Intrinsische Gewaltmotive und ihre biographische Genese am Beispiel von jugendlichen Inhaftierten


Mémoire de Maîtrise, 2007

207 Pages, Note: 1.3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Einführung: Schlüsselbegriffe und Aktualität von Jugendgewalt

3. Jugendgewalt und Sozialisation

4. Theoretische Ansätze zur Erklärung von Gewalthandeln Jugendlicher

5. Beschreibung des Untersuchungsbereichs
5.1. Das Forschungsinteresse
5.2. Theoretische Grundlagen: „Kreislauf von Gewalt und Missachtung“ - Die Herausbildung intrinsischer Gewaltmotive“ nach Ferdinand Sutterlüty (2003)
5.3. Schaubild zur Theorie: „Kreislauf von Gewalt und Missachtung“/ Ferdinand Sutterlüty (2003)
5.4. Zur Vorgehensweise und Zielsetzung der Untersuchung

6. Das methodische Vorgehen im Forschungsprozess
6.1. Zum Grundverständnis qualitativer Sozialforschung
6.2. Abgrenzung: Narratives Interview - Leitfaden-Interview
6.3. Das fokussierte Interview/ Leitfaden-Interview
6.3.1. Kriterien für die Interviewführung
6.3.2. Probleme bei der Interviewführung

7. Die Datengewinnung im offenen Jugendvollzug Göttingen der JVA Rosdorf
7.1. Kontaktherstellung und Anbahnung der Untersuchung
7.2. Konzeption der Anstalt
7.3. Das Klientel der JVA Rosdorf
7.4. Auswahl der Interviewpartner und erster Kontakt
7.5. Der Ablauf der Interviewführung
7.6. Die Transkription

8. Fall I: Mohammed - „Das is´ für mich kein Vater mehr“
8.1. Tatbestandssicherung
8.2. Fallrekonstruktion Mohammed: Wie aus Opfern Täter werden
8.2.1. Interaktionsmuster im sozialen Umfeld
8.2.2. Entwicklungsstränge von Gewaltkarrieren
8.2.3. Gewaltausübung und intrinsische Gewaltmotive
8.2.4. Gesamtbetrachtung: Fall Mohammed

9. Fall II: Samir - „Immer Schreie gehört und...das Geheule von meiner Mutter...aber wir konnten nix machen...“
9.1. Tatbestandssicherung
9.2. Fallrekonstruktion Samir: Der Stiefvater als Gewalttäter - direkte und indirekte Viktimisierung in der Familie
9.2.1. Interaktionsmuster im sozialen Umfeld
9.2.2. Entwicklungsstränge von Gewaltkarrieren
9.2.3. Gewaltausübung und intrinsische Gewaltmotive
9.2.4. Gesamtbetrachtung: Fall Samir

10. Fall III: Deniz - „Mein Vater hat immer gesagt, wenn einer aufmuckt: schlag ihn einfach!“
10.1. Tatbestandssicherung
10.2. Fallrekonstruktion Deniz: Alltägliche Präsenz von Kriminalität und Gewalt als „Normalität“ und ihre Vorbildfunktion
10.2.1. Interaktionsmuster im sozialen Umfeld
10.2.2. Entwicklungsstränge von Gewaltkarrieren
10.2.3. Gewaltausübung und intrinsische Gewaltmotive
10.2.4. Gesamtbetrachtung: Fall Deniz

11. Fall IV: Erik - „ ...provozieren, warten bis der was macht und dann drauf hauen..“
11.1. Tatbestandssicherung
11.2. Fallrekonstruktion Erik: Die Suche nach dem Kick der Gewalt und das Machtgefühl
11.2.1. Interaktionsmuster im sozialen Umfeld
11.2.2. Entwicklungsstränge von Gewaltkarrieren
11.2.3. Gewaltausübung und intrinsische Gewaltmotive
11.2.4. Gesamtbetrachtung: Fall Erik

12. Fall V: Sergij - „...halb tot haben wir die geschlagen! Richtig in die Fresse mitm Totschläger...“
12.1. Tatbestandssicherung
12.2. Fallrekonstruktion Sergij: Faszination der “Gangsterkultur“: Drogen, Waffen und Gewalt
12.2.1. Interaktionsmuster im sozialen Umfeld
12.2.2. Entwicklungsstränge von Gewaltkarrieren
12.2.3. Gewaltausübung und intrinsische Gewaltmotive
12.2.4. Gesamtbetrachtung: Fall Sergij

13. Abschließende Gesamtbetrachtung und Kritik

14. Ausblick

15. Literaturverzeichnis

Anhang

A. Die Transkriptionszeichen

B. Interview I: Mohammed

C. Interview II: Samir

D. Interview III: Deniz

E. Interview IV: Erik

F. Interview V: Sergij

G. Leitfaden - relevante biographische Aspekte zur Genese von Gewalttätigkeit/ Dynamik „intrinsischer Gewaltmotive“

Dank gilt dem Personal der Abteilung II des offenen Jugendvollzugs der JVA Rosdorf in Göttingen und besonders dem Abteilungsleiter Herrn Holze, der diese Untersuchung ermöglicht und tatkräftig unterstützt hat.

Auch sei den inhaftierten Jugendlichen für ihre Kooperations- und Mitarbeitsbereitschaft herzlich gedankt, ohne welche die vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen wäre!

Intrinsische Gewaltmotive und ihre biographische Genese am Beispiel von jugendlichen Inhaftierten

1. Einleitung

In der Einführung sollen zunächst einmal die für diese Untersuchung zentralen Schlüsselbegriffe „Gewalt“ und „Jugend“ beleuchtet werden. Der Leser wird in diesem ersten Kapitel in das Thema „Jugendgewalt“ eingeführt, indem auf aktuelle Gewaltdiskussionen und die statistischen Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik Bezug genommen wird.

Kapitel drei soll einen Einblick in verschiedene theoretische Ansätze zur Entstehung von jugendlicher Gewalttätigkeit vermitteln. Darauf folgt im vierten Kapitel eine Definition von „Sozialisation“, welche für die Entstehung von Gewalttätigkeit im Jugendalter grundlegend ist. Die negativen Auswirkungen einer fehlgeschlagenen oder abweichenden Sozialisation als Einordnung des Individuums in die Gesellschaft werden in Bezug auf gewaltkriminelle Jugendliche thematisiert. In Kapitel fünf wird das Forschungsinteresse erläutert. Dazu wird das angewandte theoretische Konzept von Ferdinand Sutterlüty erklärt und anschließend in einem vom Verfasser entwickelten graphischen Schaubild verbildlicht. Daraufhin werden die Vorgehensweise des Forschers und die Ziele dieser empirischen Untersuchung dargelegt, wobei auf die Besonderheiten „retrospektiver“ Daten aus den Interviews eingegangen wird.

Das sechste Kapitel beinhaltet den Methodenteil. Zunächst wird die Beschaffenheit qualitativer Sozialforschung im Allgemeinen erläutert. Darauf folgt eine Abgrenzung zwischen dem narrativen und dem hier gewählten Leitfaden-Interview. Die nächststehenden Abschnitte beschreiben die theoretische Vorgehensweise, Kriterien und eventuelle Fehlerquellen in Leitfaden-Interviews. In Kapitel sieben wird der Prozess der Datengewinnung in der JVA Rosdorf dargelegt: Die Anbahnung der Untersuchung, die Auswahl der jugendlichen inhaftierten Interviewprobanden, der Ablauf der Interviewführung sowie der Vorgang der Transkription werden hier erläutert. Im Zuge dessen wird auch auf das Konzept der Vollzugsanstalt und deren Klientel näher eingegangen. Die Kapitel acht bis zwölf beinhalten aussagekräftige Interviewausschnitte mit anschließender Interpretation aus den fünf geführten Gesprächen. Die Vorgehensweise bei der Interpretation geschah einheitlich nach demselben Muster: Nach vorangestellten Rahmendaten der Interviewten - der Tatbestandssicherung - erfolgt eine stufenweise Auswertung der Daten in drei Schritten, wobei sich der Forscher an den Kategorien der Theorie Sutterlütys orientiert. Am Ende der Interpretation jedes Interviews erfolgt eine Gesamtbetrachtung des jeweiligen Falles.

In Kapitel dreizehn erfolgt eine abschließende Gesamtbetrachtung der Interviews sowie eine kritische Auseinandersetzung mit dem theoretischen Konzept von Ferdinand Sutterlütty.

Im nachstehenden „Ausblick“ werden Lösungsansätze für die praktische Arbeit mit gewalttätigen

Jugendlichen entwickelt. Der Forscher zeigt auf, inwieweit die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit die pädagogische Betreuung von Gewalttätern unterstützen und verbessern könnten. Im Anhang befindet sich sowohl eine Auflistung der verwendeten Transkriptionszeichen als auch das vollständig transkribierte Interviewmaterial aller fünf Jugendlichen. Auf der letzten Seite ist der vom Forscher entwickelte Leitfaden abgedruckt, um dem Leser das Erhebungsinstrument als Grundlage dieser Untersuchung vor Augen zu führen.

2. Einführung: Schlüsselbegriffe und Aktualität von Jugendgewalt

Die Gewalt Jugendlicher und Heranwachsender bzw. strafrechtlich relevante Gewalthandlungen, besonders die Gewalt an Schulen, sind in den letzten Jahren immer mehr ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt. Literatur zu diesem Thema gibt es massenhaft und in vielen Variationen. Die Kriminologie hat sich sogar als eigene Wissenschaftsdisziplin mit interdisziplinärem Ansatz der Erklärung von „Kriminalität als einem sozialen Phänomen“ verschrieben (Meier (2005), S.2).

Der Gewaltbegriff soll hier im Sinne einer physischen Gewalteinwirkung verstanden werden. „Gewalt“ meint daher in diesem Zusammenhang die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit einer Person durch eine andere gegen deren Willen. „Es steht die unmittelbar gegen Personen gerichtete und von Personen ausgeübte, illegale, d.h. strafrechtlich relevante, physische, mit Schädigungsabsicht ausgeführte Drohung, mit oder Anwendung von Gewalt im Zentrum“ (Wetzels/Enzmann (2001), S.51).

Ist im theoretischen Teil dieser Arbeit von „Jugendlichen“ die Rede, also genau gesehen die vierzehn- bis unter achtzehnjährigen, so kann sich der Leser die Heranwachsenden (achtzehn bis unter einundzwanzig Jahre) hinzudenken. Diese Altersangaben entsprechen dem Inhalt des §1 Abs. II des Jugendgerichtsgesetzes (JGG). Die Entwicklungsspannen gehen fließend ineinander über, sind abhängig von der individuellen Reife und lassen sich nicht klar voneinander trennen. Dem trägt auch das JGG in §105 I Nr. 1 Rechnung, indem auch auf Heranwachsende noch Jugendstrafrecht angewendet werden kann, wenn diese durch eine „Reifeverzögerung“ noch Jugendlichen gleichstehen (Schaffstein/Beulke (2002), S. 72f.). Ein neunzehnjähriger Heranwachsender kann in seiner Entwicklung einem siebzehnjährigen Jugendlichen gleichstehen sowie auch ein 23jähriger noch einem Heranwachsenden gleichstehen kann. Demnach kann sich ´Jugendkriminalität´ auch über das Jugendalter hinaus erstrecken. Daher und der Lesbarkeit halber wurde hier zum Großteil nicht differenziert - sonst müsste auch immer von Jugend- und Heranwachsendenkriminalität die Rede sein.

Der Jugendkriminalität wird im Allgemeinen ein „episodenhafter Charakter“ zugesprochen (Schaffstein/Beulke (2002), S.8), da „der junge Mensch noch in allmählicher Entfaltung seiner Verstandes- und Willenskräfte begriffen ist“ (ebd. S.4). Die Pubertät ist geprägt durch körperliche Reifeprozesse, seelische Krisen aber vor allem durch einen „starken Drang nach Erlebnissen, Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung“ (ebd. S. 5). In der überwiegenden Zahl der Fälle erledigt sich die Straffälligkeit mit dem Auslaufen der Pubertät von selbst (ebd.S.7).

Das kann aber nicht heißen, dass jede von jugendlichen Tätern begangene Straftat als entwicklungsbedingt ´normal´ angesehen werden darf! Besonders brutale Gewaltdelikte, die bei bestimmten Jugendlichen schon fast alltäglich geworden sind, die ihr Verhalten förmlich beherrschen, weil sie keine anderen Konfliktlösungsstrategien kennen oder umsetzen können, fallen hier aus der Reihe und können sich zu einer Gewaltkarriere auswachsen. An dieser Entwicklung ist meist der familiäre Hintergrund entscheidend beteiligt, was sich in den folgenden Interviews zeigen wird. Gewaltausübung und damit auch Gewaltkriminalität kann in dieser Kombination ein Symptom von oftmals belastenden Sozialisationserfahrungen sein. Es besteht zudem die „Tatsache, dass unter den verurteilten Jugendlichen (...) die aus der Unterschicht stammenden relativ stärker repräsentiert sind als die aus der Mittel- und Oberschicht...“(ebd. S.12).

Das Thema Jugendgewalt ist keinesfalls ´abgearbeitet´, sondern gewinnt zunehmend an Aktualität!

Ein Artikel aus dem Göttinger Tageblatt vom 5. Juni 2007 ist mit dem Titel „Ich pack mir jetzt den Dicken...aus Spaß“ überschrieben. Dieser „Dicke“ hat jedoch Anzeige erstattet und es ist sogar zum Verfahren gekommen. Der Staatsanwalt warf dem jungen Angeklagten vor, „er habe auf dem Schulhof einen Mitschüler beleidigt und körperlich misshandelt“. Das Wort „Fettsack“ sei gefallen, der Mitschüler sei in den Schwitzkasten genommen und ihm, nachdem er sich mit einem Fußtritt gewehrt habe, mehrfach mit der Faust ins Gesicht geschlagen worden. Der Angeklagte sagte: „Wir machen das immer so“( )“War ja nur Spaß“. Der Geschädigte hatte jedoch ein eingerissenen Ohr, Schwellungen und ein ausgerissenes Piercing davongetragen, wovon der Angeklagte angeblich nichts gemerkt habe. Näheres zur Situation oder einer Vorgeschichte, die diesen Gewaltausbruch erklären könnte, war dem Artikel nicht zu entnehmen.

Es ist nicht das einzige Beispiel, welches vermuten lässt, dass die Gewalttätigkeit, besonders unter Jugendlichen, ansteigt und brutalere Ausmaße annimmt. Denken wir nur an Gewaltvideos: Schüler filmen andere Schüler dabei, wie sie diese quälen, ihnen Zigaretten auf der Haut ausdrücken. Hier scheinen keine moralischen Grenzen mehr zu existieren; die Hemmschwellen, anderen etwas anzutun, wirken wie weggewischt.

Diese Fälle haben auch bei der Bevölkerung zu der Annahme geführt, die Jugendgewalt würde quantitativ ansteigen, wobei wohl auch die Berichterstattungen in den Medien zu einer gewissen Dramatisierung dieses Themas beigetragen haben kann, was sich wiederum auf die Intensivierung der wissenschaftlichen Forschung ausgewirkt haben könnte. Die Medienkonsumenten bestätigen das Bild einer steigenden Gewaltsamkeit, Forscher werten dies als Ergebnis der Studie und die Medien berichten wiederum von der nun wissenschaftlich bestätigten steigenden Gewalt. Diesen Mechanismus hat Böttger (1995b:6, in Böttger (1998), S.44) als „Wechselwirkung zwischen Medienberichterstattung und Sozialforschung“ beschrieben.

Schaut man sich die Entwicklung der allgemeinen Gewaltdelikte in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) an, scheint sich die öffentliche Meinung über die Gewalt Jugendlicher jedoch zu bestätigen. Es ist ein stetiger Anstieg in allen Altersstufen, besonders aber unter Jugendlichen und Heranwachsenden zu verzeichnen. Um nur einige Beispiele zu nennen: 1994 betrug die Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ) bezogen auf Körperverletzungsdelikte insgesamt 271.883. Im Jahr 2005 ist diese auf eine Zahl von 456.618 angewachsen, d.h. um fast 68% angestiegen! 1994 waren darunter 30.865 jugendliche Tatverdächtige zwischen 14 bis 18 Jahren, wogegen es 2005 schon 65.230 waren - diese Zahl hat sich in 11 Jahren mehr als verdoppelt! So ist auch die TVBZ der Personen unter 21 Jahren insgesamt in diesem Jahrzehnt von 66.225 auf 137.818 gestiegen; wiederum ein Anstieg von mehr als 100%! Bei Kindern unter 14 Jahren ist die Zahl von 7.731 (1994) auf 17.738 (2005) angewachsen. Das entspricht einem Anstieg von nahezu 130%!

Auch wenn die PKS als Statistik kein Abbild der Realität sein kann und verschiedenen Verzerrfaktoren unterliegt, wie z.B. der Dunkelfeldproblematik, Schwankungen in der polizeilichen Verfolgungsintensität und Präsenz oder der Anzeigefreudigkeit der Bevölkerung, (Schneider (1993), S.46, 47) kann dieses Bild einer steigenden Gewaltkriminalität doch als wirklichkeitsnah angesehen werden. „Jugendgewalt weist (...) (bezogen auf die Bevölkerungszahl) eine in Wellenbewegungen steigende Tendenz auf, und zwar Weltweit“ (Schaffstein/Beulke (2002), S.17).

„Gewalt hat sich in den verschiedenen Ausprägungen in den letzten Jahren nicht nur faktisch, real in einer neuen Weise gezeigt, sondern es hat sich auch im gleichen Zeitraum eine bestimmte Art, über Gewalt zu reden, entwickelt. Es ist, wie die Sozialwissenschaft sagt, ein „Gewaltdiskurs“ entstanden (...). Der öffentliche Diskurs über Gewalt ist vor allem bestimmt durch die Aussage, dass wir es mit einem Zunehmen von Gewalt zu tun haben“ (Hornstein (1996), in: Böttger (1998) S. 44). Der Fall der Neuköllner Rütli-Schule in Berlin ließ die „Lehrerschaft vor einer Atmosphäre der Gewalt in die Knie“ gehen! Es sei laut der Lehrer ein „Machtkampf um Anerkennung“ unter den Schülern ausgebrochen, wobei „der Intensivtäter“ als „Vorbild“ angesehen wird. So schreibt Ferdinand Sutterlütty in seinem Artikel in „die Zeit“ vom 06.04.2006 (Nr. 15 S.49). Er thematisiert hier die „soziale Benachteiligung“, „mangelnde Sozialintegration“ und „Perspektivenlosigkeit“ an einer Schule, die 17% deutsche und 61% arabische oder türkische Schüler besuchen. Dies seien „notwendige“, jedoch keine „hinreichenden Bedingungen“ für die Erklärung einer solchen Gewaltentwicklung. Sutterlütty macht hier besonders auf die Eigendynamik der Gewalt aufmerksam; auf die mit der Gewaltausübung unmittelbar verbundenen Gefühle der Selbsterhöhung und des „Machtgefühls“, welches der Täter, einmal erlebt und gespürt, immer wieder zum Anlass nimmt, weiterhin Gewalt auszuüben.

