Die Einrichtung der jüdischen Selbsthilfe zu Zeiten der NS-Repression. Nützliche Stütze oder wirkungsloses Moment?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2010

19 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


1.Vorbemerkung

Seit dem Mittelalter war die jüdische Religion und die jüdische Kultur ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Staaten.[1] Daran konnten auch judenfeindliche Pogrome, wie sie beispielsweise im Zuge von Kreuzzügen stattfanden; wie sie oftmals auch Resultate von Seuchen oder wirtschaftlichen Notlagen waren, nichts ändern.[2]

Wohl vorrangig aufgrund des berechtigten Bewusstseins der jüdischen Bevölkerung, seit Jahrhunderten auch in Deutschland ein unmittelbarer Bestandteil der Gesellschaft zu sein, kann vielleicht zum einen erklärt werden, weshalb ab dem Jahr 1933 der Versuch unternommen wurde, sich gegen die Diskriminierung durch die Nationalsozialisten zu „schützen“. Zum anderen muss ein solches Verständnis jedoch auch mit der unmittelbaren zunächst wirtschaftlichen, später immer existentieller werdenden Not, welche durch die verschiedensten antijüdischen Gesetze und Verordnungen hervorgerufen wurde, zu begründen versucht werden.[3]

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit einem Aspekt der Geschichte des Nationalsozialismus, welcher bis zum heutigen Zeitpunkt zwar überaus intensiv und aus sehr unterschiedlichen Perspektiven erforscht ist. Allerdings muss gleichermaßen festgehalten werden, dass die Thematik der Juden im Dritten Reich beziehungsweise die Umstände des Holocaust zumeist dahingehend untersucht wurden, die Ideologien und Verbrechen des NS-Regimes beziehungsweise die entsprechenden Auswirkungen auf die jüdische Bevölkerung in Deutschland und Europa zu analysieren.

Mit der vorliegenden Arbeit soll nun der Versuch unternommen werden, die Ansätze der jüdischen Selbsthilfe zu beleuchten. Dabei versteht es sich von selbst, dass diese als unmittelbare Reaktion auf die antijüdische Politik der Nationalsozialisten seit 1933, seit dem Jahr, als diese in Deutschland die Macht ergreifen konnten, zu verstehen sind. Hierbei ist es notwendig, zum einen die inhaltlichen Strukturen dieser eigens der Selbsthilfe gegenüber den Repressionen der Nationalsozialisten initiierten jüdischen Aktivitäten zu beschreiben. Zum anderen sollen die Möglichkeiten und Formen dieser Selbsthilfe beurteilt werden.

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit soll jedoch der Frage nachgegangen werden, inwieweit derartige Aktivitäten von Erfolg gekrönt waren. Dies bedeutet freilich nicht, dass sich einer Analyse gewidmet werden soll, ob die jüdische Selbsthilfe ein Mittel war, welches den Auswirkungen der nationalsozialistischen Ideologie und dementsprechenden Propaganda auch auf gesellschaftspolitischem Terrain „entgegentreten“ konnte. Denn zweifelsohne soll davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Selbsthilfe um keine Organisationsform handelte, die der antijüdischen „Maschinerie“ des Dritten Reiches ein reelles Gegengewicht bieten konnte; dies nicht zuletzt auch deshalb, weil explizit seit der Epoche des Kaiserreiches auch in der „normalen“ Bevölkerung vermehrt antisemitische Auffassungen festgestellt werden müssen.[4]

Vielmehr muss es das Anliegen der Studie sein, zu beurteilen, auf welche Weise partiell Not gelindert oder auch materielle Hilfe geleistet werden konnte; auf welche Weise nicht zuletzt auch auf Grundlage der religiösen und identifikatorischen Gemeinschaft ein gewisser Zusammenhalt in diesen Zeiten der äußersten Bedrohung geboten wurde.

