Überlegungen zur ,Kraft des Ikonischen’ in Stanislaw Muchas Fotografie vom Torhaus Auschwitz-Birkenau (1945)


Essay, 2011

14 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Im Abschnitt 4.2 Die Perspektive als Bedeutungsträger: Stanislaw Muchas Foto vom Torhaus Auschwitz-Birkenau (1945)[1] geht Christoph Hamann ein auf die (in eine bestimmte ‚Bedeutungsrichtung’ weisende; konnotierte) Wirkungskraft eben dieser Fotografie[2], die auch als Suggestivkraft bezeichnet werden könnte und die er als äußerst mächtig charakterisiert: „Die Kraft des Ikonischen überwältigt den Bildbetrachter und legt ihm eine Deutung des visuellen Angebots nahe [...]“[3]. An anderer Stelle präzisiert er: „[...] Bilder können [...] dem Rezipienten durch ihre spezifisch bildhaften Qualitäten Deutungen von Vergangenheit nahe legen. Die Formulierung „nahe legen“ meint zugleich: Fotos determinieren Deutungen nicht, sondern machen dem Rezipienten Angebote der Deutung.“[4] Stanislaw Muchas Fotografie sei in diesem Sinne sehr wirkmächtig. Wieso ist das so? Woraus bezieht diese Fotografie ihre enorme suggestive Kraft? Wie funktioniert diese ,Lenkung’ des Rezipienten in eine bestimmte Richtung? Und was bedeutet (im Rahmen dieses Beispiels) diese Funktionsweise schließlich für den ,Anspruch’ der Fotografie auf Abbildung von Wirklichkeit?

Zwei Aspekte scheinen für die große Wirkungskraft dieser Fotografie eine wesentliche Rolle zu spielen: Der erste ist der Rezeptionskontext. Er gehört nicht zur fotografischen Struktur an sich, implizit ist er aber im Charakter der Fotografie als Abbild enthalten: Abbild zu sein setzt voraus, dass es etwas abzubilden gibt, das Abbild also Abbild- von-etwas sein muss. Dieser der Fotografie zugeschriebene abbildende Charakter „ist keineswegs die randständige Idee einer überholten Fotografietheorie, sondern ein Bildkonzept, auf dem die allermeisten Bildpraktiken implizit wie explizit basieren: Vom Urlaubsfoto über Bildreportagen bis zum Passbild im Personalausweis gelten Fotos als dokumentarische Zeugnisse dessen, was der Fall ist oder war, und zwar dergestalt, dass sie den Status von Augenzeugenberichten haben, zur journalistischen Berichterstattung herangezogen werden und der Verifikation von Aussagen über den Zustand von Menschen und Dingen dienen.“[5] Wie auch immer es sich verhält; worauf Fotografien nun rekurrieren (das Referenzproblem, das bildliche Darstellungen aufwerfen, scheint, wenn überhaupt, nur interdisziplinär angegangen, geschweige denn ,gelöst’ werden zu können); sie werden zumindest tendenziell aufgefasst als ,Abbilder-von-etwas’, worauf ja obiges Zitat verweist. Der Begriff des Abbilds setzt also ein bestimmtes,Etwas’ voraus, und das wiederum lässt die Frage zu: Abbild von was (Bestimmtem) ? Das Was scheint stets verhandelbar zu sein und (in seiner ,Gänze’) nicht definitiv bestimmbar („Von einer bestimmten Fotografie kann ich eine linke oder rechte Lektüre machen [...]“[6]), sondern ein Teil eben des Rezeptions kontextes, der als ein gesellschaftlich bedingter wahrscheinlich immer auch bestimmte Bedeutungen des ,Was’ hervorbringt.