3. Jugendgewalt und Sozialisation

Wenn hier von „Sozialisation“ die Rede sein wird, so muss deutlich werden, welches Verständnis von „Sozialisation“ den nachfolgenden Seiten zu Grunde liegt.

Schlägt man den Begriff im Duden nach, so wird Sozialisation als „Prozess der Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft“ beschrieben (Der kleine Duden). Auf welche Weise nun dieser Prozess geschieht, darüber bestehen verschiedene Auffassungen.

Ältere sozialisationstheoretische Ansätze, wie z.B. das von A. Gehlen aus den 40er Jahren (Gehlen 1971 (1940) in: Böttger (1998), S.32) hatten eher einseitige Vorstellungen des Sozialisationsprozesses eines Individuums. Dieses fände die Gesellschaft einfach vor, an die es sich entweder anpassen kann, indem es ihren Normen und Handlungsvorstellungen entspricht. Oder das Individuum entwickelt sich entgegen der Gesellschaft; es entwickelt sich also abweichend - entgegen den allgemein herrschenden Wertevorstellungen. Dieses Verständnis von Sozialisation berücksichtigt jedoch nicht, dass eine Gesellschaft auch immer von den in ihr lebenden Individuen geprägt und verändert werden kann, sowie auch die Gesellschaft selbst diese verändert und prägt. Zudem kann diese Ansicht keine differenzierten Erklärungen liefern, wie abweichendes Verhalten von Gesellschaftsmitgliedern zu Stande kommt.

Das Modell des „produktiv realitätverarbeitenden Subjekts“ von K. Hurrelmann und D. Geulen geht von einer wechselseitigen Beeinflussung des Subjekts und der Gesellschaft aus: „...ein Modell der dialektischen Beziehungen zwischen Subjekt und gesellschaftlich vermittelter Realität, eines interdependenten Zusammenhangs von individueller und gesellschaftlicher Veränderung und Entwicklung.“ Dieses Modell stellt das menschliche Subjekt in einen sozialen und ökologischen Kontext, der subjektiv aufgenommen und verarbeitet wird, der in diesem Sinne also auf das Subjekt einwirkt, aber zugleich immer auch durch das Individuum beeinflusst, verändert und gestaltet wird.“ (Hurrelmann (1983:93 in Böttger (1998) S. 33ff.).

Jedoch ist in Bezug auf die Sozialisation eines Menschen besonders eines von Bedeutung: Das, was zuvor mit der „Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft“, in der er jeweils lebt, angesprochen wurde! Jeder Mensch hat seine individuelle Biographie, jeder wird auf unterschiedliche Weise durch sein soziales Umfeld, besonders durch seine Familie, sozialisiert, durchläuft einen individuellen Sozialisationsprozess. Dies ist unter anderen einer der Gründe, warum Menschen in verschiedenen Situationen verschiedenartige Verhaltensweisen zeigen. Zentral für eine, salopp gesagt, „gelungene“ Sozialisation ist, ob es dem Individuum gelingt, sich in die Gemeinschaft einzuordnen, sich mit ihren Werten und Normen zu solidarisieren bzw. diese in sein persönliches Werteverständnis zu übernehmen - Das Individuum wird vergesellschaftet! Von zentraler Bedeutung ist es daher, ob der Einzelne mit der Gesellschaft konform ist, in ihr und mit ihr leben kann und ihre moralischen Prinzipien in sich aufnimmt. Das gegenteilige Ergebnis, somit eine „nicht-gelungene“ Sozialisation wäre eine Art Ausgrenzungs-Status desjenigen, der, aus welchen Gründen auch immer, gesellschaftlich nicht konform lebt.

Eine u.a. nicht-konforme Verhaltensweise ist die Gewalttätigkeit bzw. die Gewaltkriminalität von Jugendlichen. „Gewalt ist so wichtig, weil sie als Merkmal der Abweichung, des Besonderen auftritt. Das Stigma - gewaltkriminell - wird zu einem ´Masterstatus´, der wie kein anderer die Stellung einer Person in der Gesellschaft sowie den Umgang anderer Menschen mit ihr bestimmt“ (Meyer (2001), S.244). Kriminelle und gewaltkriminelle Jugendliche nehmen in der Gesellschaft eine besondere Stellung ein. Von anderen Leuten werden sie als „Die Gewalttäter“ oder „Schläger“ bezeichnet. Durch Stigmatisierungs- und Etikettierungsprozesse können sie diese Bezeichnung in ihr Selbstbild aufnehmen und diese durch weitere kriminellen Handlungen bestätigen. Wenn diese Jugendlichen noch dazu ins Gefängnis kommen, heißen sie ab diesem Zeitpunkt „Knastis“ und haben so oft ihren Ruf im sozialen Umfeld eingeheimst. Dazu kommen die schweren psychischen Auswirkungen auf die Jugendlichen während der Haft, die soziale Isoliertheit durch die Trennung von Familie und Freunden, Reintegrationsschwierigkeiten nach der Entlassung sowie Probleme einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden. Diesen „Masterstatus“ werden diese Jugendlichen so schnell nicht mehr los. „Durch den normativen und somit ordnenden Charakter der Kategorie Gewalt ist diese nicht trennbar von der Thematik der Ausgrenzung!“ (a.a.O.).

„Die Gewalt, wie sie nun verstanden wird, erfüllt eine neue und äußerst wichtige Funktion. Sie ist heute das einzige Kriterium geworden, mit dem man „gute“ von „schlechten“ Jugendlichen und damit letztlich „gute“ von „schlechten“ Menschen unterscheiden kann“. Das Kriterium der „Auffälligkeit“ stelle so den Menschen „ins totale gesellschaftliche Außen“ (Terkessidis (1996) in: Meyer (2001), S. 244).

Terkessidis nimmt hier eine Einteilung in „Gut“ und „Schlecht“ vor. Soweit zu gehen wäre jedoch vermessen, zumal Keinem das Recht zu steht, einen Menschen lediglich auf Grund seiner Gewalttätigkeit als grundsätzlich „schlecht“ zu bezeichnen - schon gar nicht Kinder oder Jugendliche!

Jedoch wird klar, in wieweit die Gewalttätigkeit mit sozialer Ausgrenzung einhergehen kann. Die Gewalttätigkeit als Form von Nichtkonformität kann zu einem Außenseiterdasein führen, sich verselbstständigen und durch Etikettierungsprozesse in einer Gewaltkarriere münden. Gewalttätige Jugendliche teilen oft nicht das Werteverständnis der Gesellschaft, können die moralischen Prinzipien dieser nicht in ihr Verhalten integrieren und leben somit ihre eigenen Regeln. Dies wird bei der Lektüre einiger Interviewpassagen noch deutlicher werden.

4. Theoretische Ansätze zur Erklärung von Gewalthandeln Jugendlicher

Es gibt zahlreiche Theorien, die versuchen, Jugendkriminalität zu erklären. Fest steht, dass die Entstehung von jugendlicher Gewalttätigkeit viele Ursachen haben kann und nicht reduzierbar ist auf eine einzige Bedingung. Es müssen verschiedene Ebenen in die Erklärung einbezogen werden wie die Familie, die Beziehung zwischen Eltern und Kind, die Schule, das Lebensumfeld und schließlich die gesamtgesellschaftliche Ebene.

Zentral scheinen hier unter anderem Individualisierungsprozesse, bedingt durch höhere geographische und soziale Mobilität, Konkurrenzwirtschaft und Urbanisierung. Das Individuum ist zunehmend auf sich allein gestellt und für sich selbst verantwortlich (Böttger (1998), S. 49f.). Mit Blick auf das im vorherigen Kapitel beschriebenen Sozialisationsmodell von Hurrelmann und Geulen, nach dem das Subjekt durch seine Umwelt beeinflusst wird, kann in Individualisierungsprozessen durchaus ein „struktureller Grund“ dafür gesehen werden, „dass es in der Entwicklung Jugendlicher zu massiven Orientierungsproblemen kommen kann“ (Böttger (1998), S. 50). Heitmeyer (1993) nimmt zu dieser theoretischen Annahme wie folgt Stellung: „ Jugendliche können heute mehr entscheiden als frühere Jugendgenerationen, sie müssen aber auch mehr entscheiden - ohne häufig zu wissen, woraufhin sie denn Entscheidungen treffen sollen“ (a.a.O.). Drohen dann auch noch Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg und bestehen zusätzlich ungünstige familiäre Verhältnisse, in denen die Jugendlichen nicht aufgefangen werden können, „bleibt ihnen oft nur die Gewalt als Weg, sich wenigstens in körperlicher Form gegenüber anderen zu behaupten (Böttger (1998), S. 50f.).

Nach dem „labeling approach“ bewirken Reaktionen der Gesellschaft auf Gewalthandlungen - also strafrechtliche Konsequenzen aller Art, Missbilligung im sozialen Umfeld, die Bezeichnung als Krimineller - dass die Täter als Kriminelle ausgegrenzt werden, sich selbst mit diesen Zuschreibungen identifizieren und diese durch Stigmatisierungsprozesse in ihr Selbstbild übernehmen. Dazu schreibt Fritz Sack: „...Das Verdikt: ihm ist diese Tat zuzuschreiben, er ist für sie verantwortlich, er hat für die Konsequenzen einzustehen, begründet das Merkmal „Krimineller sein“, schafft diese Eigenschaft im wahrsten Sinne des Wortes.“ (Sack (1968) in: Böttger (1998), S. 51).

Nach der von Merton entwickelten Anomietheorie kann Kriminalität bzw. auch Gewalt aus der Zunahme sozialer Gegensätze entstehen: Aufgrund der Diskrepanz zwischen kulturellen (Werte und Norm) und sozialen Strukturen, zwischen gesellschaftlich angestrebten Zielen (z.B. Reichtum/Wohlstand) und für das Subjekt verfügbaren Mitteln besteht ein anomischer Druck, der zu kriminellem oder abweichendem Verhalten führen kann, da die propagierten Ziele mit legalen Mitteln nur schwer oder gar nicht erreicht werden können (Merton (1968), in Wetzels/ Enzmann (2001), S. 53).

Es kann auch davon ausgegangen werden, das der Konsum von bestimmten Medien, wie Gewalt- computerspiele, Action- oder Horrorfilme sich im Sinne des „produktiv realitätverarbeitenden Subjekts“ (s. Kapitel 4.) auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen auswirken können. Besondere Bedeutung kommt frühen Sozialisationserfahrungen im Umfeld der Familie, besonders der Eltern- Kind- Beziehung, für die spätere Entwicklung zur Gewaltbereitschaft und kriminellem Verhalten zu. Die familiären Beziehungen legen gewissermaßen den Grundstein für die Entwicklung der Kinder bzw. der Jugendlichen: Sie „...vermitteln im Kern die Erfahrung, im unmittelbaren Umfeld emotional angenommen und akzeptiert oder aber abgelehnt und nicht unterstützt zu werden. Über die Familie können insoweit individuelle Problemlagen abgepuffert oder aber auch verstärkt werden.“ (Wetzels/Enzmann (2001), S. 54). Hiermit sind nun schon bindungstheoretische Ansätze angesprochen, die u.a. einen Zusammenhang zwischen Bindungsmustern von Eltern und Kind und Entwicklung von Gewaltbereitschaft annehmen. Es gilt als empirisch bestätigt, das Gewalterfahrungen in der Familie die Wahrscheinlichkeit von kriminellem und gewalttätigem Verhalten im Jugendalter erhöhen (ebd. S.55).

Zudem kann angenommen werden, dass die Ausübung und das Erlernen von Gewalthandlungen eng an die Beobachtung derartiger Handlungen geknüpft ist. In der lerntheoretischen Perspektive argumentiert Bandura: „ Most of the behavior that people display are learned observationally, either deliberately or inadvertently, through the influence of example. By observing the actions of others one forms an idea of how the behavior can be performed, and on later occasions the representation serves as a guide for action. Laboratory research has been mainly concerned with observational learning of specific aggressive actions” (Böttger (1998), S. 47f.).

Das Konzept der Angstbewältigung durch Aggression geht auf einen von Anna Freud beschriebenen Abwehrmechanismus des Individuums zurück, mit dem es peinliche oder unerträgliche Vorstellungen und Affekte in den Griff zu bekommen versucht. Dabei geht es aber nicht um eine einfache aggressive Reaktion, um das vermeintlich gefährliche Objekt ungefährlich zu machen, sondern um eine Abwehr der Angstgefühle mit Hilfe des gleichen Verhaltens, wie es vom bedrohlichen Objekt ausgeht bzw. wahrgenommen wird. „Mit der Darstellung des Angreifers, der Übernahme seiner Attribute oder seiner Aggression verwandelt das Kind sich ( ) aus dem Bedrohten in den Bedroher.“ (Freud (1973), S. 88). Die gewalttätige Reaktion geschieht hier also als Reaktion zur Angstbewältigung auf die Aktion des Angreifers, wenn keine anderen sozial verträglichen Verhaltensweisen zur Abwehr der Angst entwickelt werden konnten. Eine wesentliche Voraussetzung für die Erarbeitung solcher Möglichkeiten ist ein inneres Selbstvertrauen und die innere Sicherheit, die mehr oder weniger auf der Erfahrung beruht, dass man welchen Anforderungen auch immer gewachsen sein wird.

Zumeist ist es ein komplexes Bedingungsgefüge „sozialer, ökonomischer, kultureller, politischideologischer und psychischer Faktoren“ (C. Hopf (2005), S. 179), die im Zusammenspiel erst das Produkt - hier die Gewalttätigkeit - hervorbringen.

5. Beschreibung des Untersuchungsbereichs

5.1. Das Forschungsinteresse

Nicht die Jugendgewalt als solche liegt im Kern des Interesses. Das, um was es hier zentral gehen wird, ist ein bestimmter Aspekt der Jugendgewalt oder besser gesagt ein im Rahmen von Jugendgewalt häufig aufkommendes Phänomen: Wie kann es zu unglaublich brutalen Gewalttaten kommen, die zum eigentlichen Anlass der Auseinandersetzung völlig außer Verhältnis stehen? Warum springt ein Jugendlicher einer anderen Person auf den Kopf und sagt: „Will´s knacken hören!“ (Sutterlütty (2003), S. 49)? Es wirkt, als sei dieser Jugendliche gewissermaßen in einem Rauschzustand, in dem er immer weiter auf dem Kopf des Opfers herumspringt und darauf wartet, dass die Schädelknochen nachgeben. Dies scheint, als ob es Situationen gäbe, in denen Hemmschwellen wie weggewischt sind und keine moralischen Zweifel mehr zugelassen werden (können). Es drängt sich die Vermutung auf, dass die Akteure ihr Gewalthandeln paradoxerweise als positives Erlebnis, geradezu als „Spaß“ empfinden.

Dieses Phänomen der Jugendgewalt, so kritisiert Sutterlütty, sei zwar von einigen Autoren benannt, jedoch „in der einschlägigen Forschung kaum systematisch untersucht und in ihrer explikativen Bedeutung erkannt“ worden (ebd. S.41). Natürlich hat Gewalt ihre Hintergründe in der biographischen Sozialisation. Jedoch kann dies ein solch extremes Verhalten nicht vollständig erklären. „Gewalt macht etwas mit den Menschen, das ihnen offensichtlich ein Bedürfnis sein kann“ (Lutz in: Hertzfeld/Schäfgen/Vern (2004),S. 268). Es wird hier um eine handlungstheoretische Erklärung von Gewalthandlungen gehen, um die Gefühle, die durch Gewalthandlungen bei Jugendlichen ausgelöst werden sowie um die biographische Entstehung der Motive, Gewalt auszuüben.

Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses sollen Jugendliche stehen, die massiv als Gewalttäter in Erscheinung getreten sind; deren Sozialisationserfahrungen vermutlich diese Entwicklung entscheidend gesteuert haben. Dazu sollen in Leitfadeinterviews erhobene Situationen der Gewaltausübung selbst im Zentrum der Interpretation stehen: Was macht die Gewaltausübung so attraktiv?

Darüber hinaus soll der Versuch unternommen werden, die Biographie der Jugendlichen in Bezug auf familiäre Gewalterfahrungen zu untersuchen und zu rekonstruieren, um so den Bogen zu schlagen zur späteren eigenen Gewaltausübung. Es gilt hier gerade auch diese für die Akteure wahrscheinlich unterbewusst existenten Ursachen für ihr Gewalthandeln durch die Interpretation der jeweiligen familiäreren Interaktionsmuster bzw. ihrer Sozialisation herauszuarbeiten.

5.2. Theoretische Grundlagen: „Kreislauf von Gewalt und Missachtung“ - Die Herausbildung intrinsischer Gewaltmotive nach Ferdinand Sutterlüty (2003)

F. Sutterlüty stellt in seiner Untersuchung „Gewaltkarrieren - Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung“ (2003) die konkrete Situation der Gewaltausübung von Jugendlichen ins Zentrum seiner Interpretation und kann so die motivierenden Auswirkungen der währenddessen erfahrenen Erlebnisse herausarbeiten. Er stellt die mögliche Eigendynamik des Gewalthandelns heraus und entwickelt anhand von Interviews mit Jugendlichen das Konzept der intrinsischen Gewaltmotive:

„Diese Motive gehen aus den spezifischen Qualitäten von Erlebnissen hervor, mit denen jugendliche Täter bei der Gewaltausübung in Berührung kommen“ (Sutterlüty (2003), S. 77). Das heißt, dass die Gewalt um ihrer selbst wegen ausgeübt wird und sogar „von Anfang an das Agens des gewalttätigen Handelns“ darstellen kann (a.a.O.). In anderen Fällen können sich intrinsische Motive auch später in die Handlungssituation einschleichen und zu „extrinsischen“ Motiven hinzutreten (a.a.O.). Im Kern geht es um die besondere „Erlebnisqualität und -intensität“, die „eine eigene Motivationsquelle der Gewaltausübung darstellen und eine Eigendynamik gewinnen kann“ (ebd. S. 47).

Diese intrinsischen Gewaltmotive weisen drei Dimensionen auf: (ebd. S. 77).

Der Triumph der physischen Überlegenheit, die Schmerzen des Opfers und die Überschreitung des Alltäglichen.

Diese Motive werden durch eine Rekonstruktion der familiären Interaktionsmuster biographisch hergeleitet, denn Untersuchungen bestätigen, „dass Jugendliche, die im Lauf ihrer Sozialisation Opfer elterlicher Gewalt wurden, eine weit überproportionale Neigung zur Gewaltkriminalität aufweisen“ (ebd. S.110 f.). Die Analysen führen hier zu dem Ergebnis, dass „gewalttätige und Annerkennungsansprüche verletzende Interaktionen“ die „familiäre Sozialisation“ der Jugendlichen prägen/prägten. Dabei machten sie Erfahrungen der Ohnmacht und der Missachtung.