Nachdem zunächst die jüdische Selbsthilfe als Reaktion auf den von den Nationalsozialisten initiierten gesellschaftlichen Ausschluss untersucht werden soll, muss darauf aufbauend der Versuch unternommen werden, die Möglichkeiten und Details dieser Selbsthilfeform zu beschreiben. Kulturelle und ökonomische Aspekte wie unter anderem der „Kulturbund der Deutschen Juden“, der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, die „Reichsvertretung der deutschen Juden“, das „Jüdische Winterhilfswerk“ und nicht zuletzt das Engagement des Rabbiners Leo Baeck sollen folgerichtig in ihrer Wirksamkeit beurteilt werden.[5]

2.Die jüdische Selbsthilfe als Reaktion auf eine gesellschaftliche Ausgrenzung und Verfolgung

Dass es in Deutschland bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer deutlichere antisemitische Meinungsbilder gab, welche zweifelsohne auf eine von Rassenideologien geprägte Publizistik zurückzuführen sind, soll den folgenden Ausführungen vorangestellt werden.[6]

Der Anteil der Menschen im Deutschen Reich, welcher sich zum Judentum bekannte, machte im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus.[7] Denn seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war der Anteil der Juden innerhalb der deutschen Reichsgrenzen kontinuierlich gesunken.[8] Das Besondere war jedoch, dass Juden in einigen Berufen überproportional stark vertreten waren und 1933 schon aufgrund dessen ein gewisses Selbstverständnis entwickelt hatten. Exemplarisch kann auf die Berufsgruppe der Ärzte, Juristen oder Künstler verwiesen werden.[9] Es fällt demnach nicht schwer, nachzuvollziehen, dass ein durchaus großer Anteil der jüdischen Bevölkerung in Deutschland zur Intelligenz gezählt werden muss.

So war es nur folgerichtig, dass unmittelbar nach der Herrschaftsübernahme der Nationalsozialisten ein Engagement von Juden zu erkennen ist, welches sich keineswegs damit abzufinden gedachte, die Ideologien der neuen Machthaber zu akzeptieren, um – nun sozusagen auch per Dekret - eine Bevölkerung „zweiter Klasse“ zu sein. Wie Benz in diesem Kontext beschreibt, bestanden „die Proteste und Verwahrungen, die Ende März [1933] von jüdischen Offiziellen verfaßt wurden, [...] aus einer Mischung aus feierlicher Zurückweisung der ‚ungeheuerlichen Anschuldigungen, die gegen uns deutsche Juden erhoben werden‘, entschiedener Distanzierung von der ausländischen Presse, die mit ihrer Berichterstattung über die Judenpolitik der Hitlerregierung den Anlaß bot, und Appellen an Anstand und Vernunft“.[10]

Vor allem der immer wiederkehrende Verweis darauf, dass man als Jude durchaus patriotisch gesinnt sei; dass nicht zuletzt über 12.000 Juden im Dienste des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg ihr Leben gelassen hatten, sollte beitragen, die nationalsozialistischen Machthaber zum Einlenken in ihrer Judenpolitik zu bewegen.[11] Aus unserer Perspektive müssen derartige Vorhaben in höchsten Maße unbedarft erscheinen; wissen wir doch, dass „am 30. Januar 1933 [...] zum erstenmal in einem Lande ein Politiker mit der Regierungsverantwortung betraut [wurde], dessen Partei ganz offen einen radikalen Rassenantisemitismus als unverzichtbaren Kern ihrer ‚Weltanschauung‘ auf ihre Fahnen geschrieben hatte“.[12] Für die jüdischen Bildungseliten war jedoch – zumindest in den Monaten unmittelbar nach den Wahlen im Januar 1933 – das, was in den kommenden Jahren noch „kommen“ würde, wohl noch nicht abzusehen; zumindest nicht in jener radikalen und unmenschlichen Form, mit welcher das nationalsozialistische Regime seine antisemitische Politik durchzusetzen gedachte.