Der spezifische Rezeptionskontext dieser Fotografie (Vergangenheitsbewältigung des Nationalsozialismus) gehört nicht zur fotografischen Struktur, er ist aber (schätzungsweise aufgrund seiner hochgradig emotionalen Besetztheit) nach Hamann ein maßgeblicher Faktor, der die Fotografie zu einem Schlüsselbild hat werden lassen[7]. Rezeptionskontexte seien generell „immer gegeben und damit nicht zu negieren, eine kontextfreie Bildbetrachtung ist nicht möglich“[8], und zwar deshalb, weil der Rezipient der Fotografie immer in spezifischen Kontexten begegne: einem „konkret-situativen Kontext“, einem „persönlichen biographischen“, „dem allgemein historischen und gesellschaftlichen Kontext seiner jeweiligen Gegenwart und dem Kontext, der durch den Ort der Veröffentlichung gegeben ist. Zur Standortbestimmung des Rezipienten gehören auch die ihn (bewusst oder unbewusst) leitenden Kategorien und Mittel, mit denen er dem Bild begegnet (individuelle und/oder kollektive Wertmaßstäbe, Sprache und die damit verbundenen Kategorien etc.). Auch das Bild selbst steht im Kontext einer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, die den Rezipienten beeinflussen kann – der gebildete Blick hat gegebenenfalls gelernt, wie ein Bild zu interpretieren oder gar zu bewerten ist. [...] Das Bild und seine verschiedenen Kontexte bilden in der zeitgenössischen Rezeption also eine (be)deutungsgenerierende Einheit.“[9] Für eine beliebige Fotografie und ihre Rezeption bedeutet dies nun, dass Letztere gewissermaßen immer vorgeformt ist im Verhältnis zu Ersterer, in welchem Grad auch immer. Für diese spezifische Fotografie bedeutet es, dass die Wirkungsmacht, die Hamann ihr attestiert, vor dem Hintergrund einer bestimmten (vorgeformten) Rezeptionshaltung erst sich entfaltet: Muchas Fotografie „bedient eine Rezeptionshaltung [...]“[10], und zwar eine sehr spezifische. Die Rezeptionshaltung als Teil des notwendigen Rezeptionskontextes ist also nicht Teil der fotografischen Struktur, bestimmt aber zumindest den Grad ihrer Wirkungsmacht. Die spezifische fotografische Struktur ,kommt also der spezifischen Rezeptionshaltung des Bildbetrachters entgegen’, sie „legt ihm eine Deutung des visuellen Angebots nahe“[11]. Je mehr sich das in der fotografischen Struktur implizierte Deutungsangebot und die spezifisch vorgeformte Rezeptionshaltung in grundlegenden Punkten entsprechen, desto größer die Wirkungsmacht des Ikonischen, so ließe sich vermuten.

Was sind, nach Hamann, (tendenziell) zentrale Bestandteile jener Rezeptionshaltung und inwiefern entspricht das implizite Deutungsangebot der fotografischen Struktur diesen?