Bei den Ohnmachtserfahrungen geht es um Situationen, in denen die Jugendlichen sich der Gewalt von Erziehungspersonen ohnmächtig ausgeliefert sahen, weil sie beispielsweise körperlich unterlegen waren oder sich nicht trauten sich zur Wehr zu setzen. Ohnmachtserfahrungen machten sie sowohl, als sie selbst Opfer von Gewalt wurden als auch wenn sie mit ansehen mussten, wie eine ihnen nahe stehende Personen, z.B. die Mutter, Opfer von Misshandlungen durch z.B. den Vater wurden. Man spricht in Folge von Gewalterfahrungen im ersten Fall von direkter und im zweiten Fall von indirekter Viktimisierung. Beides kann zu massiven Angstgefühlen über die Situationen hinaus und Rachegefühlen gegenüber dem Täter führen. Das Opfer kann sich sogar selbst als der Schläge würdig empfinden, was zu einem negativen Selbstbild führen kann. Zudem kann das Opfer auch die Reue vorspiegeln, um weiteren Misshandlungen durch den Täter zu entgehen. Auch ist es möglich, dass sich das Opfer unempfänglich für Schmerzen macht, das eigene Unrechtsempfinden unterdrückt und sich so der Lage anpasst, um sozusagen seelisch immun zu werden. Dies sind Anpassungen an das Verhalten des Täters, um die Gewalt besser ertragen zu können. Diese Hilflosigkeit spiegelt sich in den Äußerungen der Jugendlichen wieder: „Ich konnt´ ja nix machen!“ Dies bei beiden Formen der Viktimisierung! „Der Gewalt an einer nahe stehenden Person beizuwohnen ist ebenso eine Opfererfahrung wie die am eigenen Leib erfahrene Gewalt, auf welche die permanente Angst folgen kann, immer wieder auf die eigene Unterlegenheit und Ohnmacht zurückgestoßen zu werden“(ebd. S. 168 f.). Die Ohnmachtserfahrungen weisen drei Komponenten auf:

Die physische Wehrlosigkeit: Die Opfer sind noch zu klein und schwach, um sich selbst oder z.B. ihre Mutter schützen zu können. Sie sind nicht in der Lage die Situationen zu steuern oder den Schlägen zu entrinnen. Es spielt dabei eine große Rolle, ob eine andere Person sie zu schützen in der Lage ist - als positiver Gegenpol bzw. als ausgleichender Schutzfaktor für das Kind. Zweitens führt die Wehrlosigkeit, wie oben erwähnt, zu Angstgefühlen, die die betroffenen Kinder oft völlig einnehmen. Sie haben Angst nach Hause zukommen, können nicht schlafen aus Angst vor weiteren Schlägen. Drittens gehen Ohnmachtserfahrungen mit moralischen Verletzungen einher: Die Opfer können nicht so handeln, wie sie es für richtig empfinden! „Weil die Realisierung des intuitiv als richtig empfundenen Handelns immer neue Rückschläge erfährt, erleben sie sich nicht nur im physischen, sondern auch im moralischen Sinne als ohnmächtig und als moralische Person verletzt“ (ebd. S. 170).

Die Folgen von Ohnmachtserfahrungen können „Projektionen der Gegengewalt“ sein (a.a.O.). Wie sich in den folgenden Interviewausschnitten zeigen wird, spielen die Opfer schon oft früh mit dem Gedanken, sich an dem Täter zu rächen und sind schon früh vertaut mit dem Gedanken an die eigene Gewalttätigkeit. Es kann demnach ein Zusammenhang zwischen Ohnmachtserfahrungen und Gewaltprojektionen angenommen werden. Dies gilt sowohl für die direkte als auch für die indirekte Viktimisierung. Diese Gewaltphantasie kann sich gegen den Täter richten oder auch außerhalb der Familie ihre Entladung finden. Familiäre Ohnmachtserfahrungen sind ein wesentlicher Aspekt bei dem Versuch die Frage zu beantworten, wie es zur Gewalttätigkeit Jugendlicher kommen kann.

Weiterhin sind Ohnmachtserfahrungen meistens begleitet von Missachtungserfahrungen innerhalb der Familie, die unterschiedliche Formen annehmen können. Dies können ein „nur“ passiver Annerkennungsentzug, wie z.B. Vernachlässigung oder Nichtbeachtung oder auch Handlungen der aktiven Demütigung und Erniedrigung sein (ebd. S.191). Missachtungsgefühle können auch „das Nebenprodukt von Umständen wie der zeitweiligen Trennung von den Eltern infolge geographischer Mobilität oder der versagten Kommunikation aufgrund des Alkoholismus eines Elternteils“ sein (a.a.O.). Die „Zurücksetzung gegenüber den Geschwistern“ oder die „erniedrigende Behandlung der Kinder als bloße Last“ können zu Missachtungsgefühlen führen. Diese Erfahrungen sind meist fester Bestandteil der familiären Interaktion; eine Missachtungsdynamik entwickelt sich fort, welche die Selbstkonzepte der Kinder und Jugendlichen nicht unberührt lässt: Die negativen Etikettierungen gehen in ihr eigenes Selbstbild über, führen bei den Jugendlichen zum Verlust des Vertrauens in sich selbst und die eigenen Stärken und zur Entstehung eines Anerkennungs- und Identitätsproblems. Dies ist meist von schulischen Problemen begleitet. Die negativen Erwartungen an sich selbst, bedingt durch mangelndes Selbstvertrauen, wirken sich auch auf das Verhalten der Jugendlichen aus, das wiederum missachtendes Verhalten des Umfeldes bedingt.

Diese Anerkennungsproblematik wird von den Jugendlichen nach dieser Theorie folgendermaßen gelöst: „Gewalt und die Zugehörigkeit zu gewalttätigen Gruppen erscheint diesen Jugendlichen oft als die Lösung ihres biographisch erworbenen Problems der mangelnden Anerkennung und Selbstachtung. Sie wollen ihre Selbstschätzung durch die Zugehörigkeit zu gewaltbereiten Gruppen reparieren und sich durch die Ausübung von Gewalt ihrer Überlegenheit und Größe versichern“ (ebd. S. 206f.). Hier wird der Zusammenhang zwischen Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen und Gewalt deutlich.

Die Folgen dieser Erfahrungen, also negative Selbstkonzepte und Gewaltprojektionen, führen zu Gewalttätigkeit, die verspricht, das Selbstbewusstsein der Jugendlichen zu stärken.

Der Transfer innerfamiliärer auf außerfamiliäre Gewalthandlungen geschieht durch sog. „gewaltaffine Interpretationsregimes“ (ebd. S. 277 ff.). Die Jugendlichen tragen ihre Deutungsmuster familiärer Bedrohung mit in andere Kontexte hinein - Die Opfererfahrungen schwingen weiterhin mit und bestimmen die gewaltförmigen Reaktionsmuster. Sie meinen daher ständig abwehrbereit sein zu müssen, um nicht mehr das hilflose Opfer von damals zu sein. Das heißt aber nicht, dass es auch tatsächlich immer zur gewalttätigen Reaktion kommen muss - diese erscheinen in dem Moment jedoch als am naheliegendsten, da sie den befürchteten Angriffen zuvorkommen wollen. Es besteht eine Art Triebkraft zu gewalttätigen Handlungen. Die familiären Probleme führen zu schulischen Problemen; die Jugendlichen wenden sich von ihrem Zuhause ab, schwänzen die Schule und finden leicht den Zugang zu gewalttätigen Gruppen, die ihrer „Affinität zur Gewaltsamkeit“ die „Entfaltungsräume bieten“ (ebd. S. 288).

Die erste Gewalthandlung wird bei Sutterlüty als „epiphanische Erfahrung“ beschrieben, bei der das einstmalige Opfer in die Täterrolle schlüpft, was eine Art „biographischen Wendepunkt“ markiert (ebd. S. 256). Der Jugendliche macht Erfahrungen mit den Gefühlen bei der Gewaltausübung - gegen den einstigen Täter oder außerhalb der Familie - die sich ihm als eine Art Offenbarung darbietet und ihm ein neues Selbstverständnis eröffnet. Er erlebt sich endlich als handlungsfähige, eigenständige und durchsetzungsstarke Person im Gegensatz zum früheren ohnmächtigen Ausgeliefert-Sein. Dieses Gefühl möchten die Jugendlichen ab diesem Wendepunkt immer wieder erleben.

Das führt dazu, dass die Jugendlichen ihre Gewaltsamkeit als positiv erleben. „Sie erwarten, dass die Gewalt ihnen eine bisher nicht gekannte Anerkennung verschafft und ihnen eine ungeahnte Größe verleiht“ (ebd. S294). Diese geht einher mit der Herausbildung von „Gewaltmythologien und Kämpferidealen“, die ins Selbstbild aufgenommen werden (ebd. S. 293 ff.). Die Jugendlichen glauben, dass „körperliche Stärke, Kampftauglichkeit und Gewalt Anerkennung verschaffen“, was auch von ihrer gewalttätigen Gruppe so gesehen wird. In den Interviews zeigt sich, dass die Jugendlichen den Gewaltmythologien zwiespältig gegenüberstehen, zumal sie sich ja wegen ihrer Gewalthandlungen im Vollzug befinden. „Die Anerkennungserwartung wird durch gegenläufige Gewaltfolgen konterkariert“ (ebd. S. 294).

Aus dieser Konstellation, besonders durch die moralische Aufwertung von Gewalt, können die genannten intrinsischen Gewaltmotive hervorgehen und sich verselbstständigen. Diese drei „Entwicklungsstränge jugendlicher Gewaltkarrieren“ (ebd. S. 250ff.) müssen nicht stufenweise aufeinander folgen, bauen jedoch aufeinander auf und können auch gleichzeitig nebeneinander herlaufen. „Gewaltkarriere“ bezeichnet begrifflich die Gewaltakte jugendlicher Wiederholungstäter, deren Taten in einem internen Zusammenhang miteinander stehen, also keine „isolierten Ereignisse darstellen“ (ebd. S. 251) und einen Entwicklungsprozess erkennen lassen.

Die „physische Überlegenheit“ (ebd. S. 78 ff.), die sich oftmals als „Machtgefühl“ bei den Jugendlichen niederschlägt, zeigt sich als erste der drei intrinsischen Motivationen, Gewalt auszuüben. Hiermit ist der Triumph, über den Gegner zu siegen und der Stärkere zu sein, gemeint. Oft geht damit auch die Erzwingung des verbalen Eingeständnisses des Opfers einher, welches den Täter in seiner überlegenen Position bestätigt. Die Überwältigung des Gegners äußert sich beim Täter in einem Überlegenheitsgefühl, welches ihm die Anerkennung verschafft, die er nie bekommen hat.

Als zweite Dimension gelten „die Schmerzen des Opfers“ (ebd. S.81 ff.), die untrennbar an die Gewaltausübung gekoppelt sind. In vielen Fällen stellt die Schmerzzufügung für den Täter einen Genuss dar, an der er sich erfreut und es genießt, dass der Gegner wegen ihm Schmerzen empfindet. Die Leiden des Opfers sind es, welche den Täter zu weiteren Schlägen motiviert, weil er sie als Lustvoll erlebt. Dieses Motiv kann den Täter schon vor der Gewaltausübung nach einer Gewalttat trachten lassen oder aber sich erst während der Tat einstellen.

Die „Überschreitung des Alltäglichen“(ebd. S. 86 ff.) bildet als dritte Dimension einen zusätzlichen Anreiz für die Gewaltausübung. Hier gelten nicht die Regeln des Alltags; die Jugendlichen sprechen mehrfach vom „Austicken“ und „Ausflippen“ oder von einem Adrenalinschub. Dies bezeichnet einen sowohl körperlichen als auch moralischen Ausnahmezustand, der den Reiz der Situation ausmacht und sich vom sonstigen Leben abhebt. Die Jugendlichen denken nicht mehr an Folgen für sich selbst oder für das Opfer. Das Denken wird abgeschaltet.

Die Gewaltausübung ist für die Täter mit diesen positiven Gefühlen besetzt und kann somit zum Selbstzweck werden. Die Gewalt wird wegen der durch sie erzeugten Emotionen ausgeübt, die der Täter nicht mehr missen möchte. Dies ist der Kern dessen, was laut der Theorie als intrinsische Gewaltmotivation bezeichnet wird. Dieses kann eine Erklärung für ausgesprochen brutale Taten abgeben, die schwer durch normative oder instrumentelle Tatmotive erklärbar wären. Intrinsische Gewaltmotive können zum einen schon die Suche nach Gewalttaten anleiten oder erst während der Gewalttat hinzutreten und die Oberhand gewinnen. All diese Motive können nebeneinander auftreten, bei dem Einen ist eines der Motive überwiegend, bei einem Anderen fehlt ein Motiv komplett.

Die Erkenntnis, von solchen Motiven geleitet zu sein, können die Jugendlichen nicht ohne weiteres in ihre Selbstkonzepte aufnehmen und kompensieren diese Zwiespältigkeit in den Erzählungen oft durch Rechtfertigungen.

Es ist von einem Kreislauf der Gewalt die Rede, da die erwartete Anerkennung durch Gewalttaten letztlich Ablehnung zur Folge hat, die wiederum weitere Gewalt nach sich zieht, um der Ablehnung einen Ausgleich zu verschaffen. Dieser Kreislauf wird weiterhin bestehen bleiben, „solange das biographisch erworbene Problem der Anerkennung und der Selbstachtung nicht gelöst ist und die gewaltaffinen Interpretationsregimes in Kraft“ und Gewaltmythologien bestehen bleiben (ebd. S. 322).

5.3. Schaubild zur Theorie: „Kreislauf von Gewalt und Missachtung“/ Ferdinand Sutterlüty (2003)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

5.4. Zur Vorgehensweise und Zielsetzung der Untersuchung

Es soll versucht werden, jugendliche Gewaltkarrieren im Hinblick auf die vorgenannte Theorie zu rekonstruieren. Der Leitfaden wurde so konzipiert, dass er die Theorie Sutterlütys mit Antworten füllt. Er beinhaltet daher Fragen zur Biographie der Jugendlichen, zu deren Eltern, zur Interaktion innerhalb der Familie, zu Gewalterfahrungen und zur eigenen Gewaltausübung (siehe Anhang). Zu Beginn jeder Fallinterpretation erfolgt eine „Tatbestandssicherung“, die als eine Art Einführung in den jeweiligen Fall über bestimmte Rahmendaten des Interviewten informiert. Dies sind „objektive Sachverhalte“, „von denen nach durchschnittlichen Denkgewohnheiten angenommen werden kann, dass sie objektiv richtig sind, d.h. dass sie keine lediglich subjektiven Deutungen enthalten und dass der/die Befragte hier nicht lügt.“ (W. Hopf (2004), S.2).

Die anschließende Interpretation orientiert sich dabei an den durch die Theorie Sutterlütys vorgegebenen Kategorien bzw. analysiert den Text systematisch nach Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen, den Entwicklungssträngen jugendlicher Gewaltkarrieren sowie nach den Dimensionen intrinsischer Gewaltmotive. Dazu werden Interviewausschnitte illustriert und anschließend im Hinblick auf das theoretische Konzept analysiert. Bei der Interpretation der nachfolgenden Interviewabschnitte soll versucht werden, eine wirklichkeitsnahe Wiedergabe des Gesagten und eine gewissenhafte Interpretation dessen zu gewährleisten. Das „illustrative Material“ sollte somit geeignet sein, dem Leser „einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die beobachtete Welt wirklich ist, während die Interpretationen des Forschers eine distanzierte Konzeptionalisierung dieser Wirklichkeit (des Interviewten) liefern sollen“ (Strauß/Corbin (1996), S. 7). Die Interpretation der Interviews erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Wahrhaftigkeit. Das vollständige Interviewmaterial befindet sich im Anhang. Der Leser kann so Passagen im Kontext noch einmal nachlesen. Es ist Ziel der Untersuchung zu prüfen, inwiefern die vorgenannte Theorie auf das vorliegende Interviewmaterial anwendbar ist bzw. worin sich die Theorie ggf. nicht mit diesem vereinbaren lässt. Dies kann zu einer Erweiterung bzw. Einschränkung der Theorie von F. Sutterlüty führen.

Dazu muss man den Aspekt berücksichtigen, dass es sich bei den interpretierten Daten um retrospektive handelt: Das heißt, dass der Erzählende seine Wirklichkeit aus seiner heutigen Perspektive rekonstruiert, so wie der Forscher diese „Rekonstruktion“ wiederum in seiner Darstellung und Analyse rekonstruiert. „Lebensgeschichte ist immer rekonstruktiv. Sie stammt aus dem Heute, handelt vom Gestern und Vorgestern.“ (Meyer (2001), S. 170); sie ist daher „Fiktion“ und immer vermischt mit subjektiven Deutungen und wird demnach nie als „realer“ Ereignisablauf und „wirkliche“ Erfahrung anzusehen sein (Sutterlüty (2003), S. 31). Es ist daher nicht zu umgehen, dass biographische Erzählungen immer als verarbeitete Erzählungen angesehen werden müssen. Es stellt sich z.B. die Frage, ob ein Interviewter, der als Kind häufig Zeuge von brutalen Ausbrüchen des Vaters wurde, diese aus der heutigen Perspektive entdramatisiert und ob er diese früher vielleicht als dramatischer erlebte. Ob eine Situation nun aus der Gegenwartsperspektive erzählt wird, oder ob es sich um die Erzählung aus einer vergangenen Perspektive handelt (Kindheit), muss am Material entschieden werden, zumal dies auch Aufgabe der Interpretation ist!

6. Das methodischen Vorgehen im Forschungsprozess

Zur Begründung der Entscheidung für gerade diese Form der qualitativen Forschungsmethoden ist es hilfreich sich vor Augen zu führen, was qualitative Forschung grundsätzlich will und wie dies mit der vorliegenden Untersuchung vereinbar ist. Zudem soll das hier angewandte fokussierte Interview bezüglich Planung, Durchführung und Auswertung sowie die Ziele der Methode erläutert werden.

6.1. Zum Grundverständnis qualitativer Sozialforschung

Ganz grundsätzlich geht es in dieser Untersuchung nicht um die Erfassung einer großen Anzahl von „Fällen“, was schon aufgrund des begrenzten Zeitraums nicht möglich gewesen wäre. Die Fragestellung ist rein qualitativ ausgerichtet.