Wenig nachvollziehbar waren für die meisten Menschen jüdischen Glaubens die Vorwürfe der nationalsozialistischen Obrigkeit, sie würden in einer „doppelten Loyalität“ leben.[13] Damit wurde die Behauptung konstruiert, die jüdische Bevölkerung besitze in erster Linie ein Selbstverständnis als Juden und erst weit danach eine Identifikation mit dem deutschen Staat. Ebenso unrichtig war die Auffassung und propagandistische Verbreitung der Nationalsozialisten, dass es sich bei den Juden um eine in soziologischer, kultureller und politischer Hinsicht „geschlossen Gruppe“ handelte, welche „gleichartige Überzeugungen, Verhaltensweisen und Reaktionen“ aufzeige und schließlich damit den Idealen, die von der nationalsozialistischen Propaganda verbreitet wurden, konträr begegnete.[14]

Ohne Frage war die jüdische Bevölkerung also einer weitgehenden Ausgrenzung aus dem gesellschaftlich-öffentlichen Leben ausgesetzt, der es zu „antworten“ galt.[15] Denn wie wiederum Benz sehr richtig feststellt, war „mit der ‚nationalen Erhebung‘ [...] Anfang 1933 der Antisemitismus in seiner schlimmsten Spielart die offiziell herrschende Lehre geworden. Der Antisemitismus wurde zur Konsolidierung der neu etablierten Herrschaft benutzt und planmäßig angewendet zur moralischen Diskreditierung, sozialen Diffamierung und rechtlichen Diskriminierung der jüdischen Minderheit in Deutschland.“[16] Die Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation war somit vom Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtergreifung an vergebens. Trotzdem existierte der Wunsch nach Trost und nach einer Identifikation; ein Wunsch, welcher mittels der sogenannten jüdischen Selbsthilfe zumindest ansatzweise und partiell realisiert werden sollte.

3.Möglichkeiten und Formen der Selbsthilfe

3.1.Selbsthilfeaspekte in gesellschaftlich-kultureller Hinsicht

Die Gründung des sogenannten jüdischen „Zentralausschusses für Hilfe und Aufbau“ muss als unmittelbare Konsequenz aus den antijüdischen Boykottaktionen und dem Erlass der ersten wirkungsvollen antisemitischen Gesetze ab Anfang April 1933 verstanden werden.[17] Dieser Ausschuss, welchem alle wichtigen jüdischen Organisationen wie der „Zentralverein der Juden“, die „Zionistische Vereinigung für Deutschland“, der „Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden“, die „Jüdische Gemeinde von Berlin“, der „Jüdische Frauenbund“ sowie auch die orthodoxe „Landesorganisation der Agudas Jisroel“ eingegliedert wurden, legte seine volle Konzentration auf wirtschaftliche und kulturelle Fragen.[18]

Mit der Gründung des „Zentralausschusses“, der unter der Leitung von dem bekannten und auch in nichtjüdischen Kreisen geschätzten Rabbiner Leo Baeck stand;[19] der des weiteren durch die Vorstellungen der Generalsekretäre Max Kreutzberger, Salomon Adler-Rudel und Friedrich Brodnitz geprägt wurde, ist der Versuch unternommen worden, eine „allgemeine Verteilung der sozialen Organisationsaufgaben des deutschen Judentums“ zu inszenieren.[20] Der Ausschuss sollte dementsprechend in der Folgezeit wirtschaftliche, soziale und wohlfahrtspflegerische Aufgaben zu übernehmen, welche durch die nationalsozialistischen Repressionen ab diesem Zeitpunkt dem jüdischen Bevölkerungsanteil versagt worden waren. Die formell-offizielle Repräsentation der Juden erfolgte hingegen durch die im September 1933 gegründete „Reichsvertretung der deutschen Juden“. Diese machte es sich zur wichtigsten Aufgabe, all jene Aspekte zu klären, welche im Zusammenhang mit schulischen, bildungstechnischen und auch kulturellen Fragen zu lösen versucht wurden.[21]

