habe jedoch nicht den Eindruck, daß ein "Gebilde eingefügt" wurde oder wird, sondern Zigeunersippen und -familien im Sinne einer Angleichung in die Mehrheitsgesellschaft assimiliert wurden und werden.

 

Um diesen Eindruck zu erhärten, möchte ich unterschiedliche Stellungnahmen zitieren.

 

"Integration verlangt nicht und setzt nicht voraus, daß eigene Lebensauffassungen, Wertvorstellungen, Glaubensinhalte aufgegeben werden. Integration erwartet Eingliederung in ein System ohne Selbstaufgabe und ohne Preisgabe der eigenen Individualität. Integration ist das, was wir den Fremden anbieten, ebenso gut meinend wie böswillig. Wer bei uns lebt, soll sich gefälligst anpassen; wenn die Italiener wollen, daß wir bei ihnen Urlaub machen, dann sollen sie gefälligst Wiener Schnitzel und Bratkartoffel, Sauerkraut und Eisbein servieren und ihre Lasagne selber essen, das kriegen wir in Köln auch! ...Die rasante und geradezu atemberaubende Veränderung unserer gesellschaftlichen Strukturen, auch unserer Kultur, hat eine unter uns lebende Minderheit grausam gepackt und ihr Leben nicht erschwert sondern unmöglich gemacht. So kommen die Phänomene zustande, daß es allenthalben im Land jetzt 'Zigeunersiedlungen' gibt, wo sie wohnen dürfen, wo sie unter sich sein können, aber ausgeschlossen von der Mehrheitsgesellschaft und auf die Hilfe der Mehrheitsgesellschaft an gewiesen. Sozialhilfe ist das Wundermittel, hier Sozialhilfe lebenslänglich und sicherlich noch für einige Generationen. Man nimmt dem Volk seine Freiheit, seine Lebensgewohnheiten, seine Kultur, man vernichtet es ohne zu morden durch Assimilation." (Jochum; 1989, S.14+17)

 

Aus der Sicht der betroffenen Zigeuner sieht die Einschätzung, was Integration bedeutet, so aus: "Und was jetzt die Schule und unsere eigene Kultur betrifft - das ist doch klar: Unsere Kinder sollen in den Schulen alles das lernen, was die anderen Kinder auch lernen. Und sie sollen auch gute deutsche Zigeuner werden. Sie sollen nicht gute Deutsche werden, sie sollen gute deutsche Sinti werden. Was bei uns dazu gehört? Das fängt mit der Sprache an, unsere Sprache ist das Wichtigste, dann unsere besondere Kultur, unsere eigenen Sitten und Gebräuche."  (Krausnick, Hrsg.; 1983, S. 107) Aus all diesen Aussagen ist zu entnehmen, daß die Hilfe und Integrationsversuche von Seiten der "Sozialprofis" - auch wenn sie gut gemeint sind - noch lange nicht einer Integration im Sinne eines gleichberechtigten Einfügens einer Kultur in die andere entsprechen. Im Gegenteil, Integrationsbemühungen münden allzu oft in alles verschlingende Assimilationsprozesse und somit automatisch in die Desintegration. Oft wurde mir von Zigeunern bedeutet, daß man (die Helfer) sie doch in Ruhe lassen solle. Die angebotene materielle Hilfe schön und gut, aber bitte nicht zum Preis der Aufgabe der Kultur.

 

Die Diplompädagogin Maria Amon - 10 Jahre Projektleiterin in der Sinte-Siedlung Düsseldorf-Eller - sagt hierzu: "Integration wird verstanden als aktiver gesellschaftlicher Prozeß und nicht als Assimilation. Die im Projekt tätigen Pädagogen verstehen sich in ihrer Rolle als 'Vermittler, Dolmetscher, Anwalt' zwischen der Mehrheitsgesellschaft  und  der  eigenständigen Kultur der Zigeuner." (Amon; 1987, S.4)

 

Jeder mag sich schon einmal bei dem Gedanken ertappt haben, daß das Zur-Verfügung-Stellen von öffentlichen Mitteln gefälligst auch ein Entgegenkommen der Zuwendungsempfänger bedeuten sollte. Nach dem Motto "Wes' Brot ich eß, des' Lied ich sing", würden die Zigeuner und ihre Kultur sehr bald aus unserem Leben verschwinden. Jeder mag selbst beurteilen, ob er dies wünscht.

 

Wenn man sich jedoch eine multikulturelle Gesellschaft vorstellt, ist der Verlust einer seit vielen Jahrhunderten bei uns anwesenden Kultur umso schmerzlicher.