Qualitative Forschung bezeichnet diejenigen Forschungen, bei denen die Ergebnisse nicht aus statistischen oder sonstigen Formen der Quantifizierung stammen. Natürlich können die gewonnenen Daten auch mengenmäßig betrachtet, also quantifiziert werden, oder die Daten entstammen bereits einer quantitativen Erhebungsmethode (z.B. Bevölkerungszählungen). Jedoch ist die Auswertung der gewonnenen Ergebnisse rein qualitativer Art und könnte als „nicht-mathematische analytische Vorgehensweise“ bezeichnet werden (Strauß/Corbin (1996), S. 3) Nach Strauss/Corbin (1996, S. 5) untergliedert sich ein qualitatives Forschungsprojekt in drei wesentliche Bestandteile. Dies ist erstens das Datenmaterial, bzw. die Datenerhebung, wobei am häufigsten Interviews oder Beobachtungen gewählt werden. In umfangreicheren qualitativen Studien, welche z.B. nach dem Schema der von den Soziologen Anselm Strauss und Barney Glaser entwickelten Grounded Theorie (vgl. Strauss/Corbin (1996), S. 7f.) vorgehen, wird die Datenerhebung beendet, wenn sich keine neuen Informationen in Bezug auf die Theorie mehr gewinnen lassen, die Theorie also hinreichend gefestigt ist - dann besteht eine sogenannte „theoretische Sättigung“ (Sutterlütty (2003), S. 19).

Doch setzt die Erfüllung dieses Kriteriums einen gewissen Spielraum an Zeit voraus, der für diese Untersuchung nur begrenzt zu Verfügung stand. Zum anderen verpflichtet sich die vorliegende Forschung nicht der Grounded Theorie.

Es steht zu Beginn dieser Untersuchung eine Theorie, die durch die Untersuchungsresultate, das ausgewertete Datenmaterial, bewiesen bzw. wiederlegt, erweitert oder begrenzt werden könnte. Bei der Grounded Theorie handelt es sich jedoch um eine umgekehrte Vorgehensweise, bei der sich die Theorie über einen bestimmten Gegenstandsbereich erst im Laufe des Forschungsprozesses anhand der untersuchten Phänomene entwickelt (vgl. Strauss/Corbin (1996), S. 7f.).

In einem zweiten Schritt, dem „kodieren“, werden die gewonnene Daten je nach Intention und Erfahrung des Forschers interpretiert bzw. analysiert, um daraus bestimmte Theorien und Schlussfolgerungen zu ziehen. Der Umfang der Analyse variiert je nach Menge des Datenmaterials, bzw. hier nach der Anzahl der geführten Interviews.

Der dritte Schritt beinhaltet schriftliche oder mündliche Berichte über die Ergebnisse der Forschung. Doch worum geht es in der qualitativen Forschung eigentlich? Was ist diese sogenannte Qualität? Es geht in der qualitativen Forschung in erster Linie um die Erfassung von subjektiven Sinnstrukturen, um die Rekonstruktion von Erfahrungswelten auf subjektiver Ebene, um daraus bestimmte Folgerungen für die Erklärung von Phänomenen zu ziehen. Forschungsgebiete, wie Biographie- oder Verhaltensforschung wären mit quantitativen Methoden wohl nur oberflächlich und unzureichend ausgelotet. Den Ergebnissen würde es an der nötigen Tiefgründigkeit fehlen. Und um diese geht es ja gerade, wenn man die subjektiven Denk- und Handlungsweisen von Personen erfassen möchte.

Das herausragendste Merkmal, wohl aber auch die Stärke qualitativer Methoden ist die Erfassung der Welt aus der Sicht des Alltagshandelnden.

Versucht man Phänomene jugendlicher Gewalttätigkeit nicht nur zu untersuchen, sondern auch zu verstehen, ihre Dynamik zu erfassen, kann es nur auf diesem Wege erfolgen. Die Betonung liegt hier lediglich auf dem Verstehens versuch, denn menschliches Denken und Handeln ist zu komplex, als dass es einer Person gelingen könnte, eine andere Person 100%ig richtig zu verstehen - zumal man einen Menschen immer noch als Experten seiner selbst ansehen sollte, auch wenn viele Dinge sogar für ihn selbst nicht immer durchsichtig scheinen oder nur unterbewusst präsent sind. Dies muss der Interviewer bei der Interpretation der Interviewpassagen immer im Auge behalten.

Der Forscher benötigt dazu eine Methode, die geeignet ist, zumindest einen kleinen Einblick in die subjektive Welt des Informanten zu gewähren.

6.2. Abgrenzung: Narratives Interview - Leitfaden-Interview

Als offenste Form qualitativer Interviews kann das von Fritz Schütze entwickelte „narrative Interview“ angesehen werden, bei dem eine offene Erzählaufforderung eine Stehgreiferzählung hervorbringen soll (Flick (2004), S. 147). Die Erzählaufforderung kann sich entweder auf die gesamte Lebensgeschichte oder auf eine bestimmte Lebensphase richten. Bei dieser „Haupterzählung“ darf der Interviewer nicht unterbrechen und soll aufmerksam zuhören! Im „narrativen Nachfrageteil“ kann der Interviewer unklar gebliebene Aussagen des Interviewten weiter ausloten. Dabei sollen die Fragen immer Erzählungen generieren. Der Grund dafür ist die Besonderheit der Erzählung als solche, bei der sich der Erzähler in bestimmte Zugzwänge verstrickt: Der Gestalterschließungszwang, der dazu führt, dass der Erzähler seine Erzählung von Anfang bis Ende erzählt. Der Kondensierungszwang, der den Erzähler dazu veranlasst, die Geschichte für den Zuhörer verständlich und nachvollziehbar zu gestalten und schließlich der Detaillierungszwang, der die Erzählung durch das Einbringen von Hintergrundinformationen und Zusammenhängen zu einem in sich vollständigen und verstehbaren Ganzen zusammenfügt (Flick (2004), S. 150). Jedoch wurden für die Datengewinnung keine narrativen Interviews verwendet. F. Sutterlüty führt drei Gründe an, warum das Leitfaden-Interview für seine Untersuchung geeigneter schien (Sutterlüty (2003), S. 21ff.): Erstens bedarf es einer gezielten Erzählaufforderung, bzw. für das Erkenntnisinteresse relevanten Frageformulierung. Eine offene Erzählaufforderung, wie auch immer formuliert, wäre zu unspezifisch und durch das Thema von vornherein begrenzt. Den inhaftierten Jugendlichen wäre bewusst, dass der Forscher eigentlich an einem bestimmten Thema - das der Gewalt- interessiert ist und dies würde ihre Erzählung beeinflussen.

Gerade bei dem Thema „Gewalt“ ist es nötig, dass der Interviewer die Möglichkeit des konkreten Nachfragens hat. In den Schilderungen der Jugendlichen werden oftmals die eigenen Gefühle weniger oder gar nicht erwähnt, Erzählungen über Gewalttaten werden ausgeschmückt oder beschönigt. Dazu kommt, „dass gerade gewalttätige Jugendliche ihre familiäre Herkunft verschweigen, wenn der Interviewer nicht danach fragt“ (Sutterlütty (2003), S. 22). So geht R. Bohnsack u.a. von einer „Eliminierung der familienbezogenen Kindheitsgeschichte“ (ebd.) bezogen auf narrative, biographische Interviews mit Hooligans aus.

Zum dritten gibt es in Gesprächen über konfliktreiche Lebensphasen oft „unwiederbringliche Momente“, die später beim Nachfragen nur schwer wieder zu beleben sind (Sutterlütty (2003), S. 23). Gerade ein Nachfragen spiegelt dem Erzähler das Interesse des Interviewers wieder und kann ihn zu weitern Schilderungen bewegen. Diese Gründe sprachen auch bei der vorliegenden Untersuchung für die Wahl eines Leitfaden-Interviews.

Die nachstehende Untersuchung macht sich die beschriebenen Erzählzwänge zu Nutze. Ein Großteil der geführten Interviews beinhalten Erzählungen, d.h. der konzipierte Leitfaden zielt regelrecht auf das Hervorlocken von Erzählung bestimmter Situationen ab („Kannst du mal eine Situation erzählen, in der du dich mit deinem Vater gestritten hast?“)

6.3. Das fokussierte Interview/ Leitfaden-Interview

Zunächst in den 40er Jahren in den USA aus der Propaganda-Wirkungsforschung entstanden, wurde das fokussierte Interview von Merton und Kendall (1956) zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Forschungsmethode weiterentwickelt (Lamnek (2005), S. 368f.).

Die Vorgehensweise kann wie folgt beschrieben werden:

Der Forscher versichert sich bei dieser Methode, soweit dies möglich ist, dass seine Informanten die zu erforschende spezifische Situation - hier die Gewaltausübung - durchlebt und erfahren haben. Diese Situation ist Zentrum der Analyse und Voraussetzung der Auswahl der Interviewpartner. Um alle für diese Situation, bzw. für die Beantwortung der Fragestellung relevanten Aspekte abzudecken, entwirft der Forscher für das Interview einen Leitfaden mit den entsprechenden Fragen und Themengebieten. An diesem sollte er sich orientieren, sich jedoch keinesfalls strikt an die vorformulierten Fragen halten.

Denn im fokussierten Interview geht der Forscher vom subjektiven Relevanzsystem des Interviewten aus. Er will untersuchen, wie die Adressaten selbst die Situation erlebt haben und welches ihre Reaktionen waren. Das Ziel des Interviews ist es demnach, die „subjektiven Erfahrungen des Befragten in der früher erlebten und vom Forscher aufgrund der Beobachtung analysierten Situation zu erfassen“ (Lamnek (2005), S. 369). Durch die Analyse und Interpretation des gewonnenen Datenmaterials können dann die Reaktionen der Befragten in der entsprechenden Situation mit den vom Forscher zuvor entwickelten Hypothesen verglichen werden, so dass sich die „hypothetisch bedeutsamen Elemente und Muster“ herauskristallisieren. Man könnte sagen, dass hypothetische Annahmen mit den Befunden des Interviews abgeglichen werden; gewissermaßen an der Wirklichkeitüberprüft werden. Je nachdem, ob die Hypothesen des Forschers zutreffend sind oder nicht, werden die Hypothesen entweder bestätigt, verworfen und neu formuliert oder modifiziert (Merton/Kendall in Hopf/Weingarten (1993), S. 171f.).

Um im Interview an „signifikante Daten“ und „produktives Interviewmaterial“ zu gelangen, ergeben sich nach Merton/Kendall (Hopf/Weingarten (1993), S. 178f.) bestimmte Kriterien, die der Interviewer beachten muss.

6.3.1. Kriterien für die Interviewführung

Dies ist erstens die „Nicht-Beeinflussung“ des Informanten, dem für seine Ausführungen so viel Raum als möglich eingeräumt werden sollte. Die Interventionen des Interviewers sollten sich auf ein „Minimum“ beschränken, um dem Befragten die Strukturierung seiner Erzählungen selbst zu überlassen. Dies ist nötig, um das oben genannte subjektive Relevanzsystem des Informanten hervorzubringen.

Zum zweiten müssen die angesprochenen Themenbereiche und Fragen spezifisch und ausführlich behandelt werden. Die „Spezifität“ soll die Analyse der subjektorientierten Deutungen der Situation gewährleisten und zum Ausdruck bringen, so dass sich diese dem Interviewer vollständig und spezifisch darstellt.

Ein drittes Kriterium ist die „Erfassung eines breiten Spektrums“ der Situationsdefinition, wodurch die Situation im gesamten Kontext erfasst werden kann. Das „Drumherum“, der persönliche und soziale Kontext soll so im Ganzen erfasst werden (siehe auch C. Hopf, in: Zeitschrift für Soziologie (1978), S. 100)

Ein letzter Anspruch an das fokussierte Interview besteht in der „Tiefgründigkeit“ und dem „personalen Bezugsrahmen“. Der Forscher kann sich nicht mit eher oberflächlichen Deutungen von Situationen wie etwa „positiv“ oder „negativ“ zufrieden geben. Er muss versuchen, den spezifischen Bedeutungsgehalt von Äußerungen des Informanten ans Licht zu bringen und soll besonders die Äußerungen von Gefühlen anregen. Es geht darum, so intensiv wie möglich die subjektiven Einstellungen zur entsprechenden Situation zu erforschen und auszuloten. Daher muss der persönliche und soziale Kontext weitreichend erfasst werden, der die Grundlage für eine aussagekräftige Interpretation darstellt.

Durch besondere Formen der Frageformulierung, die dem Interviewten genügend Raum zu individuellen und umfassenden Antworten geben, (z.B. unstrukturierte oder halboffenen Fragen) werden diese Kriterien begünstigt (genauer dazu Merton/Kendal in Hopf/Weingarten (1993), S. 180f.). Merton/Kendal stellen dazu fest, dass „der Verzicht auf direktive Methoden (...) bewirkt, dass die Antworten tiefgründiger, umfassender und spezifischer werden“. Im Gegensatz dazu kann „eine einzige direkte Frage (...) unbeabsichtigt beeinflussende Begriffsinhalte“ vorgeben. Diese Art der Frageformulierung sei außerdem selten von Nöten, da der Untersuchungsbereich von vorneherein abgesteckt sei und der Interviewte von sich aus selten vom Thema abkommt. Sollte dies dennoch geschehen, kann der Interviewführer auch einfach auf den Gesprächsgegenstand verweisen und den Informanten so zum Thema zurückführen (ebd.).

6.3.2. Probleme bei der Interviewführung

C. Hopf hat in ihren Ausführungen zur „Pseudo-Exploration“ für eine besonders „restriktive Kontrolle“ des Interviews bzw. der „Spontanität des Befragten“ durch den Interviewer den Begriff der sog. „Leitfadenbürokratie“ entwickelt (C. Hopf, in: Zeitschrift für Soziologie (1978), S.114). Hiermit ist jedoch nicht gemeint, dass ein Interview, das alle im Leitfaden aufgeführten Themenkomplexe tatsächlich beinhaltet, „leitfadenbürokratisch“, also zu unflexibel und starr in Bezug auf die Relevanzen des Interviewten zustande gekommen sein muss. Erst wenn das Interview ein bloßes „Abhaken“ der Fragen darstellt und der Interviewte in seinen Antworten „blockiert“ wird, wirkt sich dies negativ auf die im vorherigen Kapitel genannten Kriterien und somit auf den produktiven Gehalt des Interviews aus (C. Hopf, in: Zeitschrift für Soziologie (1978), S. 102). Diese Leitfadenbürokratie kann verschiedene Bedingungen haben: Unter Anderem mangelnde Erfahrungen des Interviewers mit den Interviewtechniken, sowie eher strukturelle Bedingungen des Interviews an sich, wie z.B. Verunsicherungen, Spannungen, die sich auf der Seite des Interviewers durch sein „Ausfrageverhalten“ ergeben könnten (C. Hopf, in: Zeitschrift für Soziologie (1978), S. 101).

Zudem ergibt sich aus dem begrenzten zeitlichen Rahmen eine Art Informations- und Zeitdruck. Auch der Interviewer der hier vorliegenden Arbeit musste sich nach den individuellen Zeitplänen der Jugendlichen richten und es bestanden Einschränkungen bezüglich des organisatorischen Tagesablaufs in der Vollzugsanstalt. Die Interviews konnten somit nur ab 16 Uhr (Arbeitsende) und im Zeitfenster von maximal 2,5 Stunden stattfinden. Dies kann u.U. dazuführen, dass der Interviewer versucht, in der Kürze der Zeit soviel Informationen wie möglich zu erhalten, was eine „Leitfadenbürokratie“ begünstigen kann (C. Hopf, in: Zeitschrift für Soziologie (1978), S. 101ff.).

Darauf soll hier aber nicht genauer eingegangen werden.

Wichtig ist aber, dass sich der Interviewer vor den Interviews mit seinem Leitfaden auseinandersetzt, ihn verinnerlicht und sich der genannten Probleme wirklich bewusst ist. Er muss sich im Klaren darüber sein, welche Informationen er erlangen möchte und welche eher irrelevant für sein Thema sind, woraus sich auch ergibt, wann der Forscher eine Situation vertiefend erfragen sollte oder ggf. den Befragten zurück auf das zu behandelnde Thema lenken muss. Neben dem Informationsinteresse des Forschers gelten in erster Line die Relevanzen des Befragten im Rahmen des abgesteckten Themas.

7. Die Datengewinnung im offenen Jugendvollzug Göttingen der JVA Rosdorf

Das Klientel des offenen Jugendvollzugs Göttingen erscheint qualitativ und quantitativ als fruchtbares Forschungsfeld und für das genannte Thema gut geeignet zu sein. Im Folgenden soll nun diese Einrichtung sowie ihre inhaftierten Jugendlichen und Heranwachsenden beschrieben werden, so dass der Leser Einblick in den Kontext der Datengewinnung bekommt.

7.1. Kontaktherstellung und Anbahnung der Untersuchung

Nach der ersten Kontaktaufnahme mit dem Abteilungsleiter der Abteilung II und der Zusage der JVA Rosdorf in Göttingen musste das Forschungsvorhaben durch das Niedersächsische Justizministerium -Kriminologischer Dienst im Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzuges- genehmigt werden. Auf die entsprechenden Formalitäten und Verpflichtungen wie „Einwilligungserklärungen der Gefangenen“, den Schutz der erlangten personenbezogenen Daten vor unbefugten Dritten sowie die Anonymisierung der Daten wurde der Forscher im Vorfeld durch die Anstaltsleitung hingewiesen. Um die Forschung zu erleichtern bzw. ein freies Bewegen in der Anstalt zu ermöglichen, wurde zudem der Status einer ehrenamtlichen Mitarbeit befürwortet.

7.2. Konzeption der Anstalt

Die Abteilung „offener Jugendvollzug 1 Göttingen“ der JVA Rosdorf ist eine Einrichtung des Landes Niedersachsen. Es sind hier nur männliche jugendliche und heranwachsende Erstverbüßer untergebracht, die zu einer maximalen Jugendstrafe von 3,5 Jahren verurteilt worden sind. Sexualdelinquenz, Tötungsdelikte, Brandstiftung sowie extreme Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie Drogenabhängigkeit sind Kriterien für den Ausschluss der Aufnahme in die Einrichtung. Es sind 125 Haftplätze vorhanden, die sich in zwei Vollzugsabteilungen untergliedern. Die Abteilung II, aus der auch die Interviewpartner stammen, verfügt derzeit über 60 Plätze und ist in sechs Gruppen untergliedert, die jeweils bis zu 10 Personen fassen. Jeder Inhaftierte verfügt über einen eigenen Haftraum. Im Vollzug der Jugendstrafe stehen das Lernen regelmäßiger Tagesabläufe, die Förderung schulischer und beruflicher Bildung, das Lernen sozialer Werte und Verantwortungsbewusstsein im Vordergrund. Den Jugendlichen sollen Perspektiven für eine legale Lebensführung eröffnet werden, um sich nach der Entlassung in die Gesellschaft eingliedern zu können.

Die Inhaftierten haben die Möglichkeit, in der JVA ihren Hauptschulabschluss sowie extern weiterführende Schulabschlüsse zu absolvieren. In vier handwerklichen Berufen können sich die Jugendlichen orientieren und anteilig ausbilden lassen. Auch Praktika oder Berufsausbildungen außerhalb der Anstalt sowie das Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) können bei Geeignetheit des Inhaftierten angestrebt werden.

