Selbst oder Subjekt? Eine Untersuchung am Beispiel der Humanistischen Psychologie und der Sozialpädagogischen Theorie


Mémoire (de fin d'études), 2011

115 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

1 Einleitung

2 Das Subjekt bei Michael Winkler
2.1 Das Subjekt - Sinnkern sozialpädagogischen Denkens
2.2 Vom Individuum zum Subjekt
2.2.1 Strukturbedingungen des Humanen
2.2.2 ZeitlichkeitundNotwendigkeitzurErziehung
2.2.3 Gesellschaftliche Bedingungen
2.3 Das Subjekt als Antwort auf die Herausforderungen der Moderne

3 Das Selbst im person-zentrierten Ansatz von Carl Rogers
3.1 Der Begriff der Person
3.1.1 Zum allgemeinen Wortgebrauch des Personbegriffs
3.1.2 Grundlagen des Personbegriffs
3.1.2.1 Etymologie
3.1.2.2 PhilosophischeundtheologischeBegriffsgeschichte
3.1.2.3 DerPersonbegriffimindividualistischen Verständnis
3.1.2.4 DerPersonbegriffimrelationalen Verständnis
3.1.2.5 Analogie zum Theater
3.2 Der Personbegriff der Humanistischen Psychologie als Synthese des substantialen und relationalen Personverständnisses
3.3 GrundannahmenderHumanistischenPsychologie
3.4 PersonbeiCarlRogers-Individuum,OrganismusundSelbst

4 GegenüberstellungSubjektundSelbst

5 Subjekt und Person - Handeln und Sein?
5.1 WinklersGrundbestimmungendessozialpädagogischenHandelns
5.1.1 SubjektundOrt
5.1.2 Acht Grundbestimmungen des sozialpädagogischen Handelns
5.2 Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung bei Carl Rogers
5.3 Haltung des Sozialpädagogen

6 Zwischenfazit

7 Grundlagen des Buddhismus - Person und Subjekt aus buddhistischer Sicht
7.1 Historisches
7.2 Die VierEdlen Wahrheiten-EssenzdesBuddhismus
7.3 Die Fünf Daseinsfaktoren - und ihre Bedeutung für das Subjekt und das Selbst
7.4 Bewusstsein
7.5 Über das mit Worten Sagbare hinausgehen - Meditation
7.5.1 EinBlickaufdieBedeutungvonMeditationfurSubjektundSelbst
7.5.2 Achtsamkeit als Verbindung zwischen Handeln und Sein
7.6 Ethik und Philosophie
7.7 Abhängiges Entstehen

8 Fazit

Literatur

1 Einleitung

„Was ist der Mensch?“ Es ist letztlich das Interesse an dieser Frage, das der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Der Mensch steht, allein dadurch, dass er es ist, der die Fragen stellt, im Zentrum jeder Wissenschaft und der Sozialpädagogik insbesondere. „Die Aufgabe von Sozialpädagogik fängt immer dort an, wo die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft (...) als Entfremdungsverhältnis begriffen wird. In ihre Veränderungsabsichten bezieht sie notwendigerweise beide Seiten mit ein.“ (Hamburger 2001, 249) Sozialpädagogik steht also an der Schnittstelle, wo das Individuum mit seinen Voraussetzungen, Möglichkeiten und konkreten Lebensbedingungen quasi als Mikrokosmos einem objektivierbaren Resultat von Menschsein, wie es sich aktuell in gesellschaftlicher, politischer, kultureller und ökonomischer Praxis und in kollektiven Wahrnehmungsmustern darstellt, auf einer Makroebene begegnet und dieses Zusammentreffen nicht reibungslos verläuft. Da Gesellschaft menschengemacht ist, begegnet das Individuum in ihr genaugenommen nur Aspekten seiner selbst, immerhin als Potential. Dass Sozialpädagogik sich konsequent der Makroebene ebenso verpflichtet sieht wie der Mikroebene, macht sie unter den Sozialwissenschaften einzigartig und stellt den Menschen in doppelter Hinsicht ins Zentrum, nämlich als Einzelwesen mit einer eigenen Biographie, individueller Entwicklungslogik samt allen inneren und materiellen Voraussetzungen für seine Entwicklung und seiner Verantwortung für den Makrokosmos, in welchem es agiert, sowie in seiner Abhängigkeit von den Strukturen der Gesellschaft, denen es gleichzeitig unterworfen und für deren Gestaltung es mitverantwortlich ist und welche dem Einzelnen gegenüber eine Verantwortung haben. Die Komplexität des Gegenstands ist evident, und hierin liegt sicherlich ein Grund dafür, weshalb in der Sozialpädagogik bislang nur eine einzige vollständige Theorie ihres Wissenschaftsgebäudes vorliegt, die Michael Winkler zu verdanken ist.

Was eine Theorie der Sozialpädagogik leisten kann, vergleicht Winkler mit „der Hilfe [...], die wir von einer Landkarte erwarten dürfen.“ (Winkler 1988, 87) Je nachdem, welchem Zweck die Karte dienen soll, wird die Karte unterschiedliche Elemente betonen, besonders detailliert darstellen oder ganz weglassen. Eine Wanderkarte muss keine Informationen über die biochemischen Eigenschaften des Bodens der Gegend enthalten, die der Wanderer besuchen möchte, wird aber besonders reizvolle Aussichtspunkte markieren und Informationen darüber liefern, wo möglicherweise Steigungen oder Abgründe zu überwinden sind.

Darüber, wie dies geschehen kann, gibt die Karte keine Auskunft. Allerdings wird das, worauf sie besondere Aufmerksamkeit lenkt, den Reisenden veranlassen, für Ausrüstung zu sorgen, die dem entspricht, was er vorzufinden erwartet - und, was er zu tun beabsichtigt, möglicherweise auch zu erleben wünscht. In diesem simplen Bild ist der große Einfluss der nicht-objektivierbaren Elemente auf die tatsächliche Reise bereits angedeutet, nämlich derer, die der Mensch selbst mit sich bringt.

Die Frage, wie die innere „Ausrüstung“ des Menschen beschaffen ist, ob und wie und von wem sie modifiziert werden kann und darf, oder ob der Mensch selbst eher einem „Gebiet“ vergleichbar ist und inwiefern sich darin bewusst bewegt werden kann, ist bedeutend sowohl für die Pädagogik Michael Winklers als auch für die Psychologie Carl Rogers’. Rogers’ Ansatz wurde gewählt, da er von ihm explizit nicht als Wissenssystem speziell für Psychologen, Therapeuten oder überhaupt irgendwelche Experten ausgewiesen wird, sondern als „Zugang zujeder Art von menschlicher Beziehung.“ (Rogers 1995, 189) Er ist damit einerseits interessant im Hinblick auf pädagogisches Handeln, und er verspricht andererseits hiermit auch grundlegende, universale Aussagen über die Bedingungen des Menschseins.

Winkler und Rogers sprechen beide innerhalb ihres jeweiligen Theoriegebäudes nicht vom Menschen. Dieser benutzt den Begriff „Person“, jener spricht vom „Subjekt“. Dieser begrifflichen Unterscheidung bin ich gefolgt, damit wird meist auf dieje unterschiedlichen Hintergründe hingewiesen. Es gibtjedoch auch Fälle, wo die Begriffe Verwendung finden, ohne dass dies eine direkte Bezugnahme auf die jeweilige Theorie bedeutet; dort wird aus dem Kontext deutlich, dass der Begriff ohne besonderen Bezug zu der ihm zugehörigen Theorie im Sinne allgemeinen Sprachgebrauchs verwendet wird.