Auch wenn es also schon vor der markanten Zäsur 1933 durchaus Bestrebungen gab, sich in eigenen Organisationen und Institution zu formieren – um vor allem eine stärkere Identifikation innerhalb der jüdischen Gemeinde in Deutschland zu forcieren – war es letztlich erst die direkte Notwendigkeit infolge der Einschränkungen durch die nationalsozialistische Antijudenpolitik, welche die Forderung nach einer präsenten Reichsvertretung verstärkte.[22] Allerdings blieb „die Neigung zur Organisation in Gruppen [...] für viele Jahre stärker als der Wille zu einer Gesamtheit der Juden in Deutschland repräsentierenden Zentralorganisation. Diese wurde erst unter dem Zwang der politischen Entwicklungen ins Leben gerufen“.[23]

Vor allem die Selbstorganisation eines Schulwesens drängte ab 1933 in den Vordergrund der Notwendigkeiten einer Selbsthilfe. Denn auf die Verdrängung von jüdischen Schülern aus den öffentlichen Schulen musste ohne Frage eine Reaktion geschehen.[24]

Auf das nationalsozialistische „Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen“ folgte zunächst vor allem der Ausschluss jüdischer Schüler beziehungsweise Studenten, welche höhere Bildungseinrichtungen besuchten. Während es gelang, wenn auch in nur geringem Maße, für eine gewisse Anzahl dieser Schüler eine Schulausbildung in rein jüdischen Schulen zu gewährleisten, so war die Situation für jüdische Studenten weitaus problematischer. Denn „aufgrund des rabiaten Antisemitismus des NS-Studentenbundes und der fehlenden Zukunftsperspektive bereits im Herbst 1933“ waren diese gezwungen, entweder – falls dies möglich war - ins Ausland zu wechseln oder ihr Studium zu beenden.[25]

Doch auch für die jüngsten Schüler wurde jeder Schultag immer mehr zu einer Tortur. Wie beispielsweise aus den Memoiren von Marta Appel zu erfahren ist, erlebten die jüdischen Kinder ab 1933 eine vor allem psychisch überaus brutale Schulwelt: „Fast jede Unterrichtsstunde wurde für die jüdischen Kinder zu einer Quälerei. Es gab eigentlich kein Thema mehr, bei dem der Lehrer nicht über die ‚Judenfrage‘ gesprochen hätte. Die jüdischen Kinder mussten mit anhören, wie die Lehrer alle Juden ausnahmslos als Verbrecher bezeichneten und als zersetzende Kraft in allen Ländern, in denen sie lebten.“[26]

So muss es als folgerichtig erscheinen, dass die jüdische Bevölkerung zu Maßnahmen der Selbsthilfe gezwungen wurde; zu Maßnahmen, welche nicht nur die Möglichkeit der Bildung garantierte, sondern gleichfalls die jüdische Identifikation stärken sollte: „Die Schule soll von einem sich selbst begreifenden jüdischen Geist durchdrungen sein. Das heranwachsende Kind soll seines Judenseins in gesundem Bewußtsein sicher werden; es soll sich des Namens freuen lernen, mit allem Stolz und aller Entbehrung, die damit verbunden sind. Zur Erreichung seines Zieles ist das Jüdische in den Mittelpunkt aller dafür in Betracht kommenden Unterrichtsfächer zu stellen. Lebendiges Verständnis für die Ewigkeitswerte der jüdischen Religion und für das jüdische Leben der Gegenwart, insbesondere für das Aufbauwerk Palästina, sollen im Kind geweckt und gepflegt werden, damit es seine Aufgaben in Haus und Synagoge, in der Gemeinde und in der jüdischen Gesamtheit zu erfüllen in den Stand gesetzt wird.“[27]

An dieser Stelle wird einerseits sehr augenscheinlich betont, inwieweit es von großer Essenz ist, die jüdischen Kinder auf eine eventuelle Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Nicht umsonst wurde vor allem auch der hebräische Sprachunterricht stärker als je zuvor zu fördern versucht.[28]

Diese Auffassung verdeutlicht andererseits auf augenscheinliche Weise, mit welchem Identifikationswillen und mit welchem Selbstbewusstsein Vertreter der jüdischen Bevölkerung in Deutschland „ausgestattet“ waren. Die Förderung eines rein jüdischen Schulwesens muss dementsprechend nicht nur als pragmatische Forderung verstanden werden, sondern gleichfalls als Anzeichen eines noch immer durchaus vorhandenen Eigenbewusstseins in kultureller Dimension.