Für alle Gruppen bildet ein individueller Erziehungs- und Behandlungsplan die Basis für die Arbeit mit den einzelnen Jugendlichen und Heranwachsenden. Weiterhin gibt es eine Vielzahl differenzierter Freizeitgestaltungsmöglichkeiten in der Anstalt.

Außerdem ist zentraler Punkt in der Arbeit mit den Strafffälligen, dass sie sich mit ihren Straftaten und sich selbst auseinandersetzen, um Eigenverantwortung, Rechtsbewusstsein sowie neue Handlungsstrategien entwickeln zu können. Besonders das „Kreative Aggressions- Transformierungs-Training“ setzt sich speziell mit jugendlichem Gewaltverhalten auseinander, da ein Großteil der Inhaftierten wegen z.T. schwerer Körperverletzungsdelikte eine Haftstrafe verbüßt. Weitere Angebote wie „Seelsorge“, Schuldenregulierung, Entlassungsvorbereitung und Drogenarbeit unterstützen die Inhaftierten bei der Bewältigung ihrer Lebenssituationen. Das Konzept entspricht somit den Anforderungen des §91 Abs.1 JGG, der den Erziehungsgedanken im Jungendstrafvollzug ausdrücklich formuliert: „Durch den Vollzug der Jugendstrafe soll der Verurteilte dazu erzogen werden, künftig einen rechtschaffenden und verantwortungsbewussten Lebenswandel zu führen.“ So hat auch im gesamten Jugendstrafrecht dieser Erziehungsgedanke oberste Priorität und trägt somit der oben genannten Tatsache der besonderen Lebensphase der Pubertät Rechnung.

7.3. Das Klientel der JVA Rosdorf

Eine große Zahl der Inhaftierten ist ausländischer Herkunft; hier sind verschiedene Nationalitäten und damit unterschiedliche Kulturen und Religionen vertreten. Der überwiegende Teil verfügt nicht über einen Schulabschluss und der Anteil an Realschülern und Schülern weiterführender Schulen ist äußerst gering. In der Regel haben die Inhaftierten ihren Sonder- oder Hauptschulabschluss abgebrochen und der Bildungsstand ist insgesamt ziemlich niedrig.

Zudem sind die Biographien der jungen Inhaftierten häufig geprägt durch familiäre Probleme wie Scheidung der Eltern, häusliche Gewalt, Alkoholkonsum der Erziehungspersonen oder/und Arbeitslosigkeit. Das Erlernen von sozialverträglichen Verhaltenweisen und einer angemessenen Frustrationstoleranz konnte oft nicht erfolgen. „Des Weiteren zeigen die Erfahrungen von Praktikern wie auch die anderer Fachleute, dass immer mehr junge Inhaftierte in zunehmendem Maße vielfältige psychosoziale Probleme (Drogenprobleme, psychische Störungen wie z.B. eine antisoziale Persönlichkeitsstörung) aufweisen und Kriminalität hier nicht mehr einfach als eine jugendtypische Phase in Erscheinung tritt. Bei Migranten kommen häufig andere Problematiken hinzu, wie etwa traumatische Erlebnisse in Krisengebieten oder Identitätsverluste im neuen soziokulturellen Umfeld. Dieses Bild spiegelt sich auch bei den Interviewteilnehmern fast ausnahmslos wieder.

7.4. Auswahl der Interviewpartner und erster Kontakt

Da Daten zu der spezifischen Fragestellung dieser Untersuchung erhoben werden sollten, mussten die Interviewpartner überlegt ausgewählt werden.

Natürlich war es nicht genau absehbar, welche Jugendlichen relevante Ereignisse und Erfahrungen berichten werden, die für die Fragestellung ergiebig sind. Dies konnte sich konkret erst im Gespräch selbst herausstellen. Der Abteilungsleiter stellte eine Liste mit Jugendlichen zusammen, die für die Untersuchung in Frage kamen. Bei der Auswahl waren besonders folgende Fragen von Bedeutung: Wer ist häufig durch Gewalttätigkeit in Erscheinung getreten? Wer ist besonders durch brutales Gewaltverhalten aufgefallen? Gibt es Anhaltspunkte, für eine kontinuierliche Hinentwicklung zur Gewalttätigkeit? Hat der Informant im familiären Kontext Erfahrungen mit Gewalt gemacht? Die interviewten Jugendlichen sind zum Großteil ausländischer Herkunft. Dies war jedoch eine zufällige Auswahl des Abteilungsleiters und lässt nicht auf einen überproportionalen Anteil von ausländischen Jugendlichen in der JVA schließen.

Die Kontaktherstellung mit den Inhaftierten gestaltete sich unkompliziert. Es fand mit jedem Einzelnen ein persönliches Gespräch statt, in dem die Termine für die einzelnen Interviews und die Art der Datenerhebung besprochen wurde. Dazu wurde erklärt, dass alle Daten vertraulich behandelt werden würden. Die Interviewten unterschrieben daraufhin eine Einverständniserklärung, die zu ihren Akten gelegt wurde.

7.5. Der Ablauf der Interviewführung

Vor den Gesprächen wurden die Akten der Inhaftierten studiert, damit der Forscher über gewisse Rahmendaten, wie z.B. Daten der Flucht aus dem Ausland, Schulwechsel usw. schon vor der Erhebung informiert war. Dies geschah, um Verständnisschwierigkeiten zu vermeiden und um sich besser auf das Gespräch einstellen zu können. Dies hätte zwar zu unvorteilhaften Situationen während der Interviews führen können; z.B. hätte der Interviewte sich fragen können, wie der Forscher an eine bestimmte Information gelangt ist, hätte sich vielleicht hintergangen oder ausspioniert fühlen können. Jedoch waren die Inhaftierten damit einverstanden, dass der Forscher Einblick in deren Akten nehmen durfte. Die vorherige Akteneinsicht schien für die Informationsgewinnung von Bedeutung und hat die Qualität der Interviews nach Meinung des Forschers nicht negativ, sondern wohl eher positiv beeinflusst.

Jedes Vieraugengespräch fand nachmittags oder gegen Abend in einem Besprechungszimmer der JVA statt. Die Jugendlichen wurden durch den Interviewer vor dem besprochenen Termin aus ihren Gruppen abgeholt. Zur Aufzeichnung der Gespräche diente ein einfacher Kassettenrekorder mit Mikrophon. Die Funktionalität der technischen Geräte sollte im Vorfeld unbedingt überprüft werden! „Die Aufzeichnung des Interviews gewährleistet, dass die Narration in einer authentischen Form für den Forschungsprozess verfügbar ist“ und abrufbar bleibt (Meyer (2001), S.166). Ihr Gelingen ist die Grundlage für eine gehaltvolle Interpretation und Analyse des Gesagten.

Den Probanden wurden Kekse sowie Getränke angeboten, um die Gesprächssituation aufzulockern und eine angenehme Atmosphäre zu schaffen.

Im Nachhinein fertigte der Interviewer ein Protokoll über die Interviewsituation an, in dem die Atmosphäre, Auftreten des Probanden, seine Gestik und Mimik während des Gesprächs und bestimmte Eigenheiten (wie z.B. Schüchternheit, auffallende Redseligkeit oder Genervtheit) festgehalten wurden. Außerdem enthielt das Protokoll auch Befindlichkeiten des Interviewers: War er unsicher? Hat er evtl. Kriterien für die Interviewführung nicht beachtet? Wie hat er sich verhalten? Dadurch kann sich der Interviewer bei der Analyse den gesamten Erhebungsablauf besser ins Gedächtnis rufen.

7.6. Die Transkription

Alle fünf Interviews wurden vollständig, bis auf einige kleinere Auslassungen (z.B. Wiederholungen), transkribiert. Es wurde versucht, das Gesagte möglichst genau wiederzugeben - das Original-Gespräch zu reproduzieren! Da es bei der Illustration der Interviewpassagen nicht um eine exakte sprachliche, sondern um eine inhaltliche Analyse des Gesagten geht, bedarf es einer Darstellungsform, die ein relativ „flüssiges Lesen“ ermöglicht. Die Transkription des Tonmaterials orientiert sich an den von G. Rosenthal aufgestellten Transkriptionsregeln (siehe Anhang, S.1). Lediglich das Zeichen für „Dehnung“ (Doppelpunkt) wurde nicht bzw. anderweitig verwendet; der Doppelpunkt wird hier für die Kenntlichmachung einer wörtlichen Rede genutzt.

Diese Form der Transkription wurde gewählt, da sie den Text bzw. die Erzählungen der Befragten nicht zu sehr auseinanderreißt; d.h. die Erzählungen bleiben in ihrer Gestalt gut lesbar und verständlich, so dass sich der inhaltliche Sinn leicht erschließen lässt. Das Lesen wird nicht durch störende und überflüssige Zeichen erschwert. Die Namen der Interviewten wurden geändert und ihrer Nationalität angepasst.

8. Fall I: Mohammed - „Das is´ für mich kein Vater mehr”

8.1. Tatbestandssicherung

Die folgenden Ausführungen zu den Rahmeninformationen der interviewten Jugendlichen stützen sich auf das Interviewmaterial sowie auf die der Inhaftiertenakte entnehmbaren Tatsachen. Mohammed ist im Jahr 1990 in Deutschland geboren und Sohn von türkischen Eltern. Er ist seit April 2007 in der JVA Rosdorf inhaftiert. Sein Strafmaß beträgt 2 Jahre und 9 Monate und er war bisher schon häufig strafrechtlich auffällig geworden. Im Vorfeld bekam er 1 Jahr und 8 Monate auf Bewährung und hatte Arrest u.a. wegen Körperverletzungsdelikten, Einbrüchen und Diebstahl verbüßt. Das Bundeszentralregister enthält über ihn 4 Eintragungen.

Bis zum Haftantritt wohnte er im Haushalt der Mutter. Die Eltern sind seit kurzer Zeit getrennt. Sein Vater betrieb bis 2006 eine Pizzeria, wurde dann aber arbeitslos. Seine Mutter ist als Schneiderin in einer Fabrik tätig. Der Vater war zum Zeitpunkt der Inhaftierung schon ca. 2 Monate ausgezogen, lebt jetzt in der Türkei und hat dort ein Restaurant eröffnet. Es besteht jedoch noch eine Anzeige wegen Körperverletzung gegen ihn, die die Mutter erstattet hatte. Mohammed hat noch eine 25- jährige Schwester, die schon ausgezogen ist und beim Jugendamt tätig ist (wohl als Praktikantin).

Die Familie war dem Jugendamt einschlägig bekannt. Seine Mutter war laut des psychologischen Gutachtens der Akte kränklich, besitzt nur noch eine Niere und hatte viele Operationen. Seine Kindheit und Jugend war geprägt von extremer Gewalttätigkeit durch den Vater, der ihn und seine Mutter regelrecht tyrannisierte. Zudem hat/hatte der Vater den Erzählungen zur Folge ein Alkoholproblem, hatte das Geld vertrunken und an andere Leute verliehen. Unter Alkoholeinfluss war er immer gewalttätig.

Mohammeds Schullaufbahn war von Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeit gekennzeichnet. Er musste die dritte Klasse wiederholen, besuchte ab der siebten Klasse eine Schule für Schwererziehbare und verließ diese nach der achten Klasse, ohne einen Abschluss erworben zu haben. Danach nahm er an einer Trainingsmaßnahme durch das Arbeitsamt teil und besuchte daraufhin eine Lernwerkstatt, wo er aber häufig nicht zum Unterricht erschien. Aus dem Fußballverein ist Mohammed wegen undisziplinierten Verhaltens wiederholt ausgeschlossen worden. Zum Vater besteht heute kein Kontakt mehr, den Mohammed auch nicht wünscht.

8.2. Fallrekonstruktion Mohammed: Wie aus Opfern Täter werden

8.2.1. Interaktionsmuster im sozialen Umfeld

Mohammeds Kindheit und Jugend waren durchzogen von brutalen Gewaltausbrüchen des betrunkenen Vaters gegenüber ihm und seiner Mutter. Seine Erzählung beginnt er folgendermaßen:

I: Ok, also vielleicht kannst du erstmal etwasüber deine Kindheit erzählen, also woran du dich erinnerst, inBezug auf deine Kindheit, du kannst mit deiner Geburt anfangen!

B: Wann ich geboren wurde? 2.10.1990 (3) ja und meine Kindheit war auch nich gut, also viel familiären Stress, Vater mit Mutter, (4) ja (seufzt, lacht unsicher) (Anhang S. 2, Zeile 4ff.) Obwohl der Interviewer eher allgemein nach Erfahrungen der Kindheit fragt, thematisiert

Mohammed sogleich die Missstände in seinem Elternhaus und zieht ein trauriges Resümee: Seine „Kindheit war auch nich gut“. Der Aussage nach, dass seine Kindheit auch nicht gut war, lässt sich vermuten, dass Mohammed in seinem Leben noch Anderes als „nich gut“ beurteilt und dass seine Kindheit nur den Beginn einer für ihn negativen Entwicklung darstellt. Schon als Mohammed noch gar nicht geboren war, hatte die Familie unter der Ignoranz, dem Alkoholismus und der Gewalttätigkeit des Vaters zu leiden.

B: Ja, es war auch schon wo meine Schwester neu geboren wurde, meine Mutter hatte- also, früher hatten meine Eltern ein Haus wo kein Strom war, kein- gar nichts! Und dann hat meine Mutter, also mein Vater hatte einen Laden, aber er hat das Geld nur für Trinken und für andere Freunde ausgegeben, also er hat immer denen Geld gegeben, und die ham ihm das nich wieder zurück gegeben, aber ihm war das egal! Er is immer nachts nach Hause gekommen wieder besoffen, meine Mutter hat, also meine Schwester dann mit jedem Penny, was sie gekriegt hat, hat sie sich Kerzen geholt, ausm Laden, und hat ihre Milch warm gemacht (2) also ihr Trinken, weil sie nich anders konnte (Anhang S.4, Zeile 358ff.)

Dies klingt fast schon zu extrem, als dass es tatsächlich wahr sein könnte: Mohammeds Familie lebte in einem Haus ohne Strom; die Mutter wärmte die Milch für das Neugeborene über einer Kerze und der Vater gab das Geld für Alkohol aus, anstatt für seine Familie zu sorgen. Mohammed sagt selbst, seinem Vater sei dies „egal“ gewesen. Wie bereits erwähnt, können Missachtungserfahrungen innerhalb der Familie die unterschiedlichsten Formen annehmen. Wenn der eigene Vater die Familie, insbesondere hier seine neugeborene Tochter, Mohammeds Schwester, ihrem Schicksal überließ, noch nicht mal eine gewisse Grundversorgung sicherstellte, kann dieser Umstand stellvertretend auch für Mohammed selbst Gefühle einer passiven Missachtung und Anerkennungsverweigerung hervorgerufen haben. Die Gewissheit zu haben, dass der Vater sich nie liebevoll um seine Familie gekümmert hat, ihr sogar gleichgültig gegenüber stand, kann bei Mohammed bezüglich seines Vaters Gefühle des Nicht-Gewollt- und Nicht-Geschätzt-Seins auslösen. Wenn der Vater sich nicht um seine Schwester gekümmert hatte, liegt der Gedanke nicht fern, dass er auch Mohammed gegenüber nicht anders eingestellt war/ist. Die Textpassage spricht hier für sich.

Diese passive Missachtungshaltung auf Seiten des Vaters war begleitet von nahezu alltäglichen Gewalttaten gegen Mutter und Sohn. Von seiner Schwester erwähnt Mohammed nichts. Die nächste Geschichte stellte wohl nur eine unter vielen anderen Opfererfahrungen da, die er im Laufe seines Lebens gemacht hat:

I: Kannst du dich daran noch erinnern als du selbst mal Schläge bekommen hast? Erzähl mal eine Situation! B: Jaa, ja, nachts, ich schlief, also und er kam nach Hause besoffen, er hatte irgendwie was mitgekriegt oder so, er meinte- von irgendeiner Sache, und ich war da so sieben-acht Jahre alt, und dann is er in mein

Zimmer gekommen und war auch wieder besoffen, dann hat er so ne Eisenstange gehabt, und hat er aufmeinen- hat mich aufgeweckt, dann auf meine nackten Füße drauf gehauen (3)

I: Weißt du, warum er das gemacht hat?

B: Ne, weißich immer noch nich, ohne Grund! I: und was hast du getan?

B: Nichts, nur geschrieen, Mama, Mama! I: Und was hat sie gemacht?

B: Meine Mutter is sofort wieder hingegangen, warum schlägst du ihn? Manchmal sie konnte gar nix sagen, weil sie auch schon Angst hatte, was der alles macht (Anhang S. 5, Zeile 416ff.)

Für Mohammed völlig unverständlich und überraschend stürmte der „wieder“ betrunkene Vater nachts in sein Kinderzimmer, weckte seinen schlafenden Sohn und schlug ihn wegen „irgendeiner Sache“ mit einer Eisenstange auf die nackten Füße. Mohammed war es schon aufgrund seines Alters nicht möglich, sich gegen den gewalttätigen Vater zur Wehr zu setzen. Diese physische Wehrlosigkeit ist eine Komponente, die seine Ohnmachtserfahrungen auszeichnet. Zudem schien der Vater unberechenbar und willkürlich in seinen Reaktionen, so dass Mohammed die Steuerung oder Kontrolle derartiger Situationen nicht in den Händen hielt und seinem Vater hilflos ausgeliefert war. Dieser Aspekt verstärkte zusätzlich die frühen Ohnmachtserfahrungen Mohammeds, dem keine Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung standen, das Verhalten seines Vater in irgendeiner Art zu beeinflussen. Ein anderer Aspekt ist, dass Mohammed die Schläge selbst als ungerechtfertigt bzw. grundlos empfand. Bis heute weiß er nicht, weswegen sein Vater ihn geschlagen hatte, was geeignet ist, ihn selbst nicht nur im körperlichen, sondern auch im moralischen Sinne zu verletzten. Er verstand das väterliche Verhalten nicht und konnte seine Empörung nicht ausdrücken, aus Angst vor weiteren Schlägen. Er konnte nicht so handeln, wie er es für richtig empfand, was ihn selbst als moralische Person verletzte. Diese moralische Verletzung kam noch mehr zum tragen, wenn Mohammed mit ansehen musste, wie sein Vater seine Mutter schlug. Erschwerend tritt hinzu, dass Mohammed durch seine Mutter nicht beschützt werden konnten, da diese selbst Angst vor ihrem Ehemann hatte und sich somit auch in einer ohnmächtigen Position befand:

B: mm (verneinend/ schüttelt den Kopf) sie is ja auch schmächtig auch, was soll sie machen, sie is ja auchsehr schwer krank und dann er auch noch so- er hat sieüberhaupt krank gemacht! (Anhang S. 6, Zeile 522ff.)