In der vorliegenden Arbeit möchte ich Michael Winklers Subjektbegriff, wie er ihn in seiner „Theorie der Sozialpädagogik“ darlegt, dem Begriff der Person und insbesondere ihrem Aspekt des Selbst von Carl Rogers’ gegenüberstellen und zeigen, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der „Kartographierung“ bestehen und, in einem zweiten Schritt, untersuchen, was dies im Hinblick darauf bedeutet, in welcher Weise sich Therapeut und Sozialpädagoge für die Reise mit einem anderen Menschen - dem Klienten bei Rogers, dem Zögling bei Winkler - rüsten können. Die Ergebnisse dieser Untersuchung führen in eine Zone, die sich der Möglichkeit unmittelbarer Betrachtung und damit einer Beschreibung zu entziehen scheint und in beiden Theorien dementsprechend mehr angedeutet, sicherlich jedoch nicht systematisch beschrieben wird. Und doch wird sie genannt, und zwar in Zusammenhängen, die für den Erfolg pädagogischen und therapeutischen Handelns außerordentlich zentral erscheinen. Es zeigte sich auf der Landkarte ein weißer Fleck, der durch wichtige, beschreibbare und beschriebene Momente kontrastiert ist, so dass, dies markiert den dritten großen Abschnitt dieser Arbeit, eine Möglichkeit gesucht wurde, sich diesem zu nähern. Diese findet sich in der Lehre des Buddhismus. Parallelen zwischen dieser und den Ergebnissen seiner eigenen Forschung wurden von Rogers selbst festgestellt, so dass sich hier kein Problem der Subsummierung unter den Titel der vorliegenden Arbeit ergab.

Das durch christliche Werte geprägte westliche Denken unterscheidet sich sehr grundlegend vom östlichen, und um ein Verständnis zu gewinnen, war es notwendig, viele verschiedene Formulierungen und Annäherungsweisen zu verwenden. Diesem Umstand ist die Fülle der Literatur geschuldet, welche für diesen Punkt verwendet wurde. Ein Wort noch zu dem möglicherweise in diesem Kontext irritierenden Titel „Tief aus dem Herzen“ von Thich Nhat Hanh. Hier finden sich sehr klare Aussagen über die Übung der Achtsamkeit und die einzelnen Übungsobjekte. Thich Nhat Hanh ist ein anerkannter buddhistischer Gelehrter, ein berühmter Zen-Meister und für seine Achtsamkeitspraxis weltbekannt. Er bevorzugt für seine Veröffentlichungen „blumige“ Titel. In der Logik des Buddhismus, nach der das Gefühl ebenso wie der V]erstand angesprochen werden soll, ist dies folgerichtig, aber sie wollen doch nicht so recht in die hiesigen gängigen Vorstellungen einer wissenschaftlichen Arbeit passen. Die Berücksichtigung der ihm entnommenen Inhalte erschien mir jedoch unverzichtbar, so dass in Kauf genommen wurde, dass der Titel nicht die gewohnte Nüchternheit vermittelt.

2 Das Subjekt bei Michael Winkler

2.1 Das Subjekt - Sinnkern sozialpädagogischen Denkens

Der Begriff des Subjekts bildet das Zentrum von Winklers Theorie der Sozialpädagogik.

Er stellt gewissermaßen die Klammer für die beiden Themenbereiche seiner Theorie, das sozialpädagogische Problem und das sozialpädagogische Handeln, dar.

Getrennt voneinander betrachtet könnten diese beiden Themen auch von anderen Disziplinen verhandelt werden:

„Im Kontext einer psychologischen Theorie ließe sich das hier als sozialpädagogisches Problem Bezeichnete ohne große Abstriche integrieren; ebensogut könnte der Themenbereich der sozialpädagogischen Praxis soziologisch oder politologisch thematisiert werden.“ (Winkler 1988, 96)

Die Bereiche miteinander in einen kausalen Zusammenhang zu stellen um auf diese Weise zu einer einheitlichen Theorie zu gelangen, ist, so argumentiert Winkler mit Heinrich Tuggener, nicht zulässig, da die Strategien pädagogischen Handelns sich wandeln, wenn die Paradigmen der Deutung sich verändern, d.h. beide müssen unabhängig voneinander beweglich bleiben. Zu einem neuen Deutungsmuster zu gelangen muss möglich sein, ohne schon zu wissen, welche Handlungsstrategie zu diesem passen wird, bzw. ohne sich an bereits bestehende Praxis gebunden zu sehen. Ebenso kann Praxis sich entwickeln und reflektiert werden, ohne die Deutungsmuster grundsätzlich infrage zu stellen. Die beiden Felder finden ihre Verknüpfung erst in der Person des Erziehers:

„Der Erzieher muß demnach mit der Theorie wie mit einem Rechenschieber umgehen: Er hat zunächst das Problem, die Aufgabe zu identifizieren; sie läßt sich als der eine Wert begreifen, der eingestellt wird. Den auf Praxis zielenden Reflexionszusammenhang muß er nun in einem Punkte auf die gleiche, je notwendige Höhe mit dem ersten Wert bringen: Wie er dann sozialpädagogisch handeln kann, läßt sich aus der Gesamtposition des Rechenschiebers nun ablesen.“ (Winkler 1988,97)

Ein weiterer Grund für die Zentralstellung des Subjektbegriffs liegt darin, dass in ihm nicht nur beide Themenbereiche, sondern wiederum auch ihr jeweils "doppelter Status" einen gemeinsamen Referenzpunkt finden. Das sozialpädagogische Problem muss in zwei Dimensionen betrachtet werden, einmal rein phänomenologisch und dann in seiner Bedeutung für die Sozialpädagogik, es wird also in dessen spezifischen Bezugsrahmen semantisch eingeordnet und reflektiert. Für das sozialpädagogische Handeln zeigen sich ebenfalls zwei Richtungen, nämlich einerseits die "Bedingungen, Formen und Strukturen des Handelns" und andererseits die Rückbindung an die Reflexionsbegriffe der sozialpädagogischen Kategorien. (vgl. ebd., 97f)

Der Bedeutungszusammenhang des Subjektbegriffs liefert die Bezugspunkte für die Reflexion der Bedingungen, die in der modernen Gesellschaft für die Entfaltung von Subjektstatus und Subjektivität sowie ihrer Bedrohung zu finden sind. „Von ihm aus läßt sich das sozialpädagogische Problem als solches strukturieren; von ihm aus wird auch das sozialpädagogische Handeln begreifbar.“ (ebd., 98)

Der Subjektbegriff ist, wie noch zu zeigen sein wird, gebunden an die moderne Gesellschaft; in ihm ruhenjedoch Inhalte, die dieser vorausgegangen sind. Winkler stellt sie mit dem Interesse an der "allgemeine[n] Struktur des sozialpädagogischen Problems" dar, und sie liefern wertvolle Anhaltspunkte für die Gegenüberstellung mit Rogers, daher folgt nun eine Zusammenfassung.

2.2 Vom Individuum zum Subjekt

2.2.1 Strukturbedingungen des Humanen

Jeder Reflexion über menschliche Seinsbedingungen zugrundeliegend ist das Faktum, dass der Mensch durch die Entwicklung seines Gehirns die deterministischen natürlichen Gesamtzusammenhänge verlassen hat und über die "Grundmechanismen des Biologischen" hinausgegangen ist. Der Mensch besitzt die Freiheit und Aufgabe zu produktiver Aktivität. Winkler stellt diesen praktischen Aspekt mit Marx besonders heraus: "Alles menschliche Leben vollzieht sich wesentlich praktisch, denn die Menschen fangen (...) damit an, (...) sich aktiv zu verhalten"; es ergibt sich aus dieser Entwicklung eine weitere "Naturbedingung", der Mensch sieht sich seiner eigenen Konstitution gegenübergestellt, die ihm Potential und auch Auftrag ist. (vgl. ebd., 105)

"Biologisch verwaist stehen sie [die Menschen, V.H.] ihren eigenen Naturbedingungen gegenüber, die sie doch wieder aneignen müssen: Um die Kontinuität ihres Gattungslebens zu sichern, sind sie auf sich selbst verwiesen; sie müssen den verlorenen Zusammenhang mit der Natur wieder herstellen, sich ökologisch verhalten. Die eigenen Naturbedingungen sind der menschlichen Gattung nicht gegeben, sondern aufgegeben." (ebd.)

Diese Bedingungen konstituieren die Strukturbedingungen des Humanen, die Winkler in fünf Aspekten differenziert darstellt; sie greifen alle ineinander und sind unabhängig voneinander nicht denkbar. Darüber soll die Darstellung in einzelnen Punkten nicht hinwegtäuschen, sie erfolgt aus Gründen der klareren Übersicht. (vgl. ebd., 106)

1. Opposition

Der Mensch findet sich anderen Menschen gegenübergestellt, sowie seinen eigenen Lebensbedingungen. Durch die Differenz zur Natur tritt diese dem Menschen als Objekt gegenüber. Der Mensch begreift sich nicht als Teil der Natur, sondern er muss sich mit ihr auseinandersetzen, über sie verfügen, sie sich nutzbar machen. Durch die Bemächtigung der Natur, so Winkler, hebe der Mensch die Differenz zur Natur auf, werde eins mit ihr. (vgl. ebd.)