Ein wesentlicher Punkt, den Hamann ausmacht als Bestandteil eines verbreiteten interpretativen Zugangs zu nationalsozialistischer Vergangenheit, als Bestandteil der Beschäftigung mit, der Aufarbeitung oder Bewältigung des monströsen Verbrechens der Ermordung von über 5 Millionen Menschen, könnte als eine Art ,Ortlosigkeit des Verbrechens’ umschrieben werden. Jene Rezeptionshaltung, (die Bestandteil des Rezeptionskontextes ist, in dem die Fotografie u. a. rezipiert wurde), nehme den Holocaust zwar zur Kenntnis, „exterritorialisier[e]“[12] ihn aber und verorte ihn in einem „Raum jenseits der topografischen Kartierung der zivilisierten Welt […]. Das Gänzlich Andere, der Massenmord vollzieht sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit [...]“[13]. Verknüpft mit der Charakterisierung des Holocaust als gewissermaßen ,ortloses’ Verbrechen, das zwar begangen, aber dessen Tatorte man zumindest jenseits des eigenen Standortes wähnt, verknüpft mit dieser Rezeptionshaltung sei die dominierende Deutung des Holocaust als ein industrieller, systematischer, bürokratischer und quasi ,funktionierender Prozess’: „Nicht Menschen töten, sondern Apparate funktionieren“[14], so der Duktus. Hamann hebt hierbei einschränkend hervor, dass diese Deutung zwar „die singuläre Qualität dieses Völkermords zutreffend“[15] benenne, sie sei aber gleichzeit „ein Ausdruck der individuellen Schuldabwehr, der die Verantwortung anonymen Strukturen übertrug, den Mord depersonalisierte und derealisierte und individiuelle Biographien und familiäre Binnenräume schonte.“[16] Die Konzentration auf den industriellen Aspekt des Holocaust kennzeichne also einerseits dessen singulären Charakter, verliere aber „das Subjekt aus dem Blick“.[17] Dieses werde „in seiner Individualität zur vernachlässigbaren Größe.“[18] Derartige Deutungsmuster lassen, wenn die benannten Aspekte in ihnen Ausschließlichkeitscharakter besitzen, auch keinen Raum für die „konkrete[...] und unmittelbare[...] Gewalt“[19] der Verbrechen. Sie abstrahieren dieses gewissermaßen, verlegen es an nicht weiter spezifizierbare ,ferne, unbestimmbare’ und vor allem dem eigenen Standort fremde Orte, unterschlagen dabei die vielfältige Verstrickung der Bevölkerung im Deutschen Reich, schreiben die Verantwortung nicht näher bestimmbaren anonymen Mächten oder Strukturen zu, die letzten Endes quasi aus sich selbst heraus eine ,Zwangsläufigkeit’ entwickelten, bei der die persönliche Verantwortung des einzelnen Menschen gewissermaßen gar nicht relevant ist.

[...]


[1] Christoph Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik. Beiträge zur Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung. Herbolzheim 2007 [phil. Diss.], S. 92-106.

[2] Siehe Anhang.

[3] Ebd. S. 97.

[4] Ebd. S. 28.

[5] Eva Schürmann: Worauf rekurrieren die Bilder? Zum Referenzproblem bildlicher Darstellungen, S. 1. http://www.dgphil2008.de/fileadmin/download/Sektionsbeitraege/01-1_Schuermann.pdf (abgerufen am 17.12.2010).

[6] Roland Barthes: Die Fotografie als Botschaft. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt am Main 1990, S. 25.

[7] Die Funktionsweise des Zustandekommens von ,Schlüsselbildern’ ist eines von Hamanns vorrangigen Erkenntnisinteressen in dessen Arbeit.

[8] Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik, S. 29.

[9] Ebd. S. 29 (Hervorhebung nicht im Original.)

[10] Ebd. S. 100 (Hervorhebung nicht im Original.)

[11] Ebd. S. 97.

[12] Ebd. S. 100.

[13] Ebd. S. 100.

[14] Ebd. S. 101.

[15] Ebd. S. 103.

[16] Ebd. S. 103.

[17] Ebd. S. 101.

[18] Ebd. S. 101.

[19] Ebd. S. 101.

Excerpt out of 14 pages

Details

Title
Überlegungen zur ,Kraft des Ikonischen’ in Stanislaw Muchas Fotografie vom Torhaus Auschwitz-Birkenau (1945)
College
University of Hannover  (Historisches Seminar)
Course
Politiken und Praktiken des Sehens. Ausgewählte Fragen der deutschen Zeitgeschichte in visuellen Quellen
Grade
1,7
Author
Year
2011
Pages
14
Catalog Number
V188637
ISBN (eBook)
9783656123637
ISBN (Book)
9783656123958
File size
597 KB
Language
German
Keywords
überlegungen, kraft, ikonischen’, stanislaw, muchas, fotografie, torhaus, auschwitz-birkenau
Quote paper
Christoph Eyring (Author), 2011, Überlegungen zur ,Kraft des Ikonischen’ in Stanislaw Muchas Fotografie vom Torhaus Auschwitz-Birkenau (1945), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188637

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