Mohammed gibt seinem Vater die Schuld an den Erkrankungen seiner Mutter. Obwohl diese ihrem Sohn nicht helfen konnte, war sie trotzdem in der Lage, ihm wenigstens moralischen und emotionalen Halt zu geben. Die Tatsache, dass die Mutter Mohammed zur Hilfe kam, den Vater fragte, warum er ihn schlage, drückte ihre Empörung über dessen Verhalten aus. So standen Mutter und Sohn gemeinsam auf der Opferseite, bildeten sozusagen eine Front gegenüber dem gewalttätigen Vater, dessen Verhalten einvernehmlich als moralisch falsch verurteilt wurde.

Vorwürfe scheint Mohammed seiner Mutter nicht zu machen; er rechtfertigt eher ihr Verhalten und sagt, sie habe sich zusammengerissen, damit er nicht ohne Vater aufwachsen müsse. Eine Kritik an seiner Mutter zuzulassen wäre Mohammed emotional auch wohl kaum möglich, da sie diejenige ist, die ihm in der Familie noch Halt geben kann. Den Gedanken zuzulassen, dass seine Mutter vielleicht auch Fehler gemacht haben könnte, dass sie ihren Sohn so lange dem gewalttätigen Vater ausgesetzt ließ, anstatt sich von ihm zu trennen und dass sie eventuell auch einen Teil der Schuld trägt, dass seine Kindheit „auch nich gut“ war, würde ihm wohl noch den restlichen Boden unter den Füßen wegreißen. Seine Mutter verantwortlich dafür zu machen hieße, sie in Frage zu stellen und sie auch noch als familiären Rückhalt zu verlieren. Die folgenden Ausschnitte lassen vermuten, dass Mohammed zu seiner Mutter ein recht vertrauensvolles Verhältnis hat und er betont, dass seine Mutter, trotz ihrer wohl auch psychisch bedingten Krankheiten (Kopfschmerzen), für ihre Familie hart gearbeitet hatte:

B: () und sie kriegt fast bei allen Sachen Kopfschmerzen, sie musste mal- also sie hat schon sehr schwere

( ) bei meiner Geburt hatte sie Gelbsucht, hat ne Niere verloren bei meiner Geburt, sie hat nur eine Niere, und Gebärmutter hat sie auch nich mehr, also sie is sehr krank und arbeitet trotzdem noch, um für mich also zu sorgen (Anhang S. 6, Zeile532ff.)

I: Wenn du früher mal zum Beispiel in der Schule oder so irgendwelche Probleme hattest, schlechte NotenoderÄrger mit Leuten, habt ihr da zu Hause drüber gesprochen?

B: Ja ich hab immer gesagt, meiner Mutter hab ich immer alles gesagt, wenn ich mich geschlagen hab, bin ich sofort zu ihr gegangen, wenn ich zu Hause war, hab ihr alles erzählt, alles, jetzt immer noch, also ich hab ihr immer alles erzählt, wenn ich mich in der Stadt geprügelt hab, ich hab sofort erzählt wie es war, und so, ich sag auch nich zu meiner Mutter ich hab nich angefangen, ich sag auch die Wahrheit zu meinerMutter, ich sag ihr, ich hab angefangen oder ich hab nich angefangen, is verschieden (5) I: Was hat deine Mutter gesagt, als sie erfahren hat, dass du ins Gefängnis musst? B: Sie konnte nix mehr sagen, die war völlig fertig (4)

I: Kommt sie dich hier besuchen?

B: Ja

I: Hast du denn das Gefühl, dass sie trotzdem zu dir steht? B: Ja, sie kämpft ja nich umsonst um mich!

I: Wie ist das Verhältnis zu deiner Mutter?

B: Ja, so kleine Zankereien und so, das war schon aber, sonst immer gut I: Würdest du sagen, du vertraust ihr?

B: Ja (Anhang S. 5f., Zeile 483ff.)

Dass zumindest seine Mutter auch über Hindernisse ging, um für ihren Sohn zu sorgen, war ein ausschlaggebender positiver Gegenpol zu der Gleichgültigkeit des Vaters. Die Tatsachen, dass Mohammed von der Mutter im Gefängnis Besuch bekommt, dass sie zu ihm steht und er mit ihr sogar über seine Schlägereien gesprochen hat, machen die Mutter für ihn zu einer höchst wichtigen Bezugsperson. Zumindest in der Beziehung zu seiner Mutter kann Mohammed anscheinend die Wertschätzung erfahren, die ihm durch den Vater immer verwehrt geblieben ist. Dennoch wird dieser Umstand durch das väterliche Verhalten überschattet und kann nicht kompensiert werden.

Trotzdem fällt eine Äußerung der Mutter ihrem Sohn gegenüber ins Gewicht:

B: (...) ich bin eigentlich auch ein aggressiver Mensch, ich dreh auch ( ) sofort am Rad aber- ich hab mich seit dem mein Vater von zu Hause weg is und so, hat sich das geändert, wegen meiner Mutter, weil die alle traurig wurden wegen mir, weil die schon wussten, dass ich ins Gefängnis komme, weil ich ja auch- ich wusste von Anfang an- meine Mutter hat mir früher auch immer gesagt: Du kommst ins Gefängnis, du kommst du kommst! Ich hab gesagt: ne, ich komm nich rein! Niemals! Bin ich eine Woche in Vechta gewesen, hab ich auch gesagt: Nie wieder! nie wieder! Und jetzt sitz ich wieder hier, das is so wie n zweites Zu Hause (Anhang S. 10, Zeile 1069ff.)

Es scheint, als wären diese Aussagen der Mutter und wohl noch anderer Personen aus dem sozialen Umfeld Mohammeds zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden. Nach dem „labeling approach“ können derartige Reaktionen - hier ist es ein Mangel an Zuversicht in die Fähigkeiten

Mohammeds, eine Art Missbilligung oder sogar eine niederschwellige Missachtung seiner Person - dem Adressaten gewissermaßen ein Etikett aufkleben, welches sich stigmatisierend auswirken kann. So glaubt Mohammed am Ende selber, dass er ein „aggressiver Mensch“ ist, zu welchem er nun auch geworden ist. An anderer Stelle im Interview berichtet er, er sei bei der Polizei ein „Spezi“ gewesen. Entsprechend seiner häufigen Straftaten hat die Polizei ihn in eine „Schublade“ eingeordnet; und diese Schublade hat sich Mohammed nun auch zu Eigen gemacht, wenn er sich heute als einen „Spezi“ bezeichnet (Anhang S. 8, Zeile 794f.).

Im Folgenden thematisiert Mohammed eine einschneidende und sehr extreme Begebenheit, welche er zwar nicht selbst erlebte, aber die sicherlich seine späteren Hassgefühle gegen den Vater geprägt hat. Mohammed selbst hielt sich zu diesem Zeitpunkt in einer Diskothek auf. Freunde von ihm verbrachten den Abend im Cafe´ seines Vaters, das wohl im selben Haus wie die Wohnung von Mohammeds Familie untergebracht war. Zuvor hatte die Mutter ihren Mann „rausgeschmissen“, der daraufhin eines Nachts betrunken zurückkam und seine Ehefrau mit einem Messer umbringen wollte. Diese Geschichte spielte sich kurz vor der Inhaftierung Mohammeds ab:

I: Und kannst du dich vielleicht an ein schlimmes Erlebnis von früher erinnern?

B: Also, was ich gesehen hab oder was passiert is also bei uns zu Hause wo ich nich da war? I: Du kannst ja beides nacheinander erzählen, wenn du magst!

B: Also das Schlimmste war, dass mein Vater meine Mutter umbringen wollte (3)()

B: () sie wollte nich mehr, dass er nach Hause kommt, weil er erstens immer nur nach Hause Schulden gebracht hat und kein Geld gebracht hat (2), ja (2) und dann also, eines nachts kam dann mein Vater (), is er besoffen nach Hause gekommen(...) und da hat er meine Freunde da sitzen sehen und hat die angeschrieen und, verpisst euch hat er gesagt, mein Freund wusste sofort, dass irgendwas wieder läuft mit mein Vater, deswegen sind die alle vor der Tür stehen geblieben, danach is mein Vater hochgegangen zu meiner Mutter, und danach ham die nur so Schreie gehört und so, danach hat mein Vater erst meine Mutter rausgeschmissen im Pyjama, danach haben meine- hat meine Mutter die Polizei gerufen, mein Vater war im

Haus, dann hat die Polizei mein Vater da raus geholt und mitgenommen und mein Vater kannte die Polizisten durch Fußballspielen, ja und dann hat mein Vater vor den Polizisten, also das er meine Mutter umbringen will undääh, ihm is alles scheißegal, ich bring euch alle um hat er gesagt also vor denen, ja und dann hat die Polizei ihn mitgenommen und hat ihn irgendwann wieder frei gelassen, und dann is erwieder zurück gekommen, hat er- meine Freunde sind zu mir nach oben gekommen- I: In der selben Nacht?

B: Ja, in der selben Nacht, mein Vater wurd nichäh sofort in Dings, Kerker eingeschlossen er wurde sofortwieder frei gelassen, () dann is er wieder gekommen, und dann is er nach oben gegangen und meineFreunde und so ham extra die Tür verschlossen, also mit n Tisch davor getan im Flur- I: Und deine Freunde warn bei deiner Mutter oben, die ham da aufgepasst?

B: Ja, auch das, aber auch gesessen ( ) und dann ham die wieder diese Geräusche gehört von unten, da wurde die Tür aufgerissen, also mein Vater hat unten erst die eine Tür kaputt gemacht, die Holztür, dann hat er die Eisentür- (...)danach is er durch diese Eisentür hereingekommen (2) ins Haus oben, und meine Freunde saßen dann oben, mein Vater is nach oben gerannt, hatte in so- in so nem Tuch n Messer drin und is hoch gelaufen, und dann hat er die Tür da aufgerissen und hat gesagt: Verschwindet Alle! Und dann sind die alle runtergegangen (...)mein Freund hat sich versteckt, danach, wo mein Vater dann zu meiner- vor meiner Mutter stand, hat er dieses Messer, da noch in der Hand hatte, hat er das Tuch aufgewickelt und rausgeholt das Messer, das war ein Küchenmesser!()Und mein Freund is dann noch knapp um die Kurve runter auf die Treppen gegangen, mein Vater hat noch- also fast ihn getroffen und er konnte aber abhauen, und dann stand meine Mutter oben mit mein Vater, hat mein Vater das gegen ihren Hals gehalten, also das Messer vor meine Mutters Hals gehalten und hat gesagt, ich bring euch- dich und deinen Sohn um, mir scheißegal! Alle!(2) Ja und dann ham die unten die Polizei gerufen, also meine Freunde, dann ham die ihn erst mitgenommen, und ich bin erst eine Stunde danach bin ich erst gekommen, ja so um vier Uhr so,

(Anhang S. 3f., Zeile 199ff.)

Auf die Frage des Interviewers nach einem schlimmen Erlebnis aus seiner Kindheit kann sich

Mohammed gar nicht entscheiden, welches Erlebnis er zuerst erzählen soll. In dieser Interviewpassage zeigt sich in schockierender Weise, mit welcher rücksichtslosen Brutalität sein Vater die eigene Familie geradezu tyrannisierte. Nach Mohammeds Aussage wäre sein anwesender Freund auch beinahe noch durch den Vater verletzt worden. Auch wenn Mohammed diese Geschichte nur durch seine Mutter erfuhr, selbst gar nicht anwesend war und lediglich diese das Opfer von Gewalt durch den Vater wurde, scheint diese Situation dennoch geeignet, sich als eine Art Ohnmachtserfahrung im Sinne einer indirekten Viktimisierung bei ihm zu manifestieren. Durch den folgenden Ausschnitt wird klar, dass Mohammed dieses Ereignis so nahe ging, als wäre es ihm selbst zugestoßen.

I: Und wie ging es dir, als sie es die erzählt hat? B: Sehr schlecht! (3)

I: Kannst du dich daran erinnern, was du gedacht hat in dem Moment? B: Ja, dass ich ihn am liebsten umbringen würde! (3)

I: Und was is das für ein Gefühl, wenn der Vater die eigene Mutter und dich selbst umbringen will?

B: Das is für mich kein Vater mehr (5) (Anhang S. 4, Zeile 306ff.)

Mohammed selbst fühlte sich „sehr schlecht“, als er davon erfuhr. Der Kern dieser Ohnmacht liegt wohl darin, dass es ihm nicht möglich war, seine Mutter zu schützen, da er selbst nicht anwesend war und die Situation nicht steuern konnte. Vielleicht kam ihm auch der Gedanke, in Zukunft seine Mutter besser beschützen zu müssen? Aber Mohammed musste auch bewusst gewesen sein, dass er nicht immer und überall aufpassen kann.

Zumal erfuhr er im Nachhinein, dass der Vater auch ihn umbringen wollte, er selbst also in sein Visier geraten könnte: „ich bring euch- dich und deinen Sohn um, mir scheiß egal!“ Erfahren zu müssen, dass sein Vater ihn umbringen wollte, kann wohl als die extremste Variante familiärer Missachtungserfahrungen angesehen werden. Die Unberechenbarkeit und derartig extreme Handlungen des Vaters verstärkten zusätzlich die Hilflosigkeit Mohammeds, die sich in Angstgefühlen und Rachewünschen äußerte. Wer weiß, wie er reagiert hätte, wäre er selbst anwesend gewesen? Zu diesem Zeitpunkt war er schon mehrmals strafrechtlich und gewalttätig in Erscheinung getreten!

Auch eine indirekte Viktimisierung kann, obwohl Mohammed nicht dabei war, zu Angstgefühlen über die Situationen hinaus und zu Rachegefühlen gegenüber dem Täter führen. Noch deutlicher kann Mohammed seine Rachewünsche in Bezug auf seinen Vater nicht zum Ausdruck bringen: Er würde ihn am liebsten umbringen! Genau dies wiederholt er an späterer Stelle noch einmal; er habe seinen Vater sogar gesucht, um ihn umzubringen! Denn „was er alles getan hat, kann man nich mehr verzeihen!“ (vgl. Anhang S. 4, Zeile 323ff.). Dieser ist jedoch in die Türkei gegangen - aus Angst davor, dass Mohammed ihn finden könnte, sowie er selbst behauptet (a.a.O.). In diesen Rachephantasien lag auch die Angst vor weitern Attacken des Vaters verborgen, der vielleicht beim nächsten Mal sein Ziel erreichen könnte. Er geht sogar soweit, dass er ihm das Vater-Sein abspricht. Es zeigt sich, dass Mohammed, der in einem gewalttätigen und erniedrigenden Umfeld aufwuchs, sich durch Projektionen der Gegengewalt schon früh mit dem Gedanken vertraut machte, einmal selbst auf der Täterseite zu stehen.

Nach der Schilderung des Interviewten ließ die Polizei den Vater nach seiner ersten Attacke gegen sein Opfer noch in der selben Nacht wieder frei. Dieser kehrte gleich darauf zurück und setzte seinen Angriff fort. Für Mohammed völlig unverständlich schien, warum die Polizei den Vater wieder laufen ließ, obwohl dieser behauptet hatte, der Familie etwas anzutun: „Ja, in der selben Nacht, mein Vater wurd nich äh sofort in Dings, Kerker eingeschlossen er wurde sofort wieder frei gelassen, ( ) dann is er wieder gekommen ...“. Wenn auch von Seiten des Staates in einer solchen Notlage keine Unterstützung und Hilfe zu erwarten war, förderte dies wohl nicht gerade das Vertauen in das Rechtssystem und in andere Menschen im Allgemeinen. Im weitesten Sinne kann diese Situation sogar als eine Verlängerung der Ohnmacht von Mutter und Sohn verstanden werden, denn der Vater wurde einfach wieder frei gelassen, ohne dass sie irgendeinen Einfluss darauf gehabt hätten: Sie konnten wieder nichts machen; wieder mal handlungsunfähig, wieder mal ohnmächtig! Von der Erschütterung des Wertebewusstseins mal ganz zu schweigen!

Verwunderlich scheint nach den zuvor geäußerten Hassgefühlen und Todeswünschen gegenüber dem Vater, dass Mohammed sein Verhalten zugleich teilweise normalisiert. Nach einer Schlägerei begegnete er zufällig seinem Vater auf der Straße, dem er sofort alles erzählte „von A bis Z“ (Anhang S. 8, Zeile 835f.). Auf die Frage des Interviewers, wie der Vater reagiert hätte, antwortet Mohammed folgendermaßen:

B: Ne, mein Vater hat nichts gemacht, er war schon- er mag so was gar nich, wenn er nüchtern is, is er eigentlich ein sehr guter Mensch, aber wenn er besoffen is, dann kennt man ihn gar nicht, von ihm gibt’s

zwei Gesichter wie von jedem Menschen (Anhang S. 8, Zeile 838ff.)

Eigentlich hält sein Vater nichts von Gewalttätigkeit und sei „eigentlich ein sehr guter Mensch“. Lediglich wenn er „besoffen“ ist, erkenne man ihn nicht wieder. Mohammed schreibt hier der Alkoholisierung des Vaters eine Wirkung zu, die ihn in einen anderen Menschen verwandelt. Es klingt beinahe so, als ob Mohammed dem Alkohol die Schuld gibt, der seinen Vater zum Gewalttäter macht; sozusagen ihm die Eigenverantwortung für sein Tun abspricht, wenn der Alkohol die Regie übernimmt. Er normalisiert das väterliche Verhalten in der Weise, indem er jedem Menschen ein zweites Gesicht attestiert.

Nach der Theorie der autoritären Persönlichkeit im Rahmen der Rechtsextremismusforschung kann dies als eine Art Aggressionskanalisierung- oder Unterdrückung angesehen werden, indem die Kinder ihre Eltern normalisieren bzw. idealisieren. Die Erziehung dieser Kinder ist durch Strenge, Distanz und einen Mangel an Zuwendung gekennzeichnet, was auch auf Mohammed zutreffend ist (vgl. W. Hopf (2002), S.12ff.).