2. Praxis

Die Prozesse der Bemächtigung der Natur beruhen auf absichtsvollem, zielorientiertem Handeln, Aneignung und Kommunikation erfolgen durch Praxis - im Unterschied zu instinkthaftem Verhalten oder bloßer Aktivität. "Damit wird Praxis (...) zu einem charakteristischen Merkmal der Gattungsmitglieder." (ebd.) Jede Reflexion über die menschliche Gattung ist unmöglich ohne Bezug zu ihrer Praxis.

3. Institutionalität

Die Praxis, entwickelt an den Notwendigkeiten, der Natur gegenüberzutreten, sowie die eigene Natur zu organisieren, tritt wiederum als Bedingung dem Menschen entgegen als "Vergegenständlichung menschlicher Tätigkeit", als Werkzeuge, die sich im weitesten Sinne als Institutionen bezeichnen lassen. Ihr Gebrauch, kulturell geformt, beeinflusst wiederum soziale Praxis, stellt Forderungen und bildet Begrenzungen.

"Weil die Kultur sich als Resultat der kollektiven Naturaneignung ergibt, kann sie scheinbar unabhängig von den Individuen bestehen,ja beginnt sogar, sich gegenüber diesen mit imperativer Macht durchzusetzen. Sie müssen sich den Formen menschlicher Tätigkeit unterordnen, die sie doch selbst geschaffen haben." (ebd., 108)

4. Symbolhaftigkeit

Die durch bewusstes Handeln geschaffene objektivierte Praxis des Menschen stellt die materielle Seite des Wirkens gegenüber der Natur dar. Auf der semiotischen Ebene bilden sich Symbole und Zeichen, über die ein Bedeutungssystem vermittelt wird, durch welches menschliches Tun kontrolliert sowie sinnhaft vermittelt wird, z.B. Sprache. An deren Beispiel zeigt Winkler, dass vom Menschen geschaffene Systeme eine Eigendynamik entwickeln:

Es "zeigt sich an ihr, was als Grundzug das 'gesellschaftliche Wesen' der Menschen beherrscht: Wenn auch abhängig von deren Aktivität, besteht es doch unabhängig von den einzelnen und kann sich als ein Ganzes in einer Weise entwickeln, die keiner ursprünglichen Absicht entspricht." (ebd., 109)

Sprache ist ein Element des menschlichen Kulturprozesses; dieser entfaltet sich - aus der Perspektive des Individuums - entlang eines eigentümlichen Verhältnisses von Bindung an Ergebnisse vergangenen Handelns und deren Wirkung auf die gegenwärtige psychische Existenz, sowie der Freiheit, sich von ihnen zu emanzipieren. (vgl. ebd.)

1988 ging Winkler noch davon aus, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, dass sich selbst im Spiegel identifizieren kann. Mittlerweile ist bekannt, dass einige Menschenaffen, aber auch Delfine und Elstern in der Lage sind, sich im Spiegelbild zu erkennen. (vgl. Prior et al 2008, o.S.) Winkler erkennt in diesem - noch für einmalig gehaltenen - Vermögen eine der Voraussetzungen für soziales Handeln. Sie ermöglicht, untereinander in Kontakt zu treten und darin über die "Unmittelbarkeit vitaler Verständigung" hinauszugehen und zu erkennen, dass der eigene Standpunkt abhängig ist von denen vieler anderer. (vgl. Winkler 1988, 109f)

So sind die sozialen Beziehungen von der "Reziprozität der Blickpunkte" geprägt, doch auch die Selbstreflexion, die aus der Möglichkeit zur Selbstwahrnehmung erwächst, ist nicht zu denken ohne die Bedingungen, unter denen sie stattfindet. (vgl. ebd., 110) Das Individuum betrachtet sich nicht nur gewissermaßen in seinem eigenen Kosmos, sondern berücksichtigt hierbei die Reflexion durch die anderen, ebenso wie deren Selbstreflexion.

"So kommt Reflexivität in einem weiteren Sinne, nämlich als das bewußte Bedenken des eigenen Tuns mit Hilfe der in der Gesellschaft institutionalisierten und symbolisierten Inhalte ins Spiel: Sie helfen, die Komplexität zu bewältigen, die aus der Möglichkeit zur Selbstreflexivität entsteht; und andrerseits erweist sich so sogar die Selbstreflexivität - nicht bloß, weil sie über Sprache vermittelt ist - als an ein Konzept des Überindividuellen gebunden." (ebd., 110)

2.2.2 Zeitlichkeit und Notwendigkeit zur Erziehung

Die Geschichtlichkeit der menschlichen Praxis ist ein weiterer wesentlicher Faktor bei der Betrachtung des spezifisch Menschlichen. In der Entwicklung von Techniken und Institutionen als Ergebnis des aneignenden, konsumierenden Umgangs mit der Natur vergegenständlichen sich vergangene Aktivitäten. Diese Technik steht zu einem Zeitpunkt Individuen zur Verfügung, der weit entfernt von ihrem Entstehungszeitpunkt liegen kann und an deren Entwicklung die gegenwärtig damit konfrontierten Individuen nicht beteiligt waren. Diese können auf vergangener Aktivität aufbauen. Sie müssen jedoch auch ihren Gesetzen gehorchen.

"(...) diese Geschichtlichkeit des menschlichen Gattungswesens birgt nicht nur die positive Möglichkeit der ständigen Erweiterung des menschlichen Handlungsspielraumes. Negativ bedeutet sie, daß das menschliche Tun, die aktuelle Gestalt der Praxis nicht mehr beliebig ist: Man muß die Plätze der Fallgruben kennen und die Techniken des Fallgrubenbaus beherrschen, andernfalls der Tod in den von anderen und früheren angelegten Gruben droht." (ebd., 111)

Die Vermittlung des Wissens um die Kulturtechniken über die Generationen hinweg ist demzufolge eine wesentliche Aufgabe, um die "Kontinuität des Gattungslebens" zu sichern. (vgl. ebd.) Die ältere Generation produziert eine je historische Form des Gattungswesens, die die jüngere Generation als zur Verfügung stehende Mittel und als Anforderung vorfindet, die - aus der Perspektive der jüngeren Generation - angeeignet und - aus der Perspektive der älteren Generation - vermittelt werden muss. Dies geschieht im Erziehungsprozess. Hier tritt nun der Begriff des Subjekts auf. Winkler spricht vom "Subjekt der Vermittlung" und vom "Subjekt der Aneignung". Die "Objektivationen der (...) Tätigkeit", d.h. also die Vermittlungsgegenstände, bezeichnet Winkler als "dritten Faktor". (vgl. ebd.)

Der Begriff des Individuums bezieht sich bei Winkler also zunächst auf eine leiblich abgegrenzte biologische Einheit und entfaltet sich über gesellschaftlich bedingte Individualisierungsprozesse hin zum Begriff des Subjekts. Dieser beinhaltet spezifische kognitive Fähigkeiten, konkrete und abstrakte soziale und ökonomische Bezüge, er ist nicht denkbar ohne Selbstreflexion und ohne Kategorien von Zeit und Raum. Winkler zeigt die gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne als konstituierende Merkmale für seinen Subjektbegriff auf und stellt sie differenziert in dem Kapitel 8 seiner Theorie dar. Dieses wird im folgenden Abschnitt in seinen grundlegenden Aussagen referiert, soweit sie für die Fragestellung dieser Arbeit von Bedeutung sind.