Im Jahr 1937, als schließlich auch die liberalen Kräfte der jüdischen Interessenvertretung immer deutlicher erkennen mussten, dass ihre „Hoffnungen auf die Fortexistenz der deutsch-jüdischen Kultursymbiose“ zum Scheitern verurteilt war, erreichte das jüdische Schulwerk sein größte Expansion. Es existierten insgesamt 167 rein jüdische Schulen, die auf eine Lehreranzahl von circa 1200 zurückgreifen konnten.[29]

Wie Vollnhals sehr richtig beurteilt, waren die selbstorganisatorischen Leistungen und erzieherischen Ansprüche der jüdischen Schulen vor dem Hintergrund der Probleme, die durch die nationalsozialistischen Repressionen vorhanden waren, fraglos „sehr beachtlich“.[30] Denn „in einer Zeit, als die Erziehung zum Rassenhaß auf dem Lehrplan der öffentlichen Schulen stand, waren die Vermittlung von Selbstachtung und partielle Geborgenheit, die die jüdischen Schulen zumindest ein paar Jahre lang ihren Schülern geben konnten, bereits sehr viel“.[31] Nicht zuletzt sei an den sogenannten Schulkinderfond erinnert, mit welchem ärmeren Schülern auch finanzielle Zuschüsse (wie unter anderem Fahrgeldbeihilfen) gewährt werden konnten.[32]

3.2.Jüdische Selbsthilfe in wirtschaftlicher Dimension

Die Organisation der wirtschaftlichen Selbsthilfe verfügte über drei entscheidende Hauptbereiche, die das ökonomische Fundament dieser bildeten. Zum einen waren dies die Darlehenskassen, die eine finanzielle Unterstützung für Bedürftige anboten. Zum anderen handelte es sich um die Arbeitsvermittlung, welche - wie es der Name ausdrückt – dazu initiiert wurde, mögliche offene Stellen auf dem Arbeitsmarkt Juden anzubieten, und darauf drängte, dass jüdische Unternehmen – zumindest in jenem Zeitraum, in welchem diese noch nicht vollständig in „deutsche Hand“ übereignet waren - primär auf jüdische Angestellte und Arbeiter zurückgreifen müssen. Und schließlich war es die Idee der „Berufsumschichtung und Erstausbildung“, welche vor allem für jene jüdischen Mitbürger angedacht war, welche aus ihrem angestammten Berufen – also oftmals Juristen, Pädagogen oder Mediziner – „entfernt“ worden waren.[33]

Denn ohne Frage gestaltete sich die wirtschaftliche Situation explizit für jene Berufsgruppen, die von den Bestimmungen des sogenannten „Arierparagraphen“ in besonderem Maße betroffen waren, außerordentlich problematisch. Beamte, die normalerweise unkündbar waren, hatten ihre beruflichen Stellungen verlassen müssen;[34] Händler verloren aufgrund des propagierten und praktizierten Boykotts jüdischer Geschäftseinrichtungen ihre Lebensgrundlage; Ärzte verloren ihre Krankenkassenzulassungen; Rechtsanwälte und Notare wurden aus ihren bis dahin sehr lukrativen und prestigeträchtigen Positionen verdrängt; die Künstlerschaft verlor nun „fast vollständig den Broterwerb“.[35] Eine „materielle Linderung ihrer Situation“ stand deshalb im Fokus der Bemühungen der jüdischen Organisation der wirtschaftlichen Selbsthilfe.[36]