Dazu liefert die Bindungsforschung auch Ansätze in dieser Richtung. Die Baltimore-Studie, die von Mary Ainsworth in den sechziger Jahren durchgeführt wurde, ergab wichtige Ergebnisse: Für eine sichere bzw. unsichere Bindungsrepräsentation (sicher/ unsicher-vermeidend/ unsicher-ambivalent), die in der „Fremden Situation“ erhoben wurde, ist die Sensitivität der Mutter gegenüber ihrem Kind ausschlaggebende Voraussetzung (C. Hopf (2005) S. 58ff.). Nun ist auch der Vater wichtige Bindungsperson für das Kind und hat dementsprechend auch Einfluss auf das Bindungsmuster. Die Erziehung der unsicher-vermeidend-gebundenen Kinder war im Vergleich zu den unsicher- ambivalent-gebundenen noch zurückweisender und ablehnender. Es fehlt hier jedoch an entsprechendem Material, welches Aussagen über das Bindungsmuster Mohammeds zu seinen Eltern zulassen würde. Jedoch kann vermutet werden, dass eine sichere Bindung unter den genannten Umständen bei Mohammed wohl kaum möglich gewesen sein kann. Seine Sozialisationserfahrungen, besonders in der Interaktion mit dem Vater, waren wohl kaum durch Sensitivität, Feinfühligkeit, Nestwärme und familiäre Sicherheit gekennzeichnet; für Mohammed ging von seinem Elternhaus Gefahr aus! Jenes der kindlichen Bindung entsprechende Bindungsmuster im Erwachsenenalter könnte das „abwehrend-bagatellisierende“ sein, dass durch Idealisierung oder Normalisierung der Beziehungserfahrungen gekennzeichnet ist (W. Hopf (2002), S. 13). Gefühle von Wut oder Ärger können nur schwer zugelassen und nicht ausgesprochen werden. Dies tut Mohammed jedoch an vielen Stellen des Interviews sehr deutlich. Daher kann bei ihm auch ein „verstricktes“ Bindungsmuster vorherrschen (a.a.O.). Es äußert sich, indem die Personen schwer sachlich über die Beziehungen sprechen können, in die diese „konflikthaft“ verwickelt sind (a.a.O.). Hier werden Ärger und Wut sehr deutlich ausgesprochen, jedoch nicht verarbeitet und immer weiter „neu reproduziert“ (a.a.O.). Häufig sei bei misshandelten Kindern jedoch gar kein stabiles Bindungsmuster zuerkennen, da sie sich in der „Fremden Situation“ oft in widersprüchlicher, zum Teil auch „bizarrer Weise“ und „desorganisiert“ verhalten (C. Hopf (2005), S. 154).

Wie auch immer dies zu beurteilen ist; klar ist, dass Mohammed seinem Vater gegenüber eindeutige Hassgefühle empfindet, die er klar artikuliert. Trotz allem ist es für ein Kind schwer, die Erkenntnis zuzulassen, dass der Vater ihm keine Liebe entgegen bringt. Die Normalisierung kann auch als eine Art Selbstschutz- und Verdrängungsmechanismus angesehen werden, um dieser Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen.

Das zweite „schlimme“ Erlebnis, das Mohammed bereits angedeutet hat, ist das folgende:

I: Du hast vorhin noch ein anderes Erlebnis erwähnt? Da gabs noch etwas Schlimmes? B: Ja, das war eine Sache, also wo schon Krankenwagen kam, also für meine Mutter (2) I: Und was war da passiert?

B: Also meine Mutter hatüberall Schwellungen am ganzen Körper, alles blau gehabt, also wirklich alles, man konnte fast gar nichts mehr erkennen von normaler Haut (3)( )

I: Erzähl doch mal, wie das für dich war als du das gesehen hast!

B: Ja, ich war sehr wütend! Aber ich konnte ja nichts machen, ich stand immer in der Ecke und hab gelauscht, also, ich bin immer nachts aufgestanden und dann hab ich immer gesehen wie meine Eltern sich gestritten haben, rumgeschrieen, geschlagen, alles Mögliche (5) Also (8)

I: Und, ich stell mir das grade so vor, da stehst du da, und wachst nachts auf, weil sie schreien, und wie ging es dir da?

B: Ja, weißich sofort, was is jetzt wieder passiert! (2)

I: Wie is das Gefühl, wenn du siehst, wenn dein Vater deine Mutter schlägt?

B: Das Gefühl is- dann, weißnich, dieser Haß, also da könnt ich sofort durchdrehen aber, wenn ich das gemacht hätte, dann hätt ich auch eine gekriegt, und ich hab ja auch schon mehrmals von ihm schon Schläge gekriegt (3) (wirkt sprachlos) (Anhang S. 5ff. Zeile 378ff.)

Dieses Mal hatte der Vater Mohammeds Mutter außergewöhnlich stark verletzt. Mohammed beschreibt dieses Erlebnis, als sei es ihm immer noch vor Augen: Die Schwellungen am Körper der Mutter, die Blutergüsse, die keine „normale Haut“ mehr erkennen ließen. Mohammed musste ohnmächtig zusehnen, wie seine Mutter Opfer des Vaters wurde, der sie krankenhausreif schlug. Wieder thematisiert er seine Ohnmacht: „...Ich war sehr wütend, Aber ich konnte ja nichts machen...“ Er macht deutlich, dass die Gewalt des Vaters zu Angstzuständen führte, die ihn selbst nachts verfolgten. Er stand auf, lauschte und sah heimlich zu, wie sein Vater die Mutter prügelte. Die Angst Mohammeds, seine Mutter könne wieder Opfer des Vaters werden, ließ ihn nicht mehr los und führte so zu andauernden Bedrohungsgefühlen. Es wird hier deutlich, dass diese indirekte Viktimisierung - Mohammeds Zeugenschaft an gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen seinen Eltern - bei ihm die gleichen Wirkungen erzeugte, als wäre er selbst geschlagen worden. Die Gewalt mit ansehen zu müssen, die seiner Mutter zustößt, wurde so zu einer Opfererfahrung für ihn selbst, auf die eine permanente Angst vor weiteren Taten des Vaters folgte.

Auch in dieser Textpassage deutet der Interviewte an, dass dies bei ihm zu Projektionen der Gegengewalt führte: Wenn er der Gewalt beiwohnte, wurden Hassegefühle in im wach und er hätte „sofort durchdrehen“ können, wurde aber aus Angst gebremst, selbst Schläge zu bekommen. Der folgende Ausschnitt bündelt noch einmal das, was das Interaktionsmuster in Mohammeds Familie ausmachte: Gewalt, Anerkennungsentzug und permanente Tyrannisierung!

I: Mmmh, hast du oft Schläge von deinem Vater bekommen?

B: Ja, (immer)

I: Wann fing das an?

B: Das fing an mit sechs-sieben Jahren mit sechs-sieben Jahren, also auch schon, wo ich jünger war glaub ich, vier, drei, (3) ja, ich bin auch schon mit zwei von zu Hause abgehauen, mit zwei Jahren, ja mit Pyjama bin ich auf die Strasse dann gelaufen, meine Mutter und meine Schwester eingeschlossen in der Küche, mein

Vater war ja nie für mich da, der hat sich nur gekümmert um den Laden, also der is auch nie mit mir rausgegangen irgendwann, er hat mir sehr viel versprochen, hat er nie eingehalten, gar nix! Dadurch sind auch solche Sachen passiert! Also was ich gemacht hab,

I: Warst du da sehr traurig (in der Zeit)?

B: Ja, Ich hab mich immer in der Ecke versteckt und hab das angeguckt, ich konnte nichts machen! (4)

(Anhang S.4, Zeile 331ff.)

Schläge hat Mohammed bekommen, solange er denken kann. Auch das Miterleben der Gewalt des Vaters gegenüber seiner Mutter war für ihn alltägliches Geschehen: „Jahaa (lacht), bestimmt in der Woche sieben Tage lang “ (Anhang S. 10, Zeile 1001f.). An ein schönes Erlebnis von früher kann er sich nicht erinnern. Schon im frühen Kindesalter musste er von Zuhause flüchten. Mutter und Schwester wurden vom Vater in der Küche eingeschlossen. Wie sehr Mohammed unter der Missachtung durch seinen Vater und der häuslichen Gewalt gegen ihn und die anderen Familienmitglieder gelitten hatte, illustriert diese Textpassage eindeutig. Sein Vater sei nie für ihn da gewesen und er habe seine Versprechen nie gehalten. So erfuhr sich Mohammed als ein ungeliebtes und zurückgestoßenes Kind. In diesem extrem brutalen Verhalten des Vaters gegenüber der gesamten Familie, in all diesen Ohnmachtserfahrungen, die Mohammed machen musste, schwingt eine gewisse passive, aber auch aktive Missachtungsdynamik durchgehend mit; denn welches Verhalten könnte noch missachtender sein, als sein eigenes Fleisch und Blut mit einer derartigen Gewalttätigkeit zu strafen? Diese permanenten Abwertungs- und Gewalterfahrungen können das Selbstbild und das Selbstwertgefühl Mohammeds nicht unangetastet lassen. Die Erfahrung durch die Familie, ein liebenswerter Mensch zu sein, dass man es Wert ist, geliebt zu werden, ist grundlegende Bedingung für die Entwicklung eines gesunden Selbstvertrauens. Der Entzug sozialer Wertschätzung geht „typischerweise auch mit einem Verlust an persönlicher Selbstschätzung einher...“ (Honeth (1992), in: Sutterlüty (2003), S. 197). Die psychischen Folgen derartiger Erfahrungen sind gravierend: „Ich hab mich immer in der Ecke versteckt und hab das angeguckt, ich konnte nichts machen!“ Seine Ohnmächtigkeit, die Situationen zu kontrollieren, bringt Mohammed hier eindeutig zur Sprache, indem er seine Handlungsunfähigkeit thematisiert: Er konnte nichts machen! Stattdessen starrte er in eine Ecke, um im wahrsten Sinne des Wortes seine Augen vor dem ungeliebten Zuhause zu verschließen.

Zudem ist Mohammed auch schon in der Grundschule das Opfer von Hänseleien durch seine Mitschüler geworden, die quasi die innerfamiliäre Missachtung auch auf außerfamiliäres Terrain ausdehnten:

I: Wenn du dich so an die Schule erinnerst, wie hat dir die Schule so gefallen?

B: ( ) es gab auch Zeiten die gut waren, also ich wurde von der Klasse gehänselt,ätschi ( ) ham michausgelacht (2)

I: Kannst du dich da an eine Situation erinnern, wie das war?

B: Ja weil ich auch immer schnell aggressiv wurde und das wussten die, dadurch ham sie es einfach provoziert () mich die ganze Zeit provoziert im Unterricht, die Lehrerin hat das nich so mitgekriegt (2) und wenn Pause war sind die immer zu mir gekommen ham mich die ganze Zeit gehänselt (2) dann Eiermatsch (seine türkischen Namen verunstaltend) und das und dies gerufen also wegen meinem Namen und ham die so ( )

I: Und was hast du dann gemacht?

B: Ausgeflippt, rumgeschrieen, verpisst euch! Bevor ich euch schlage und so hab ich gesagt, ( )

I: Kannst du dich da an eine Situation erinnern, was die Kinder da zu dir gesagt haben und was du gemacht hast?

B: Was sie gesagt haben? Also, die ham gesagt, du bistn scheißAusländer, was suchst duüberhaupt hier,

( ) (4) (Anhang S. 2, Zeile 96ff.)

Die Mitschüler haben Mohammed provoziert, ihn gehänselt und ihn „Eiermatsch“ gerufen, woraufhin er schon damals aggressiv reagierte und mit Schlägen drohte. Selbst in der Schule, wo er dem familiären Unfrieden hätte entkommen können, machte er Erfahrungen der Missachtung und des Nicht-Gewollt-Seins, die sich z.T. gegen seine menschliche Würde richteten: Er ist als Ausländer hier nicht willkommen; er kann genauso gut auch gehen, weil ihn hier keiner vermisst! Auch die Lehrerin schien nicht aufmerksam genug gewesen zu sein, um mitzubekommen, was in ihrer Klasse ablief. So hatte Mohammed selbst durch die Lehrperson keine Unterstützung oder Hilfe zu erwarten, was wieder mal sein Vertrauen in andere Menschen erschütterte.

Dies alles kann sich negativ auf das Selbstbild auswirken, beeinflusst auch die gesamten kognitiven Fähigkeiten und damit die schulische Laufbahn. In diesem Zusammenhang ist auch Mohammeds Schullaufbahn zu sehen, denn seine negativen Erwartungen an sich selbst durch die permanente Abwertung seiner Person durch andere, sowie die Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung durch die genannten Umstände, manifestierten sich auch in seinen schulischen Leistungen. In der Grundschule wurde er von der vierten Klasse in die dritte zurückgestuft. Er sagt, seine Eltern wollten ihn an einem Gymnasium anmelden, da seine Noten entsprechend gut gewesen seien. Nach der Orientierungsstufe besuchte er jedoch die Schwererziehbarenschule bis zur achten Klasse und verließ diese ohne Abschluss. Daraufhin nahm er an einer Trainingsmaßnahme durch das Arbeitsamt teil und besuchte dann eine Lernwerkstatt, erschien aber häufig nicht zum Unterricht. Mohammeds Schullaufbahn zeugt nicht gerade von Kontinuität und Durchhaltevermögen. Dass er eine Schwererziehbarenschule besuchte - wieder die Gefahr einer weitern Etikettierung - wohl u.a. wegen Gewalttätigkeiten und Lehrerbeleidigungen (vgl. Anhang S.3, Zeile 126ff.), legt den Zusammenhang zwischen kognitiver Entwicklung, und desolaten Familienverhältnissen nahe. Dies belegt z.B. die Minnesota-Längsschnittstudie (vgl. C. Hopf (2005), S. 162), in der Familienbeziehungen und Entwicklungsverläufe unter eher ungünstigen ökonomischen und sozialen Bedingungen untersucht worden sind: Die Forschung ergab u.a., dass Kinder, die in der frühen Kindheit durch die Eltern körperlich misshandelt worden sind, in einem IQ-Test bedeutend schlechter abschnitten als andere Kinder, die gut versorgt und nicht geschlagen worden sind. Kinder die extrem vernachlässigt worden sind, schnitten noch schlechter ab. Nun wirkt sich dieser Zustand nicht nur auf die Intelligenz, sondern auch auf soziale Kompetenzen im Allgemeinen aus. Stichworte sind hier: Empathieempfinden, Aggression und soziales Verstehen (vgl. C. Hopf (2005), S. 153ff.): Studien zu diesem Zusammenhang belegen, dass misshandelte Kinder im Gegensatz zu nicht- misshandelten fast kein Mitgefühl zeigen konnten und sogar in entsprechenden Situationen auf den Kummer anderer Kinder aggressiv oder wütend reagierten. Das hineinversetzen in andere Personen bzw. soziale Perspektivenübernahme scheint den misshandelten Kindern bedeutend schwerer zu fallen. Auch verhielten sich die misshandelten Kinder durchschnittlich viel aggressiver als die Vergleichskinder. Dieses Verhaltensbündel erschwert den Kindern natürlich soziale Beziehungen und kann sie zu Außenseitern werden lassen.

Auch John Bowlby schreibt Zurückweisungserfahrungen im Kontext der Bindungsforschung eine große emotionale Bedeutung für das heranwachsende Kind zu: „Sie erzeugen Stress, Kummer, Angst und auch Feindseligkeit gegenüber der Bezugsperson“ (Bowlby (1986/1973), in: C.Hopf (2005), S. 43), was auch mit „Projektionen der Gegengewalt“ angedeutet wird.

Diese Gesamtheit der Interaktionsmuster in der Familie, dazu noch Hänseleien in der Schule - sozusagen Missachtung und ein eklatanter Mangel an Anerkennung auf der ganzen Linie! - begründen bei Mohammed die Entstehung eines Anerkennungs- und Identitätsproblems, welches den Weg in seine spätere Gewalttätigkeit ebnet.

8.2.2. Entwicklungsstränge von Gewaltkarrieren

Mohammed erzählt nicht seine eigenen Ohnmachtserfahrungen durch den Vater zu Beginn des Interviews, sondern lenkt gleich den Fokus auf die Gewaltsituationen zwischen seinen Eltern. Dies lässt vermuten, dass sich diese Erfahrungen bei ihm fast noch stärker eingeprägt haben als die Erfahrungen des eigenen Opferseins.

Es folgt sogleich eine Geschichte, in der er seinem Vater wohl zum ersten Mal gewaltsam entgegentritt. Nun war es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, wann die Rachegefühle Mohammeds ihre Entladung finden würden und er sich gewaltsam zur Wehr setzen würde. Als der betrunkene Vater wiedereinmal nachts nach Hause kam und aggressiv wurde, war er nicht mehr das Opfer, sondern verteidigte seine Mutter und sich selbst.

B: () Meine Mutter kann sich ja auch nich wehren! Hat er sie dann gegen Bett- gegen Bett gedrückt, hab ich mein Vater erst mal weggezogen, hab ich ihm gesagt, wenn du noch einmal meine Mutter anfasst, dann werd ich dich auch schlagen! Dann hat er das noch mal gemacht, dann hab ich meine Mutter eben

weggezogen, dann hab ich ihn also geschlagen! (3)

I: Richtig geschlagen?

B: Ja, ich hab auch seine Nase gebrochen (3) das war so, ich hab ihm zehn Minuten vorher schon gesagt

( ) dann hab ich ihm gesagt, ich brech dir die Nase wenn du nich aufhörst! Dann zehn Minuten später is es auch so gekommen, Knie gegen seine Nase (3) solche Sachen halt, dann kam die Polizei und hat ihn mitgenommen (3) (Anhang S. 2, Zeile 57ff.)

Diese Geschichte geschah kurz vor seiner Inhaftierung. Der erste Gegenschlag nach jahrelangen Misshandlungserfahrungen musste von Mohammed als befreiend erlebt worden sein. Alle Hassgefühle und Rachephantasien, die sich über Jahre hinweg angestaut hatten, fanden ein Ventil in seiner gewaltsamen Reaktion gegen den Aggressor. Trotzdem schien Mohammed in seiner Entscheidung etwas zögerlich gewesen zu sein, da er den Vater vorher warnte, er solle die Mutter nicht mehr „anfassen“. Gewisse Hemmungen bestanden wohl hinsichtlich seiner Attacke gegen den Vater. Als dieser daraufhin nicht aufhörte, kam es zum ersten Gegenschlag. Es kann davon ausgegangen werden, dass Mohammed ab diesem Zeitpunkt nie wieder tatenlos dabei zusehen würde, wenn der Vater seine Mutter schlagen sollte; zumal er nun körperlich stark genug war und mit seiner Handlung Erfolg hatte! Er als früheres Opfer ist nun Täter und sein Vater ist derjenige, welcher die Verletzungen davon trägt. Auch die Heftigkeit seiner Gegenwehr verrät, wie sehr sich Wut und Aggression in Mohammed aufgestaut haben müssen, die nur auf den entsprechenden Moment warteten, nach Außen dringen zu können. Man kann sagen, dass bei ihm die „Kumulation“ (Sutterlüty (2003), S. 255) seiner vergangenen Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen - die eigenen, direkten und die indirekten bezüglich der Mutter - zum Gegenschlag führten, der sicherlich Eindruck hinterlassen hat. Das, was als „Epiphanie“ der Gewalterfahrung beschrieben wird, meint eine Art Offenbarwerdung eines neuen, positiveren Selbstverständnisses im Moment der Gewaltausübung; dieses wehrhafte Neue zeigte sich Mohammed nun in der Umkehrung der früheren Rollenverteilung von Opfer und Täter: Mohammeds Aussage nach sei sein Vater aus Angst vor seinem Sohn in die Türkei gegangen; so erlebte sich Mohammed nun endlich als stark gegenüber dem Vater.

Es scheint als lege er großen Wert darauf, sich als Jemanden zu präsentieren, der sich nichts gefallen lässt und der eine durchsetzungsstarke Persönlichkeit hat, da er gleich zu Anfang des Interviews die Aufmerksamkeit darauf richtet.