2.2.3 Gesellschaftliche Bedingungen

In ihrer zunehmenden Komplexität und Ausdifferenziertheit unterschiedlicher sozialer und kultureller Praxen stellt die moderne Gesellschaft das Individuum vor die Aufgabe, mit unvereinbaren Anforderungen umzugehen. Diese sind nicht vereint unter dem Dach eines gemeinsamen Prinzips, sondern stellen widersprüchliche Ansprüche, die vom Individuum aufgenommen und integriert werden müssen. Die Person muss sich durch diesen Prozess gewissermaßen selbst erschaffen und mit anderen in Beziehung treten. (vgl. ebd., 122) Die moderne Gesellschaft ist dynamisch, Veränderung und Fortschritt sind wesentliche Prinzipien für sie, und so ist auch vom Individuum Flexibilität und dauernde Anpassungsleistung gefordert. Dabei ist das Individuum auf sich selbst verwiesen, denn "die Konstitution der modernen Gesellschaft vollzieht sich in einem Prozeß der Individualisierung. (...) werden doch einerseits die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zu Mitgliedern erst, indem sie aus den traditionellen Lebenszusammenhängen herausgelöst und auf sich selbst gestellt werden." (ebd., 123)

In den Segmenten der alten Gesellschaft war die Bindung an die Bedingungen der Reproduktionsprozesse, z.B. durch den vorgegebenen Rhythmus der Naturzyklen, unauflösbar und wurde nicht angezweifelt. Das Individuum bewegt sich innerhalb seines Segments, in ihm findet sämtliches soziales Leben statt: "Arbeit, Leben, Feiern und Erziehung gehören noch zusammen." (ebd., 124) Durch die wachsende Arbeitsteilung und die Etablierung des über monetäre Systeme geregelten Warentauschs entwickelt sich "die soziale Praxis des Besitzindividualismus", die Grenzen der Segmente werden durch die Handelsbeziehungen zwischen individuellen Warenbesitzern aufgelöst. Nunmehr bildet die zentrale Kategorie für eine gesellschaftliche Position nicht mehr das tatsächliche Tun des Individuums, sondern seine Potenz als Tauschpartner. (vgl. ebd., 125) Die Freiheit von den sozialen und kulturellen Zusammenhängen eines Segments wird erkauft durch Bindung an Besitz: "Tatsächlich aber bedeutet der Individualisierungsprozeß einen Vorgang der Depossedierung, der nur dort erträglich wird, wo Eigentum in der Form des abstrakten Äquivalents angehäuft wird." (ebd.) Und, in einem weiteren Schritt, nachdem sich der Kapitalismus durchsetzte: Wer einzig über seine eigene Arbeitskraft als Ware verfügen kann, hat nur den Zwang der Zunft gegen die Zwänge der kapitalistischen Produktionsweise getauscht, die die Lebensbedingungen noch tiefgreifender beeinflussen als der geldvermittelte Tausch. (vgl. ebd.)

Der Kapitalismus ist angewiesen auf den Mechanismus der Individualisierung. "Die Existenz von freien, allein noch über ihre Arbeitskraft verfügenden Individuen bildet allerdings die Voraussetzung für die zweite ökonomische Grundstruktur der Moderne: Auf ihr beruht die kapitalistische Produktionsform." (ebd., 126) Das Interesse an der Erzeugung von Mehrwert verlangt eine Unterordnung aller Lebensverhältnisse unter die Prinzipien, die diesem Ziel dienen. Dies ist nicht denkbar ohne dass der Einzelne individualisiert wird:

"Genauer: die anonyme, nicht faßbare Instanz des Kapitals stellt seine Lebensweise in jeder Hinsicht infrage, indem sie diese mit Kulturmustern überzieht, die allein dem Warenkalkül gehorchen; mehr noch: weil sich die Individuen selbst immer wieder in der Sozialform des warentauschenden Individuums bewegen müssen, tun sie das selbst noch."(ebd.)

Die Produktivkräfte und ihre Gesetzmäßigkeiten, die den Interessen zur Gewinnmaximierung Rechnung tragen sollen, treten als eigene Welt den Individuen gegenüber. Die Individuen bilden diese Produktivkräfte nur wirkungsvoll durch Verkehr und Zusammenarbeit, finden sich jedoch andererseits in einer Situation von Vereinzelung und Konkurrenz zueinander.

"Moral können sie sich nicht leisten - sie müssen als Individuen ihre eigenen Prinzipien durchbrechen und so den Fortschritt ermöglichen; das heißt: sie müssen dem Prinzip der Kapitalakkumulation gehorchen. Kurz: sie verfolgen durchaus ein soziales Prinzip, welches indes nur in seiner allgemeinsten Form, gerade unabhängig von allen Inhalten gilt." (ebd., 127)

Der Sinn der Lebenspraxis, ursprünglich gegründet durch die Notwendigkeiten der Lebensbewältigung und in deren sozialen Bezügen abgesichert und bestätigt, wird durch die dynamischen Gesetze des kapitalistischen Marktes wiederholt aufgebrochen, neu definiert und "mit geänderten Vorzeichen wieder angeboten." (ebd.)

Dem Einzelnen steht ein Ganzes der Gesellschaft gegenüber, das Individuum hat die Aufgabe, dieses "in einem kritischen Lernprozeß anzueignen". (ebd., 128) Eine Voraussetzung hierfür ist, dass der Staat der potentiellen Bedrohung, die aus der Individualisierung erwächst, begegnet, indem er das Gewaltmonopol hält und durch Gesetze regulierend wirkt. Zudem muss er die Rahmenbedingungen der Existenzsicherung schaffen. In der Erfüllung dieser Aufgaben tritt er, als bewahrendes, konservatives Element, der Dynamik der modernen Ökonomie entgegen, wiewohl er "erheblichen Anteil an der Durchsetzung des Proletarisierungsprozesses, somit an der Etablierung und Sicherung der bürgerlichen Gesellschaft hat, wird sie [die staatliche Gewalt] für diese zur Belastung."(ebd., 129)

Auf der Seite der Individuen sind ebenfalls Voraussetzungen zu erfüllen, um eine Individualisierung und gleichzeitig eine Passung in das soziale System zu gewährleisten. Sie müssen die Anforderungen der Gesellschaft annehmen, auch bereit sein, ihrem Wandel zu entsprechen, und sie müssen dies aus freier Entscheidung heraus tun, müssen Individuum bleiben. (vgl. ebd.) Winkler bezeichnet den Vorgang, der notwendig zur Herausbildung einer solchen Haltung ist, als Etablierung eines neuen Typus von Psyche. Von außen können die Prinzipien der Vergesellschaftung nicht an das Individuum herangetragen werden, weder durch Zwang noch durch Vermittlung bestimmter Inhalte. „Die Normen der sozialen Praxis lassen sich nämlich nicht empirisch fassen und objektivieren. Man kann ihnen nur in der Praxis selbst gehorchen, muß sie also in der eigenen Psyche selbst erzeugen.“ (ebd.) Das immer dichter werdende Netz von Abhängigkeiten unter den sich immer weiter ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Funktionen erfordert eine genaue Abstimmung des Verhaltens von immer mehr Menschen aufeinander. Die dafür erforderlichen Qualitäten sind so komplex, dass eine „gewohnheitsmäßige und blinde Selbstkontrollapparatur“ benötigt wird, um ein 'richtiges' Verhalten zu gewährleisten. Es bildet sich ein individuelles und zugleich soziales Bewusstsein. Die Systemimperative Vernunft und Zivilisation sind in die Psyche der Individuen eingelagert, das ökonomische Denken wird freigesetzt durch die Auflösung der religiösen Bindung, der potentiell zerstörerischen Dynamik der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wirken Mechanismen der Selbstdisziplinierung entgegen. (vgl. ebd., 130f)

Diese Systemimperative sind als Ordnungsfunktionen zu verstehen, die in zwei Dimensionen wirken. Die erste ist der zeitliche Kontext.