 

4.2.3 Psycho-soziale Folgen für jugendliche Zigeuner

 

Aus dem oben genannten, läßt sich bereits entnehmen, welch teil weise belastenden Prozessen heranwachsende Zigeuner ausgeliefert sein können. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, daß ihr eigener Generationenvertrag volle Gültigkeit hat, und die Probleme der Eltern und Großeltern automatisch auch zu Problemen der Kinder werden.

 

Ich möchte an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, daß ich die Problemstellung dieses Abschnitts nicht untergliedern und nicht hierarchisieren möchte. Alle psycho-sozialen Folgen sind nur im Kontext zu sehen und zu verstehen.

 

Zurückkommend auf den besonderen Generationenvertrag der Zigeuner, muß man sich vor Augen halten, daß die besondere Erziehung und Sozialisation, die ein Zigeunerkind erfährt, durch Eingriffe von außen direkte Folgen für die Psyche des Kindes hat. "Wenn man sich der Bedeutung bewußt wird, daß ein Zigeuner nicht volljährig - in unserer Rechtsauffassung - wird, solange sei ne Eltern leben und wenn im Schul- und Jugendamt erlebt wird, daß ein 14jähriger, schulpflichtiger Zigeunerjunge, sobald er geheiratet hat, nicht mehr in die Schule zu zwingen ist, weil er, wenn er es denn täte, damit sein Gesicht verlieren würde vor der Familie - denn jetzt ist er weder Kind noch Jugendlicher, sondern Mann, dann muß man erkennen, daß der Gesellschafts- und Generationenvertrag dieser ethnischen Minderheiten in jeder Hinsicht von dem unserer Gesellschaft abweicht, aber ebenso wirksam seinen Zweck erfüllt, nämlich das Gleichgewicht zwischen Ordnung und Unordnung herzustellen, um die Entwicklung des Einzelnen zu gewährleisten und das Bestehen der Gesamtheit durch ein aus reichendes Maß an Ordnung zu sichern. Eingriffe von außen, nämlich durch uns, verursachen bei ihnen Chaos, weil sie das natürliche Gleichgewicht erschüttern, welches darin besteht, daß allen ihren Angehörigen die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden und sie zugleich dabei in der Lage sind, als Gemeinwesen die ungleichen Lebensansprüche der einzelnen Mitglieder zu schützen. Denn nur dadurch erreichen sie eine einigermaßen gerechte Gesellschaft ihrer Ethnien, nämlich das faire, unvoreingenommene, loyale, vorurteilslose Miteinander; unparteiisches Verhalten ohne Ansehen der Person, was ja an sich das Ziel einer jeden Gesellschaft ist."  (Sobeck; 1988, S.49+50) Die Einbeziehung des Zigeuner-Kindes in die schulische Ausbildung, die auf der Schulpflicht basiert, hat Folgen für das Kind, die Familie und das gesamte Gemeinwesen.

 

So berücksichtigt unser gängiges Schulsystem weder die Besonderheiten der Ethnie, noch den Identitätsverlust, den ein Schulbesuch mit sich bringen kann.

 

Der Psychologe Dr. Andreas Hundsalz macht hier aufmerksam in wieweit äußere Faktoren Einfluß auf die Entwicklung in der Schule haben: "Die räumliche Beengtheit der Wohnungen macht auch hier konzentriertes Schularbeiten oft zunichte (Ministery of Housing 1967) - ein Umstand, der noch schwerer bei den nomadisierenden Fahrenden ins Gewicht fällt, da hier ein Raum für Schularbeiten in der Regel erst recht nicht vorhanden ist (DWYER 1975). Da die Siedlungen der Zigeuner häufig am Rande der Städte zu finden sind, ergeben sich für Kinder lange Schulwege, die von ihnen nur allzuoft gescheut werden (vgl. JOCHIMSEN 1963, SOBECK 25, 1972)." (Hundsalz; 2980, S. 35)

 

Der Identitätsverlust, den ein Schulbesuch mit sich bringt, ist ausschlaggebend für psycho-soziale Störungen der Kinder. Bei manchen Zigeunern wird die schulische Ausbildung deshalb abgelehnt. Da keine Anerkennung in der Majoritätsgesellschaft statt findet, ist der soziale Abstieg vorprogrammiert und wirkt sich wenig motivierend für eine Berufsausbildung aus, - ein Circulus vitiosus den man in der Literatur immer wiederfindet und den ich selbst mehrfach beobachten konnte.

 

 

Ich möchte diesen "Teufelskreis" von Sozial- und Ausbildungsfaktoren den "Regelkreis-Identitätsverlust" nennen. Er zeigt, wie die klassische Sozialisation eines Zigeunerkindes in unserer Gesellschaft (bezogen auf die schulische und berufliche Qualifikation) aussieht.