Da des Weiteren die Nationalsozialisten zu Fragen der Berufsausbildung keine klaren Aussagen vorlegten, war die jüdische Selbsthilfe auch in dieser Relation gezwungen, die Sache in die „eigene Hand“ zu nehmen.[37] So war es letztlich Aufgabe der Organisation der wirtschaftlichen Selbsthilfe, sowohl die erste Berufsausbildung wie auch die Maßnahmen zur Berufsumschichtung zu koordinieren; und dies zu einer Zeit, als die jüdischen Zentralorganisationen mehr und mehr selbst unter finanziellen Engpässen zu leiden hatten.[38]

Wie bereits angedeutet, waren die sogenannten Darlehenskassen, die letztlich nichts anderes als „verkappte Wohlfahrtsinstitutionen“ darstellten, von entscheidendem Gewicht für die jüdische Wirtschaftsselbsthilfe.[39] Nicht zuletzt, weil bei diesen weniger nach kaufmännischen Argumenten agiert wurde, sondern vor allem nach sozialen Gesichtspunkten entscheiden wurde, ob ein Darlehen vergeben wird oder nicht.[40]

Eine maßgebliche Unterstützung besaß man dabei in der „American Joint Reconstruction Foundation“. Denn diese war in großem Maße für die finanzielle Unterstützung der jüdischen Zentralstelle, die 1933 in einem eigenen Verein formiert wurde, verantwortlich. Bis zur Auflösung am 1. Januar 1939 war die Zentralstelle nämlich eine weitgehend selbständige Organisation, die sich nicht nur durch eine intensive Zusammenarbeit mit dem Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau auszeichnete, sondern gleichsam der „Wirtschaftsgruppe Privates Bankgewerbe“ angehörte und dementsprechend die jüdischen Interessen hinsichtlich der Darlehenskassen gegenüber dem Reichskommissariat für Kreditwesen vertrat.[41]

Dass den nationalsozialistischen Machthabern besonders diese Korporation ein Dorn im Auge war, darf ohne Frage vorausgesetzt werden. Trotzdem kann darauf hingewiesen werden, dass die jüdischen Darlehenskassen letztlich bis Ende des Jahres 1938 handlungsfähig waren. Erst mit der „Empfehlung“ des Reichskommissariats für das Kreditwesen, diese Kassen zu liquidieren, erfolgte die Auflösung dieser am 1. Januar 1939.[42]

[...]


[1] Vgl. dazu u.a.: Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter. Berlin 1997, S. 630f.

[2] Vgl. exemplarisch: Runciman, Steven: Geschichte der Kreuzzüge. Tb.ausg. München 1995, S. 130-139.

[3] Vgl. dazu auch u.a.: Trepp, Leo: Die Juden. Volk, Geschichte, Religion. Reinbek 1998, S. 99-107.

[4] Vgl. dazu u.a.: Röhl, John C. G.: Kaiser Wilhelm II. und der deutsche Antisemitismus. In: Benz, Wolfgang; Bergmann, Werner (Hg.): Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus. Freiburg im Breisgau 1997, S. 252-285.

[5] Zu den Werken Baecks, die bereits vor 1945 entstanden waren sei verwiesen auf: Baeck, Leo: Wege ins Judentum. Aufsätze und Reden. Berlin 1933; Ders.: Das Wesen des Judentums. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1926.

[6] Vgl.: Losemann, Volker: Rassenideologien und antisemitische Publizistik in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In: Benz, Bergmann (Hg.), Vorurteil und Völkermord, S. 304-340. Als Überblick sei auch verwiesen auf: Elbogen, Ismar; Sterling, Eleonore: Die Geschichte der Juden in Deutschland. Frankfurt am Main 1966.

[7] Vgl. u.a.: Benz, Wolfgang: Die Juden im Dritten Reich. In: Ders., Bergmann (Hg.), Vorurteil und Völkermord, S. 365.