„Vergesellschaftung wird durch die Individuen vollzogen, indem sie ihr eigenes Handeln, mehr noch: ihre gesamte individuelle Biographie allgemein mit Hilfe des Zeitbegriffs interpretieren, sich dabei aber konkret unter Zugrundelegung des gesellschaftlich etablierten Zeitmaßstabes selbst und mit anderen synchronisieren.“ (ebd., 131)

Vernünftiges und zivilisiertes Handeln ist ein solches, das zur rechten Zeit geschieht und dessen Abfolge auch für andere nachvollziehbar ist, außerdem ist es auf eine antizipierte Zukunft gerichtet; dies ist als dynamischer Zug ein fundamentaler Bestandteil der Moderne. Mit der Einführung der Uhr war es möglich, die moderne Gesellschaft zu etablieren, ihre Arbeitsprozesse benötigen zwingend eine zeitliche Organisation des Arbeitsprozesses. Darüber hinaus ist der Wertbegriff der kapitalistischen Ökonomie ohne zeitliche Zusammenhänge nicht denkbar. (vgl. ebd., 132)

Ein weiterer Aspekt ist die Trennung der Lebenszeit in Arbeitszeit und Freizeit, wobei die gesamte individuelle Lebenszeit zunehmend an gesellschaftliche Institutionen gebunden wird. Je weiter die moderne Gesellschaft voranschreitet, umso mehr konkretisieren sich „»typische Biographien«, die dem einzelnen offenstehen, dabei die an ihn gerichteten Verhaltenserwartungen temporal strukturieren.“ (ebd.) Folgt das Individuum diesen Lebensplänen, wird der Individualisierungsprozess gebremst. Das Individuum erhält Sicherheit durch Gewissheiten, verliert aber die Fähigkeit, dem Strom der sich ständig verändernden gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesse zu folgen und wird für diese dysfunktional. Darüberhinaus gibt es Lebensmöglichkeiten preis und ordnet sich einem Regelwerk unter: „Wo nämlich Ereignisketten und Zeitpläne für das Individuum festgelegt sind, (...) gehören [ihm] nicht einmal die Ereignisse mehr, die noch durch seine physische Existenz determiniert sind.“ (ebd., 133)

Die zweite Ordnungsfunktion bezieht sich auf den Raum, der Mitgliedern der modernen Gesellschaft gestattet ist, den sie erobern, aus dem sie ausgegrenzt werden können. Grundlage für diese Vorgänge ist ein Beurteilungsverfahren, das sich daran orientiert, was als vernünftig und rational gilt. Die damit zusammenhängenden Inhalte variieren im historischen Verlauf, das Verfahren jedoch bleibt dasselbe, es beruft sich auf das, was mit den Begriffen "Vernunft" und "Zivilisation" symbolisch umgriffen wird. (vgl., 133f) Inhaltlich ist dieses nicht festgelegt: So galt es lange als höflich, also zivilisiert,jemandem, der in der Öffentlichkeit niesen muss, "Gesundheit" zu wünschen, inzwischen erwartet die Etikette, dass der Niesende um "Entschuldigung" bittet, wenn ihm diese Äußerung des Körpers entfährt. Dementsprechend muss es wohl als vernünftig gelten, wenn ein Mensch, der sich in Kreisen bewegen möchte, die Wert auf die Einhaltung solcher Verhaltensregeln legen, lernt, sich für sein Niesen zu entschuldigen. Dieses banale Beispiel mag verdeutlichen, wie willkürlich "Rationalität" und "Zivilisation" sein können.

Für das Individuum ergibt sich denn auch eine besondere Spannung. In dem Bemühen, sich im Sinne der Rationalitätscodes sozial zu verhalten, reflektiert er sein eigenes Handeln, bemüht sein Gewissen. "Nur: keineswegs schließt dies aus, daß andere zu einem anderen Urteil kommen. Ungewißheit, damit aber auch Ängste bleiben der ständige Begleiter des Individuums." (ebd., 133)

Die Festlegung, was als "rational" und "zivilisiert" gilt, kann, wenn man von einer Satellitenposition darauf blickte, vollkommen irrational und unzivilisiert wirken, denn:

"Die Vernunft sperrt sich gegen Mystik, gegen Willkür und mangelnde Gedankenkontrolle - aber sie ist darin selbst willkürlich, bedient sich selbst eines mystischen Vernunftbegriffes. Das Licht der Vernunft läßt die Vergangenheit im Dunkeln verschwinden - doch es sind bloß ihre Schatten, die das Frühere verfinstern." (ebd., 134)

Die systematische Ordnungsfunktion der Begriffe "Vernunft"/"Rationalität" und "Zivilisation" besteht also darin, zu unterscheiden. Zunächst wird differenziert zwischen Gesellschaften, die sich der Vernunft bedienen im Gegensatz zu solchen mit mystischen Bezugssystemen, das Selbstverständnis als "zivilisierte" Gesellschaft grenzt sich von "barbarischen" ab.

"Um nichts anderes geht es also, als um die Herstellung von Unterschieden, schließlich um die Ordnung der Welt in Räume, an denen diese Unterschiede sichtbar werden - an denen man aber, wenn auch nur ex negativo, all das erkennen kann, was die bürgerliche Gesellschaft auszeichnet." (ebd., 135)

Innerhalb der Gesellschaft werden ebenfalls Grenzen gezogen, mit deren Hilfe sich der "ehrbare Bürger" als solcher identifizieren kann. Da sich die ihnen zugrundeliegenden Kriterien jedoch jederzeit verändern können, besteht für jeden die Gefahr, aus dem sicher geglaubten, abgegrenzten Raum herauszufallen - nicht, weil das Individuum sich verändert hätte, sondern weil der Rahmen verschoben wurde und plötzlich in eine Randposition gerät, was ursprünglich im Zentrum lag. (vgl. ebd.)

Das Kriterium der "Vernünftigkeit" allein ist für die Integration oder Ausgrenzung aus der Mitte der Gesellschaft zu willkürlich, dies erkennen aufklärerische und schließlich medizinisch-therapeutische Denker. Und: Es dient den ökonomischen Interessen nicht. Also kommt eine weitere Differenzierung zum Tragen, nämlich die Einordnung nach Arbeitsfähigkeit. An dieser orientiert konkretisieren sich an Orten pädagogischen Handelns Prozesse zur Vergesellschaftung im Sinne von Vernunft und Zivilisation. Die pädagogischen Orte liegen selbst außerhalb der Gesellschaft, dies erlaubt eine gewissermaßen technisierte Herangehensweise an die Gesellschaftlichkeit. Auch in ihnen wirken die Aspekte der zeitlichen Ordnung, der Beurteilungsverfahren und der reflexiven und antizipierenden Beobachtung. Sie regeln als Sozialisationsorganisationen die Zugänge zu der "Gesellschaft der »Erwachsenen«, der »Vernünftigen« und »Gesunden«." (ebd., 138) Durch die Schaffung von Systemen zur Sozialisierung der Individuen entledigt sich die Gesellschaft des Problems der sozialen Integration und auferlegt diese Aufgabe allein den Individuen.

"Vergesellschaftung als individuelle Leistung bedarf eines hohen reflexiven Aufwandes; man muß sich gleichsam für die Gesellschaft entscheiden und für die Verwirklichung dieser Entscheidung arbeiten, ohne daß man damit rechnen darf, daß das gesellschaftliche System hierbei Hilfestellung leistet." (ebd.)

Im Begriff des Subjekts finden alle genannten, z.T. einander widerstreitend gegenüberstehende Ansprüche, ein gemeinsames Zentrum.

2.3 Das Subjekt als Antwort auf die Herausforderungen der Moderne

"Das Subjekt ist der gedanklich für menschliche Praxis entworfene Modus, in welchem der moderne Mensch die Widersprüche der Welt aushalten und zugleich initiativ, neu gründend und verändernd wirken kann. In ihm wird - zunächst begrifflich, dann aber doch als handlungsleitendes Motiv real - die Verfügung über die Welt erobert." (Winkler 1988, 140)

Der Subjektbegriff liefert eine Struktur, um die Widersprüche aus den Individualisierungsund Disziplinierungsanforderungen handhabbar zu machen. Im "Modus der Subjektivität" (ebd.), den die moderne Gesellschaft ermöglicht, steht das Individuum als Subjekt ihr gegenüber, beide stehen in einem abhängigen und risikoreichen Verhältnis zueinander, "nur die im Subjektbegriff gedachte potentielle Realität [kann] jenen Mechanismus der historischen Transzendierung verwirklichen (...), der sie [die Gesellschaft] in ihren Grundbedingungen auszeichnet." (ebd.)