Jedoch fand die erste Gewalthandlung Mohammeds lange vor diesem Ereignis und außerhalb des familiären Kontextes statt; d.h. das oben beschriebene wehrhafte „Neue“ seines Charakters, zeigte sich ihm schon vor der ersten gewalttätigen Auseinandersetzung mit seinem Vater. Die wohl ausschlaggebende epiphanische Erfahrung machte Mohammed schon in der Grundschulzeit; ausgelöst durch seine Mitschüler, die ihn zum wiederholten Male hänselten. Doch jetzt wehrte er sich zum ersten Mal, was seine folgenden Handlungen in solchen Situationen entscheidend prägte.

I: Kannst du dich an deine erste Auseinandersetzung erinnern, ich meine wo es auch zu Handgreiflichkeiten kam?

B: Das aller erste Mal? In der Schule, ja, in meiner Klasse, also ich hatte mich mit meiner Klasse geschlagen, ham mich gehänselt und gemoppt und so, das konnt ich nich ab, das war so das erste Mal, I: Wie ist das abgelaufen?

B: Ich hab wiederÄrger bekommen ne, mehr auch nich, mehr is auch nich dabei passiert, I: Hat sich für dich hinterher etwas geändert?

B: Ne

I: Ich meine, du hast dich ja vorher nicht geschlagen, aber hinterher, du hast dich ja dannöfter geschlagen B: Ja, bis jetzt (lacht)

I: Was hast du danach für ein Gefühl gehabt?

B: Ja, ein gutes Gefühl! Vorher hab ich nie was gemacht, Ok, im Kindergarten war auch schon was, aber nich so geschlagen, also erste Schlägerei, war in der Schule, in der Grundschule, wenn ich mich wehre is das n gutes Gefühl, das ich dann auch (2) so mich wehren konnte, das die- ich wusste, dass die dann keine Chance hatten, deswegen, das hat mich schon so ( ) dann warn die ja auch ruhig, dann ham die nix mehr gesagt! (Anhang S. 8, Zeile 847ff.)

Hinsichtlich der Bedrohungssituation für Mohammed- zu Hause durch den Vater, in der Schule durch die Mitschüler - ähneln sich beide Situationen; nur mit dem Unterschied, dass er gegen seinen Vater keine Chance gehabt hätte. Es sagt, er habe danach „ein gutes Gefühl“ gehabt, was im Kern schon den Ansatz der sich nun etablierenden intrinsischen Gewaltmotive abgibt. Wenn er sich wehrte, sei dies ein gutes Gefühl gewesen, weil er sich wehren konnte ! Was er gegenüber seinem Vater nicht konnte, gelang ihm stattdessen in der Schule und es eröffnete sich ihm eine andere Seite seiner Persönlichkeit. Hier kann man annehmen, dass er diese Situation „im Lichte seiner familiären Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen deutet“ und die Gelegenheit ergriff, sich endlich körperlich zur Wehr zu setzen (ebd. S. 261). Das Gefühl, dass „die dann keine Chance hatten“ und er endlich auf der Seite des Stärkeren stand, musste für Mohammed eine einschneidende Erfahrung gewesen sein, da er sein ganzes Leben lang der Schwächere war. Dies äußert er auch explizit, indem er feststellt, er habe „vorher...nie was gemacht“; nach dieser ersten Gewalterfahrung habe er „bis jetzt“ dieses Reaktionsmuster beibehalten, was den epiphanischen Charakter dieser Erfahrung bestätigt.

Der permanenten Hänselei und dem missachtenden Verhalten seiner Mitschüler begegnete er nun mit eigener Gewalt und es zeigte sich, dass diese Erfahrung einen entscheidenden Wendepunkt markiert hat. Mohammed lernte die völlig neuen und besonders intensiven Gefühle der Gewaltausübung kennen, die ihn zu weiteren Gewalttaten antrieben und den Beginn seiner Gewaltkarriere markierten: Das gute Gefühl, sich durchsetzen zu können, die Leute mundtot zu machen, so dass „die nix mehr“ sagen und das erhebende Gefühl, der Überlegene zu sein! Auch wenn Mohammed nicht so sehr explizit und erst auf besonderes Nachfragen des Interviewers seine Gefühle preis gibt, enthüllt sich in dieser Erzählung der epiphanische Charakter dieser Erfahrung.

Dieses Erlebnis legte wohl den Grundstein für seine spätere Wehrhaftigkeit gegen den Vater. Es scheint, als hätte Mohammed fern ab des eigentlichen Hassobjekts seine Fähigkeiten trainiert haben, um irgendwann einmal für den Gegenschlag gerüstet zu sein. Jedoch verliefen die familiäre und die außerfamiliäre Missachtung parallel zueinander, was aber nicht heißt, dass die familiäre Missachtung die Sensibilität für Ablehnung durch die Klassenkameraden nicht verstärkt haben könnte. Damit ist ein weiterer Entwicklungsstrang von Gewaltkarrieren angedeutet: Durch gewaltaffine Interpretationsregimes tragen die Jugendlichen die innerfamiliären Erfahrungen bzw. die Deutungsmuster familiärer Bedrohung in andere Kontexte hinein und meinen daher, ständig Zielscheibe eines Angriffs zu sein und dementsprechend ständig abwehrbereit sein zu müssen. Dieser theoretische Annahme folgt auch John Bowlby, der die Auffassung vertritt, dass die in der familiären Interaktion entstandenen „inneren Arbeitsmodelle“ von Beziehungen zu den Bindungsfiguren in andere Beziehungen hineinspielen (vgl. C. Hopf (2005), S.40). Das heißt im Kern, dass Kinder auf Grundlage ihrer ersten Erfahrungen mit den engsten Beziehungspersonen Vorstellungen über diese Beziehungsqualität entwickeln. Diese Beziehungserfahrungen werden verarbeitet und bestehen weiterhin als „kognitive Repräsentationen oder Konstruktionen von Interaktionserfahrungen“, die auf andere Interaktionspartner übertragen werden können (ebd. S. 37). So ist es möglich, dass sich Kinder wie Mohammed, die sich zu Hause abgelehnt fühlten, sich auch generell eher abgelehnt fühlen, sowie sie auch weniger vertrauensvoll auf andere Menschen zu gehen, wenn sie in ihren engsten Bezugpersonen keine sichere, vertrauensvolle Basis fanden. So wie Mohammed sich durch den Vater immer abgelehnt fühlte, neigte er dazu, sich generell durch andere abgelehnt zu fühlen. Er reagierte daher aggressiv in Situationen, die seine familiären Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen wiederspiegelten und wachriefen. Dies gilt bei Mohammed nicht nur für die eigenen, sondern auch für die mütterlichen Opfererfahrungen, wie diese Erzählungen belegen:

B: Ja, eigentlich- OK, ich bin sehr aggressiv, sehr aggressiv, ich weiß-

I: Wann wirst du denn aggressiv?

B: Ich tick aus, wenn meine Mutter beleidigt wird, bei meiner Familie, aber jetzt is einigermaßen- ich lerndavon! Das es mir am Arsch vorbei geht, also hier erst recht! Also ich will das hier nur noch durch halten,wenn ich nach halbe Strafe vielleicht rauskommen kann, dann werd ich ganz neues Leben anfangen!

(Anhang S.9, Zeile 979ff.)

In Situationen, in denen seine Mutter durch andere, insbesondere andere Männer beleidigt wurde, „tickt“ er aus. Er interpretierte unbewusst derartige Vorkommnisse nach Maßgabe seiner früheren Erfahrungen und befürchtete, dass sich die Erniedrigung seiner Mutter wiederholen könnte. Diese Deutungsmuster bestimmten sein Handeln: in Situationen einer eventuellen Bedrohung traten die gewaltaffinen Interpretationsregimes in Kraft und ließen für Mohammed, aus Angst vor Erniedrigungen und weiteren Opfererfahrungen seiner Mutter, die gewalttätige Abwehr als am naheliegendsten erscheinen. Er wollte in jedem Fall verhindern, dass sie nochmals Opfer wird, dass er ohnmächtig zusehen muss, wie seine Mutter erniedrigt oder geschlagen wird. Auch wenn die Gefahr einer weiteren Opfererfahrung realistisch vielleicht gar nicht bestand, übertrug Mohammed die „feindselige Welt“ seiner Familie auf „andere Handlungskontexte“ und befand sich in permanenter Verteidigungshaltung (Sutterlüty (2003), S. 278). Noch bevor dem „Gucken“ eine Handlung folgen konnte, beugte Mohammed dem vor, indem er sofort sein Gegenüber „beleidigt“, bevor dieser ihm zuvor kommen konnte. Seine Interpretationen sind „gewaltaffin“, da sie ihn zu einer gewalttätigen Lösung des Konflikts tendieren ließen, dieser jedoch auch kontextabhängig ohne Gewalttätigkeit zum Ende gelangen könnte.

I: Mmh, ( ) was macht das mit dir, wenn andere Leute gucken?

B: Aggressiv! Es macht mich aggressiv, wenn ich mit meiner Mutter durch die Stadt laufe und wenn andere Männer so hinterher gucken, das macht mich wütend, dann sag ich also Schimpfwörter auf türkisch, aber, nur zu meiner Mutter sag ich das, diese Hunde, wie die gucken! Als ob die noch nie eine Frau gesehen haben (...)

I: Is das heute immer noch so?

B: Also, aber jetzt hier wurd ich auch schon sehr oft angemacht aber, hab mich irgendwie unter Kontrollegehalten, bis jetzt

I: Was sind das für Situationen meistens?

B: Also, wenn jemand guckt, so (4) wie meinen Sie das?

I: Also du hast gesagt, früher, als du noch jünger warst, da war es so, dass du schnell wütend geworden bist B: Ja, sofort so! Aggressiv so, den hab ich auch sofort beleidigt!

I: Was hat dich am Gucken so gereizt?

B: Ich mochte das nich, meine Mutter! Is so!

I: Und es ging wieder um andere Leute! Und was ist, wenn du selbst so angeguckt wirst?

B: Dachte ich mir, komm, was will der denn, dieser Wichser! ( ) aber das denk ich mir im Kopf, oder ich guck auch mach- ich sag auch manchmal: ey, guck nich so! Gibt’s was zu gucken, willst n Passfoto haben? I: (lacht) das heißt- wenn du halt sauer wirst geht es fast immer um andere Leute?

B: Ja, aber wenn ich auch so doof angemacht werde, wird ich auch so normal aggressiv, dann hab ich- ichhab mich auch schon so geschlagen, nur ich kann mich an diese Sachen nich mehr erinnern! (Anhang S.10, Zeile 1028ff.)

In diesem Interviewausschnitt vermischt Mohammed zwei Ebenen: Er springt zwischen der eigenen und der mütterlichen Ablehnungserwartung durch Andere hin und her, was ihn gleichermaßen verletzte und gewalttätig reagieren ließ. Schon das „Gucken“ anderer Leute machte Mohammed aggressiv und erinnerte ihn an die früheren Erfahrungen in seiner Familie. Er erkannte schon bei niederschwelligen Anlässen eine Gefahr für Leib und Seele, fürchtete missachtet bzw. bedroht zu werden oder seine Mutter schützen zu müssen - Mohammed wurde von seinen biographischen Erlebnissen durchdrungen, so dass er sozusagen das familiär Erlebte in sämtliche andere Kontexte mit hinein las, was seine gesamte soziale Wahrnehmung beherrschte. Dies sind Anlässe, die andere Menschen mit positiveren familiären Erfahrungen wahrscheinlich völlig anders bewerten würden.

Auf die Frage des Interviewers, ob er heute immer noch so leicht aggressiv werde, antwortet Mohammed, er habe sich „irgendwie unter Kontrolle gehalten, bis jetzt“, obwohl er „schon sehr oft angemacht“ wurde. Dies macht deutlich, wie sehr Mohammed mit sich selbst kämpfen musste, um sich zügeln zu können. Er klingt beinahe so, als würde durch bestimmte Äußerungen anderer Personen eine Art Mechanismus ausgelöst, der ihn die Kontrolle verlieren und „abticken“ lässt. Dieser biographisch erworbene Mechanismus wird wohl so lange in Kraft bleiben, bis Mohammeds Annerkennungs- und Selbstachtungsproblem gelöst ist und er in den Blicken anderer Menschen nicht mehr nur die bloße Abwertung seiner Person wahrnimmt.

Nur zögerlich erzählt er, dass er auch wütend reagierte, wenn die Blicke anderer ihn selbst trafen. Er dachte sich „im Kopf“: „was will der denn...“ oder reagierte mit verbaler Gegenwehr. Jedoch gibt er zu, er sei auch „normal aggressiv“ geworden, wenn er „doof angemacht“ wurde, was dann auch zu gewalttätigen Reaktionen führte. Seltsamerweise gibt er vor, sich daran weniger erinnern zu können. Man kann hier vermuten, dass er seine gewalttätigen Reaktionsformen mit einem gewissen Beschützerinstinkt in Bezug auf seine Mutter rechtfertigt und dass ihm Aggressionen, wenn es um ihm selbst geht, eher unangenehm sind. Dies passt auch zu seiner anfänglichen Präsentation als Beschützer seiner Mutter.

Für Mohammed ist es also „normal“ in derartigen Situationen aggressiv zu reagieren. Seine Handlungsmaßstäbe scheinen sich soweit manifestiert zu haben, dass gewaltförmige Reaktionen als „normal“ gelten, zumal in seinem Freundeskreis diese Ansichten Deckung finden und er in seiner Familie Gewalt auch als alltägliche Handlungsform erlebt hat.

Auch der nächste Ausschnitt zeigt, wie Mohammed auch bei an ihn gerichteten Fragen abschweift; ob absichtlich oder unbewusst!?:

I: Was ist das denn für ein Gefühl, wenn du blöd angemacht wirst?

B: So scheiße ne, innerlich so- wenn jemand vor jemanden, jemand anderen fertig macht, mag ich das überhaupt nicht ( ) (Abhang S. 10, Zeile 1093ff.)

Der Interviewer fragt explizit nach seinen Gefühlen, wenn er „blöd angemacht“ wird. Er antwortet kurz und sagt, er fühle sich „scheiße innerlich“, was auf seine seelische Verletzbarkeit und Sensibilität bei bloßen verbalen Angriffen hindeutet. Sogleich driftet er ab und sagt, er möge es gar überhaupt nicht, „wenn jemand vor jemanden, jemand anderen fertig macht“. Die Nähe zu seinen familiären Erfahrungen ist wieder deutlich zu erkennen: Sowie es ihn verletzte und er Hassgefühle entwickelte, als sein Vater seine Mutter „fertig“ machte, übertrug sich diese Verletzbarkeit und Aggressionsbereitschaft auf Situationen, die an die frühren Erlebnisse erinnerten. In solchen Situationen wurde sein Beschützerinstinkt wach. Die moralische Verletzung von damals, nicht so handeln zu können, wie er es für richtig empfand, durfte sich nicht wiederholen. Mohammed versuchte, so kann man interpretieren, die Verletzung seiner moralischen Person zu reparieren, indem er von nun an immer schwächere Menschen beschützte und somit seine früheren Ohmachtserfahrungen bzw. Erfahrungen der indirekten Viktimisierung zu kompensieren versuchte.

B: () wenn mich jemand anmacht, normal, dass ich auch aggressiv werde, oder wenn jemand laut wird, werd ich auch lauter! Werd ich auch schon aggressiv, dann schrei ich auch mal so, normal, seit dem ich hier bin, ich bin eigentlich auch schon, seit dem ich hier bin auf 300! Aber ich lass es nur nich so- ich will hier ja unbedingt raus! (Anhang S. 11, Zeile 1128ff.)

In Mohammeds Kopf existierte eine feindselige Umgebung, in der er von seinen Mitmenschen immer nur „angemacht“ und angeguckt wurde und in der jeder ihm „was will“. Sah er im Verhalten seiner Mitmenschen die Absicht oder las er diese lediglich hinein, ihn „doof“ anzumachen bzw. ihn zu erniedrigen, reagierte er aggressiv, schrie oder wurde gewalttätig, um sich Anerkennung zu verschaffen oder die anderen wenigstens zum Schweigen zu bringen. Er scheint eine unglaubliche Angst vor der Missachtung und Ablehnung anderer Menschen zu haben, die er seelisch schwer aushalten kann. Daher beugte er dem vor, indem er regelrecht vorschnell zum Bedroher wurde und so den Gegner daran hinderte, ihm in irgendeiner Art und Weise Anerkennung zu verweigern. Leider erzählt Mohammed keine entsprechende Beispielsituation; aus seinen Erzählungen geht ein gewaltaffines Interpretationsregime jedoch deutlich hervor.

Wie sehr Mohammed mit seinen „normalen“ Aggressionen zu kämpfen hat und wie sehr er diese verinnerlicht hat, wird hier deutlich. Selbst im Gefängnis, oder gerade deswegen, konnte er seine Aggressionen nicht abbauen: Er ist „auf 300!“, kann sich aber unter Kontrolle halten; oder auch nicht, denn während der Interviewzeit gab es einen gewalttätigen Vorfall zwischen Mohammed und Deniz, einem weiteren Interviewten, weshalb beide für kurze Zeit in die geschlossene Unterbringung kamen. Auch dies war ein eher geringfügiger Anlass, der nach der Erzählung Mohammeds durch Deniz angezettelt wurde. Jedoch schien dies wohl ein willkommener Anlass für Mohammed gewesen zu sein, seine Aggressionen zu entladen. All seine Gewalttaten - dieser „gewaltsame Kampf um Macht und Anerkennung“ (Sutterlüty (2003), S. 287) - sind nicht in der Lage seine Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen aufzuwiegen. Die gewalttaffinen Interpretationsregimes scheinen also bis heute in Kraft geblieben zu sein, was der Notwendigkeit der sozialen und psychologischen Auseinandersetzung mit der eigenen Gewalttätigkeit, besonders im Vollzug, Nachdruck verleiht! Diese aus der Familie hervorgegangenen Interpretationsregimes und die zuvor genannte

[...]


1 Informationen dieses und des folgenden Kapitels entstammen dem schriftlichen Konzept der Anstalt (siehe Literaturverzeichnis).

Fin de l'extrait de 207 pages

Résumé des informations

Titre
Intrinsische Gewaltmotive und ihre biographische Genese am Beispiel von jugendlichen Inhaftierten
Université
University of Göttingen
Note
1.3
Auteur
Année
2007
Pages
207
N° de catalogue
V186464
ISBN (ebook)
9783869436845
ISBN (Livre)
9783869432076
Taille d'un fichier
1797 KB
Langue
allemand
Mots clés
intrinsische, gewaltmotive, genese, beispiel, inhaftierten
Citation du texte
Magistra Artium Julia Elisabeth Teuber (Auteur), 2007, Intrinsische Gewaltmotive und ihre biographische Genese am Beispiel von jugendlichen Inhaftierten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186464

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