 

a) Die latent vorhandene Angst, die ethnische Identität zu verlieren, macht Zigeuner mißtrauisch vor unserem Ausbildungssystem.

b) Die Ausbildung wird deshalb oft abgelehnt.

c) Dies führt zu einer fehlenden beruflichen Qualifikation.

d) Eine Eingliederung in die Majoritätsgesellschaft ist gefährdet, und der soziale Abstieg

e) führt zu einer Lebenssituation, die wenig motiviert, eine berufliche Qualifikation anzustreben, weil

f) diese wiederum einen Identitätsverlust zur Folge hätte.

 

Hier schließt sich der Kreis.

 

"In den seltensten Fällen finden die Kinder von Fahrenden aber in der Schule Unterstützung in ihrer Andersartigkeit. Die Beispiele konnten viel eher belegen, daß die Schule einen Entfremdungsprozeß der Kinder von ihren Eltern in Gang setzen kann. Fahrende müssen daher mit Recht die Schule als Angriff auf ihre ethnische Besonderheit empfinden (GUSTAFSON 1973). ... IVATTS (1975) bemerkt, daß die Schule die Kinder zwinge, die Normen und Werte der Nichtzigeuner anzunehmen, ähnlich, wie bereits die Eltern gezwungen worden seien, das Nomadisieren aufzugeben."  (ebd. S.48-49)

 

Der Kulturkonflikt, in dem sich Zigeunerkinder befinden, wenn sie die Schule der Nichtzigeuner besuchen, hat Auswirkungen. Es ist zu beobachten, daß die Kinder erhebliche Konzentrationsschwierigkeiten haben. Sie sind nicht in der Lage, außerhalb der Schulzeit, die ihnen aufgetragenen Aufgaben zufriedenstellend zu lösen. Sie fallen somit in der Schule durch Fehlleistungen auf und geraten dadurch, im Kontext von Schule, Lehrer und Mitschüler, in ei ne Außenseiterposition. Diese Außenseiterposition wiederum ist wenig motivierend für eine erneute bzw. veränderte Leistungsanforderung.

 

Durch die Außenseiterrolle bedingt, ist auch eine häufige Aggression zu beobachten. Die Erniedrigungen, die Zigeunerkinder auch heutzutage noch erfahren - sei es nun von Lehrern oder Mitschülern -, reizen zur Gegenwehr. Sie fallen dadurch negativ auf, erhalten oftmals Randpositionen im Schul- bzw. Klassenverband und sind wenig eingebunden in die soziale und lernende Gemeinschaft.

 

Für das einzelne Kind ist dies eine Sozialisation, die geprägt wird von Niederlagen und ewigen Kämpfen um Anerkennung. Die Konsequenz besteht für das Kind oft darin, sich gänzlich auf die Familie und Sippe, also auf die ihm am nächsten liegende soziale In stanz, zurückzuziehen. Dies ist zuletzt auch deshalb eine Konsequenz, weil sonst sicherlich psychische Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten noch stärker in Erscheinung treten würden. Wenn man so will, ist die einzige Chance zu überleben der Rückzug (s.a. 6.3.1.).

 

Zum Schluß noch eine Anmerkung von Andreas Hundsalz, der in seiner Untersuchung sozialpsychologische Aspekte einbezieht. "Denkbar wäre, daß die tendenzielle - bei Zigeunerkindern aufgefundene - Unsicherheit und Labilität aus dem Kulturkonflikt rührt, dem die Kinder zwangsläufig ausgesetzt sind. Wie bereits z.T. erwähnt wurde, muß das Zigeunerkind in zwei Welten auf wachsen - in der Gesellschaft der Fahrenden und der Gesellschaft der Nichtzigeuner (vgl. a. ADAMS u.a. 1975). Normen und Ziele dieser beiden Systeme können, wie viele Beispiele aus dem Schulalltag zeigen, gegensätzlich widersprüchlich sein." (ebd. S. 203)

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Soziale Arbeit mit jugendlichen Zigeunern
Untertitel
Ein Vergleich von zwei Projekten in Düsseldorf und Köln und die Entwicklung eines Modells für Neuss
Hochschule
Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach
Note
3
Autor
Jahr
1990
Seiten
78
Katalognummer
V185681
ISBN (eBook)
9783656981435
ISBN (Buch)
9783867465595
Dateigröße
842 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
soziale, arbeit, jugendlichen, zigeunern, vergleich, zwei, projekten, düsseldorf, köln, entwicklung, eines, modells, neuss
Arbeit zitieren
Helmut Zilliken (Autor:in), 1990, Soziale Arbeit mit jugendlichen Zigeunern , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185681

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