Die moderne Gesellschaft kann ohne Subjekte nicht sein. Sie ist aber potentiell einer Gefahr durch diese ausgesetzt, denn das Subjekt zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es seine Situation und die Bedingungen, die dazu führten, begreifen und überwinden kann. Dies kann mehrerlei bedeuten: Das Subjekt kann einen anderen Platz in der Gesellschaft erobern, es kann die Bedingungen zu verändern suchen oder eine Position unterhalb der Subjektivitäteinnehmen. (vgl. ebd, 141)

Je komplexer die gesellschaftlichen Bedingungen werden, umso mehr erhält das Subjekt Zentralstellung. Angesichts moderner Produktionsbedingungen, der Individualisierungsund gar Isolationsprozesse, Säkularisierung, der "Vorstellung eines inneren, in den wechselnden Umständen des Lebens als einheitliches Motiv gleichbleibenden Selbsts", der Etablierung neuer Zeitvorstellungen und zunehmender technischer Macht zur Beherrschung derNatur erfährt sich das Subjekt als "Zentrum der sinnlichen Lebenspraxis." (ebd., 141f) Das Subjekt begreift sich als voll verantwortlich für sich und seine Lebensbedingungen, die es selbst geschaffen hat, nichts scheint zu existieren, das sich der eigenen Planung und Kontrolle entziehen könnte. Und es ist sich seiner selbst bewusst, weiß um seinen Subjektstatus, befindet sich also im Modus der Subjektivität.

Der Subjektbegriff enthält überdies eine, wie Winkler es nennt, funktionale Doppeldeutigkeit. Seine Implikationen gelten nicht nur für die Realität des Menschen, sondern liefern auch den Referenzrahmen für die Beurteilung der Lebensbedingungen.

"Er [der Mensch] ist, so die darin formulierte Grundannahme, die tätige Ursache seiner selbst, welche unabhängig von äußeren Einflüssen das eigene Leben plant und verwirklicht. Menschliche Existenz kann und darf gar nicht anders gedacht werden." (ebd., 142)

So ruhen in diesem Begriff auch Möglichkeiten, die noch nicht realisiert wurden, so dient er der kritischen Betrachtung von Lebensverhältnissen und zwar gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen. Er stellt eine Idee dar, in der abstrakte Hoffnung ebenso wie konkrete Handlungsleitung zum Ausdruck kommt. (vgl. ebd.)

Das erste wesentliche Merkmal des Subjekts ist seine Handlungsfähigkeit, beruhend auf Selbsterkenntnis und dem Verhältnis zu einer objektivierten Natur. Subjektivität muss handelnd verwirklicht werden. In der modernen Gesellschaft wandelt sich die Vorstellung von diesem Tun von dem in der Renaissance mit Kreativität assoziierten Handeln zum Begriff von Arbeit, „der die Selbsterzeugung des Menschen in der Auseinandersetzung mit derNaturmeint.“ (ebd., 143)

Steht das Handeln im Mittelpunkt der Reflexion, ergibt sich als zweites wesentliches Merkmal die Berücksichtigung des Aktors. „Wer vom Subjekt spricht, meint ein autonomes, aber auch verantwortliches Wesen.“ (ebd.) Dies markiert die Grenzen, die Menschen miteinander im Umgang wahren müssen, gemäß der Maxime, die eigene Freiheit ende dort, wo die des anderen beginne. Winkler verweist auf den Begriff der Würde, der hier zum Tragen kommt, und zitiert Kant:

„In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihmjedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit.“ (ebd., 143f)

Demnach ist die Autonomie des Subjekts unbedingt zu schützen.

Drittens ist zu nennen der Begriff der Erfahrung. In ihm liegt die Möglichkeit, das eigene Handeln in seiner Wirkung auf die Außenwelt zu begreifen, ebenso die Ereignisse, die dem Individuum als Ergebnis des Handelns anderer widerfahren, als auch die Möglichkeit, indirekt - über zeitliche oder räumliche Grenzen hinweg - teilzuhaben an den Zusammenhängen, in denen andere Menschen sich befinden und darüber zu reflektieren, soweit sie für seine selbstgeschaffenen Bedingungen relevant sind. Als Subjekt erfährt sich nur, „wer über seine Zeit verfügt und eine Zukunft für sich denken kann, die er auch verwirklichen kann.“ (ebd., 144)

Viertens ist bedeutsam das Verhältnis des Subjekts zur Welt. Ausgehend vom tätigen Ich, das über die Natur verfügt und die Welt modifiziert, erscheint diese als Objekt. Damit ist alles gemeint, was das Subjekt zum Gegenstand seiner Betrachtung oder praktischen Aneignung machen kann. Wurde es angeeignet, wird es Teil der Subjektivität.

Grundsätzlich ist der Subjektivitätsbegriff selbst ein Verhältnis. Er kann ohne Objektivität nicht gedacht werden, die Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt stellt ein Handeln dar, das wiederum den Subjektstatus konstituiert. Insofern bedeutet Subjektivität Selbsterzeugung. Drei Selbstreferenzen sind hierbei zu nennen: Die Betrachtung des Subjekts kann der eigenen Subjektivität gelten, insofern ist das Subjekt sich selbst Objekt im Sinne einer Selbstwahrnehmung, das Ich ist sich seiner selbst bewusst. Zweitens: Bezogen auf die sozialen Prozesse identifiziert sich das Subjekt und tritt in Beziehung. Schließlich verändert es handelnd die Welt und sich selbst. (vgl. ebd., 145f)

Subjektivität entsteht also durch tätige Auseinandersetzung mit der objektiven Umwelt. Winkler spezifiziert nun, welches die Aspekte sind, die ein Subjektivität gründendes Handeln auszeichnen. Zum Einen ist hierfür Distanzierung kennzeichnend. Das Subjekt definiert sich selbst als „hypothetisch fixer Punkt “, distanziert sich von den Objekten und vergegenständlicht sie für seine Tätigkeit. (ebd., 146) Bezogen auf die Gesellschaft wird das kritische Moment deutlich. „Man wird ein Subjekt, das sich auf sich selbst bezieht, indem man sich aus einer vorgegebenen Welt löst; zwar entzieht man sich nicht den Mechanismen des Sozialen, stellt sich aber doch in kritische Distanz zu ihnen.“ (ebd.) Hier ist Distanzierung im Sinne von Bewusstmachung verstanden. Das Subjekt wird erst Subjekt, „wenn es begreiftund erkennt.“ (ebd.)

Dieses Erkennen gründet auf aktiver Auseinandersetzung, nicht nur auf passive Rezeption. In konkreten Situationen erfährt das Subjekt einen Ausschnitt der Objektivität, abstrahiert aus seiner Wahrnehmung Gesetzmäßigkeiten und schließt auf Regularitäten und bildet daraus die Grundlage für künftige Wahrnehmung und künftiges Handeln. Es bewahrt sich in diesem Vorgang seine Subjektivität angesichts unbekannter Situationen. Winkler weist darauf hin, dass hier auch die Möglichkeit gegeben ist, dass „subjektiv eine falsche Regularität aus der erfahrenen Situation“ abstrahiert wird. Erkennt das Subjekt in den verallgemeinerten Regularitäten fälschlicherweise einen Zwang, riskiert es seine Subjektivität. (vgl. ebd.)

Den Prozess des aktiven Umgangs mit der Objektivität mit dem Ziel, diese zu kontrollieren, über sie zu verfügen und sich nutzbar zu machen, bezeichnet Winkler als Aneignung.

Durch diesen verwandelt sich Objektivität in ein Instrument, „welches vom Subjekt in seinen Lebenssituationen mediatisiert werden kann.“ (ebd., 147) Subjektivität hat einen notwendig dynamischen Zug, sie entsteht aus handelnder Auseinandersetzung mit der Welt und zeitigt einen Wandel des Subjekts selbst.

„Durch seine Aneignung konstituiert es sich in einer neuen Gestalt seiner handelnd herzustellenden Beziehungen zur Welt, somit auch in seiner von anderen (und auch durch sich selbst) wahrnehmbaren Position. Kurz: es begründet einen vom vorhergehenden unterschiedenen Subjektivitätsmodus - damit auch neue Ausgangsbedingungen für künftige Aneignungshandlungen.“ (ebd.)

Das Subjekt löst hierdurch beständig die Identität mit sich selbst auf. Es erscheint sich selbst in seinem Ich identisch, ist dies jedoch nur im Hinblick seiner Differenz zur Welt, also im Grunde auf der Ebene des Individuums als leiblich abgegrenzte biologische Einheit. Bezüglich seiner Subjektivität entäußert es sich an die objektive Welt, die ihm als Erfahrung oder Wissenszuwachs wiederum zufließt. (ebd., 148) Diese Prozesse sind eng verknüpft mit Bildung und Arbeit, sodass Subjektivität ohne diese beiden Lebensfelder kaum denkbar ist. (vgl. ebd., 147f)

Dem Zusammenhang mit dem Bildungsprozess widmet Winkler noch besondere Aufmerksamkeit, erkennt er in ihm doch das Moment, das eine temporäre Aufgabe der Subjektivität erfordert. Dies geschieht durch den Prozess der Aneignung von Objektivität, der die sachlich-dingliche Ebene übersteigt, indem nämlich auch die Bedeutung, die einer anzueignenden Sache, sowie der aneignenden Tätigkeit selbst gesellschaftlich beigemessen wird, angeeignet wird. Dies vollzieht sich nicht in einem Akt reiner Interiorisation, sondern das Subjekt ist aktiv daran beteiligt, und es befindet sich außerdem in beständigem Austausch mit der Umwelt, deren Äußerungen Rückschlüsse auf die Wirkung des Aneignungshandeln zulassen. „Aneignung umfaßt also „Interiorisation“ und „Exteriorisation“, wobei durch diese das Angeeignete für das Subjekt in seinem sozialen Sinn als gültig erklärt wird; erst so erhält der nun erreichte Subjektivitätsmodus selbst Objektivität für andere.“ (ebd., 149)

Da Subjektivität in diesem Vorgang der Aneignung kurzzeitig aufgegeben werden muss, kann er nur als subjektiver Prozess gelten, wenn die Zeitdimension berücksichtigt wird. Aneignung bedeutet in diesem Kontext, dass „das Subjekt seine Subjektivität in die Zukunft verlegt; es stellt sich selbst die Aufgabe, ein anderes Subjekt zu werden.“ (ebd.) Das Subjekt plant seine Zukunft, entwirft sich selbst in einer Projektion auf Künftiges, begreift die Gegenwart als Basis für jenes und vollzieht die dafür notwendigen Handlungen. Winkler zitiert hier Gleiss:

„Entwickelte Subjektivität ist (...) in dem Maße gegeben und in dem Maße entwickelt, wie der Mensch in der Lage ist, sich die eigene persönliche Entwicklung als Aufgabe zu stellen, sich selbst als Problem zu begreifen und selbst dafür die Verantwortung zu übernehmen, sich allmählich von passiven Erwartungen und Abhängigkeiten zu emanzipieren.“ (ebd.)

Voraussetzung für die Entwicklung einer Perspektive ist zunächst ein Repertoire an gesicherten Fähigkeiten und Fertigkeiten als Ergebnis vorangegangener Aneignung. Das durch Integration von objektiver Praxis eroberte Feld bezeichnet Winkler als „Zone der nächsten Entwicklung“, Perspektive ist ihm bereits innewohnend. (ebd., 150)

Notwendig für ein solches Voranschreiten ist außerdem das Vorhandensein objektiver Realität, es muss Aneignungsmaterial zur Verfügung stehen. Dieses steht im Kontext geistiger und sozialer Zusammenhänge, und so muss auch der Aneignungsprozess innerhalb der Entwicklungslogik gesellschaftlicher Prozesse ablaufen. „Bewußte Subjektivität (...) ist kein Prozeß privater Individualisierung und Vereinzelung.“ (ebd.) Handeln und seine Bedingungen sind eingebunden in den historisch gewachsenen Stand gesellschaftlicher Reproduktionsbedingungen. Das Subjekt ist geprägt durch diese und gleichzeitig einzigartig in seiner konkreten Erscheinungsform.

Aneignung bedeutet für das Subjekt Festlegung in zweierlei Hinsicht. Einmal bezieht es sich umso stärker auf eine bestimmte gesellschaftliche Objektivität, je mehr es sich von dieser aneignet, es wird immer mehr selbst zu einem Teil von ihr, wodurch als zweiter Konsequenz folgt, dass andere Felder verschlossen bleiben. Denkbar ist in diesem Zusammenhang auch, dass gelingende Aneignungsprozesse in regelrechte Sackgassen führen, die eine weitere Subjektentwicklung verunmöglichen, womit Subjektivität zerstört wird. (vgl. ebd., 150f)

Das Subjekt muss jedoch, so Winkler, auch in diesem Moment als solches wahrgenommen werden. „Zuallererst impliziert nämlich der Subjektbegriff den Zwang, die konkrete Person stets in ihrer Realität als ein Subjekt anzuerkennen.“ (ebd., 151) Dies bedeutet, dass es keine graduellen Unterschiede zwischen Personen hinsichtlich ihrer Subjektivität gibt, sondern Subjektivität drückt sich in verschiedenen, je konkreten Formen aus. Die schwierigste Situation in der jemand sich befinden mag, darf von außen darauf Schauende nicht veranlassen, seinen Subjektstatus infrage zu stellen. „Der Begriff des Subjekts zwingt dazu, den einzelnen Menschen in seinem Hier und Jetzt ernst zu nehmen und seine Reallage als seine gegenwärtige Lebenstatsache anzuerkennen.“ (ebd., Hervorhebung im Original)

Aus diesem Prinzip ergibt sich ein Paradox: der Subjektstatus ohne Subjektivität.

"Nur weil der Maßstab des Subjekts geltend gemacht wird, läßt sich dies überhaupt erfassen. Da er aber ein abstrakter, gleichsam nur strukturtheoretisch skizzierter Begriff ist, fordert er auf, die in einem konkreten Subjekt liegenden Möglichkeiten zum Maßstab der Beurteilung seiner Wirklichkeitzunehmen." (ebd., 152)

Der Schlüssel für die sozialpädagogische Bestimmung und Analyse des in diesem Paradox vorliegenden sozialpädagogischen Problems liegt in der Fokussierung auf das Aneignungshandeln. Dieses konstituiert nämlich, wie oben bereits erläutert, die Subjektivität und zwar unabhängig davon, ob es glückt oder nicht. So könnte man also sagen, solange das Subjekt handelt, verfügt es auch über Subjektivität. Die Phase der Nichtsubjektivität, die notwendigerweise Bestandteiljeder Aneignung ist, gehört zu diesem Handeln als Subjektivität konstituierendes Element dazu. Erst, wenn diese sich ausdehnt und das Aneignungshandeln selbst verhindert, entsteht das sozialpädagogische Problem: Es "ergibt sich also, wenn der Subjektivitätsmodus durch nichtvollzogene Aneignung gekennzeichnet ist und dieser Zustand beharrlich bleibt." (ebd.)

Bei gelingender Aneignung spricht Winkler vom Subjekt im "Modus der Identität". Mit dem "Modus der Differenz" bezeichnet er den Zustand des Subjekts, dessen Tätigkeitsbeziehung zum Objekt unvollendet bleibt, wenn der "Zusammenhang zwischen unserem Tun und der realen Welt entglitten" ist. (ebd., 153) Wo dieser Zustand über das gewissermaßen alltägliche Krisenerleben hinausgeht, wo künftige Entwicklung und gesellschaftliche Teilhabe durch ihn be- oder verhindert wird, identifiziert Winkler das sozialpädagogische Problem. Das Subjekt kann "seine spezifische Form von Subjektivität nicht mehr exteriorisieren" (ebd.), die Umwelt erkennt in ihr kein Angebot für eigenes Aneignungshandeln, sondern reagiert mit Stigmatisierung.

Die im Subjektbegriff ruhenden Implikationen sind nun dargelegt. Es folgt nun die Darstellung des Selbst bei Carl Rogers.

3 Das Selbst im person-zentrierten Ansatz von Carl Rogers

Das Selbst ist ein zentrales Konstrukt im person-zentrierten Ansatz. Dieser entstand im Zeitraum von 1938-1950. Rogers ist bei der Entwicklung seines psychotherapeutischen Ansatzes phänomenologisch vorgegangen, sein Ausgangspunkt war nicht die Theorie, sondern die tatsächliche Erfahrung, bzw. Beobachtung. „Eine Theorie wird erst dann nötig, wenn beobachtbare Phänomene, Veränderungen eingetreten sind, die nach einer Erklärung verlangen. Zuerst kommt die Erfahrung, dann bildet sich die Theorie.“ (Rogers/Schmid 1991,123) Die Bezeichnung „person-zentriert“ löste die zunächst gebrauchte „klientenzentrierte“ Therapie ab. Dadurch sollte verdeutlicht werden, „daß der Fokus auf die innere Erfahrungswelt des Klienten gerichtet ist“ (Rogers, 189), der Begriff „person-zentriert“ schließlich entsprach der sich entwickelnden Erkenntnis, dass auch die Person des Therapeuten für den Veränderungsprozess zentral ist.

Rogers verwendet den Begriff der Person in einem alle Aspekte der personzentrierten Anthropologie umfassenden Sinn, er meint damit den Menschen „in seinem ganzen Bestand“. (ebd., 129) Wenn er auch, wie gesagt, seinen Ansatz nicht aus bereits bestehenden Theorien heraus entwickelt hat, so entstand dieser jedoch selbstverständlich nicht aus einem geistigen Vakuum heraus, sondern steht in „der Denktradition der abendländischen Philosophie.“ (ebd.) Schmid, der Co-Autor von „Person-zentriert, Grundlagen von Theorie und Praxis“, leistet im ersten Teil des Buches die Arbeit, diese Denktraditionen, die in die Auffassungen der Humanistischen Psychologie eingeflossen sind oder von denen sie sich abgegrenzt hat, zu skizzieren.

Der Begriff der Person bildet also den Rahmen, in dem das Selbst schließlich eingeordnet und in Funktion und Wirken verstanden werden kann. Dieser ist also zuerst zu beleuchten, und um die Vielfalt der Assoziationen zu zeigen, die mit dem Personbegriff verbunden sind, wird im Folgenden ein Streiflicht über seine Entwicklung in der Philosophie geworfen.

3.1 Der Begriff der Person

3.1.1 Zum allgemeinen Wortgebrauch des Personbegriffs

Zunächst ist festzustellen, dass mit dem Begriff „Person“ nicht notwendig ein Mensch bezeichnet wird. In der Theologie wird Gott damit bezeichnet, die Rechtswissenschaft kennt „juristische Personen“ (z.B. Vereine) und auch die Philosophie benennt damit gesellschaftliche Gebilde. (vgl. ebd., 25) Schmid unterscheidet sieben Bedeutungszusammenhänge, in denen der Begriff auftaucht:

1. Leiblichkeit

Wenn davon gesprochen wird, dass zwei Menschen einander persönlich begegnet sind, so sind sie einander leibhaftig begegnet. Die Körper zweier Menschen waren im selben Raum.

2. Gegenüberstellung einer Sache

Die Person wird unterschieden von einer Sache. Dieser Wortgebrauch zeigt sich in Formulierungen wie „Sach- und Personenschaden“, oder auch in der Differenzierung von „Wertschätzung gegenüber der Person“ bei gleichzeitigem Urteil über „sachliche Inkompetenz“. Unscharf wird die Trennung in umgangssprachlichen Wendungen, wenn z.B. Mädchen als „junge Dinger“ bezeichnet werden. Auch mit der „Sache Jesu“ ist nicht nur dessen Lehre als objektivierbarer Gegenstand sondern auch „seine Person mitgemeint“. (ebd., 26)

3. Numerische Individualität

Hier wird mit Person ein Individuum bezeichnet, als leiblich abgegrenzte Entität.

4. Gegenüberstellung Person - Gesellschaft

Diesen Zusammenhang erkennt Schmid in der Redewendung von der „persönlichen Meinung“ oder „persönlicher Gewissensentscheidung“. Der Begriff der Persönlichkeit bezeichnet in diesem Kontext einen starken, dem eigenen Gewissen verpflichteten, durchsetzungsfähigen Menschen, den Selbständigkeit auszeichnet. (vgl. ebd., 26f)

5. Person als Glied eines gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs

Hier wird der Begriff gänzlich jenseits des von Rogers intendierten Inhalts des Personbegriffs verwendet als Bezeichnung einer gesellschaftlichen Rolle oder Ausübung einer bestimmten Funktion. Die Rede ist hier von „Amtspersonen“, „Privatpersonen“, sowie auch den „Personalien“, womit Daten zur Einordnung in die Gesellschaft, jedoch nichts im Sinne der Humanistischen Psychologie Persönliches gemeint ist. (vgl. ebd., 27)

6. Juridische Bedeutung

Vor dem Recht gilt das Individuum als Person, damit ist verbunden eine Reihe von Rechten und Pflichten. Es wird zum Rechtssubjekt. Dieser Status kann auch verweigert werden oder eingeschränkt, er gilt nicht zwangsläufig für alle Individuen einer Gesellschaft. Auch die „juristische Person“ gehört in diesen Kontext. (vgl. ebd.)

7. Grammatikalischer Terminus technikus

Der grammatikalische Personbegriff ist, so Schmid, älter als der philosophische, theologische undjuridische. Er ist eng verknüpft mit dem Dialog. (vgl. ebd.)

Grundlagen des Personbegriffs

3.1.2.1 Etymologie

Das Wort „Person“ wurzelt im lateinischen „persona“. Die Herkunft dieses Wortes ist nicht abschließend geklärt, es existieren mehrere Deutungen.

1. Von „Ohersu“ - „Phersu“

Das etruskische „Phersu“ gehört zur Darstellung einer männlichen Figur auf Grabbildern, die eine auffällige Maske trägt. Einer Interpretation zufolge bezeichnet das Wort die Maske, eine andere besagt, „Phersu“ sei der Name der abgebildeten Gestalt, in der ein Wesen zwischen Erde und Unterwelt dargestellt ist, ein Dämon, oder ein Begleiter ins Jenseits.

„Dies ist die nach dem derzeitigen Wissensstand wahrscheinlich richtige Ableitung: „Person“ stammt über „persona“ von „Qersu“, dem Namen für einen (Unterwelt-)Gott. Davon abgeleitet wäre „persona“ als Maske dann ursprünglich das Abbildjener Gottheit, die zugleich mit der Erde und dem Totenreich verbunden ist.“ (ebd., 30, Hervorhebung im Original)

2. Von „npoaronov“ - „prosopon“

Vom griechischen „npoaronov“ - „prosopon“ - abgeleitet bedeutet „persona“ zunächst vermutlich „Antlitz, Gesicht“. In diesem Sinne wird es in den homerischen Epen und in der Bibel verwendet, wenn z.B. davon gesprochen wird, Gott „von Angesicht zu Angesicht“ zu schauen, dem entspricht die heutige Verwendung des Wortes „persönlich“. (ebd.)

Ausgehend hiervon entwickelte sich die Bedeutung als „Maske“ und „Larve“, als „dramatische Rolle“. Die Vermutung liegt nahe, dass der Begriff der „Person“ sich auch aus dem Theater heraus entwickelt hat. Eine große Bedeutung kommt ihm hier jedenfalls zu, und er zeigt sich in diesem Zusammenhang in seiner ganzen Komplexität. So dient die Maske einerseits der Verdeutlichung. Durch sie soll, im kultischen Kontext, das Göttliche hervortreten. Das Individuelle verbergend, soll auf das Allgemeine, das Überpersönliche, das Prinzip hingewiesen werden. „Durch die Verhüllung des Gesichts soll der Sinn für die Transzendenz wach werden. Durch die Maske hindurch wird der Anruf des Gottes vernehmbar.“

Fin de l'extrait de 115 pages

Résumé des informations

Titre
Selbst oder Subjekt? Eine Untersuchung am Beispiel der Humanistischen Psychologie und der Sozialpädagogischen Theorie
Université
Johannes Gutenberg University Mainz  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Note
1,0
Auteur
Année
2011
Pages
115
N° de catalogue
V188343
ISBN (ebook)
9783656120667
ISBN (Livre)
9783656121534
Taille d'un fichier
889 KB
Langue
allemand
Mots clés
Michael Winkler, Carl Rogers, Buddhismus, Identität, Transpersonale Pädagogik
Citation du texte
Verena Hirschmann (Auteur), 2011, Selbst oder Subjekt? Eine Untersuchung am Beispiel der Humanistischen Psychologie und der Sozialpädagogischen Theorie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188343

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