[8] Vgl.: Frei, Norbert: Die Juden im NS-Staat. In: Ders. und Broszat, Martin (Hg.): Das Dritte Reich im Überblick. Chronik – Ereignisse – Zusammenhänge. 2. Aufl. München 1989, S. 125.

[9] Vgl.: Benz, Die Juden im Dritten Reich, S. 365.

[10] Ebenda, S. 367.

[11] So wurde besonders auf den sogenannten „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ im Ersten Weltkrieg verwiesen. Vgl.: Ebenda, S. 368.

[12] Wendt, Bernd Jürgen: Deutschland 1933-1945. Das Dritte Reich. Handbuch zur Geschichte. Hannover 1995, S. 160.

[13] Benz, Die Juden im Dritten Reich, S. 366.

[14] Ebenda.

[15] Vgl. dazu als Überblick auch: Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik im Dritten Reich. Düsseldorf 1979.

[16] Benz, Die Juden im Dritten Reich, S. 367.

[17] Vgl.: Vollnhals, Clemens: Jüdische Selbsthilfe bis 1938. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Die Juden in Deutschland 1933-1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. 4. Aufl. München 1996, S. 314.

[18] Vgl. dazu: Benz, Die Juden im Dritten Reich, S. 369.

[19] Zur Biographie und Wirkung sei verwiesen auf: Friedländer, Albert H.: Leo Baeck. Leben und Lehre. Stuttgart 1973; Homolka, Walter: Jüdisches Denken – Leo Baeck, Perspektiven für heute. Freiburg im Breisgau 2006; Ders. und Füllenboch, Elias H.: Leo Baeck – Eine Skizze seines Lebens. Gütersloh 2006.

[20] Vollnhals, Jüdische Selbsthilfe, S. 314.

[21] Vgl.: Ebenda.

[22] Vgl.: Adler-Rudel, Salomon: Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933-1939. Im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, mit einem Vorwort von Robert Weltsch. Tübingen 1974, S. 9f.

[23] Ebenda, S, 9.

[24] Vollnhals, Jüdische Selbsthilfe, S. 330f.

[25] Ebenda, S. 331.

[26] Ebenda, S. 334. Nach: Marta Appel. In: Richards, Monika (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 3: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918-1945. Stuttgart 1982.

[27] Sauer, Paul (Hg.): Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933-1945, Bd. 1, Stuttgart 1966, S. 337f. Nach: Vollnhals, Jüdische Selbsthilfe, S. 354.

[28] Vgl.: Benz, Die Juden im Dritten Reich, S. 370.

[29] Vgl. und Zitat: Vollnhals, Jüdische Selbsthilfe, S. 354.

[30] Ebenda, S. 363.

[31] Ebenda.

[32] Vgl.: Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe, S. 42-44.

[33] Vgl.: Vollnhals, Jüdische Selbsthilfe, S. 364.

[34] Explizit zu Fragen des nationalsozialistischen „Berufsbeamtentums“ vgl.: Broszat, Martin: Der Staat Hitlers. 13. Aufl. München 1992, S. 301-325.

[35] Zitat und Vgl.: Vollnhals, Jüdische Selbsthilfe, S. 364. Vgl. dazu auch: Wendt, Deutschland 1933-1945, S. 168.

[36] Vollnhals, Jüdische Selbsthilfe.

[37] Vgl.: Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe, S. 47-54.

[38] Vgl.: Ebenda, S. 47.

[39] Vollnhals, Jüdische Selbsthilfe, S. 365.

[40] Vgl.: Ebenda.

[41] Vgl.: Ebenda, S. 366.

[42] Vgl.: Ebenda, S. 369.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Die Einrichtung der jüdischen Selbsthilfe zu Zeiten der NS-Repression. Nützliche Stütze oder wirkungsloses Moment?
Hochschule
Technische Universität Dresden
Note
1,5
Autor
Jahr
2010
Seiten
19
Katalognummer
V189152
ISBN (eBook)
9783656145929
ISBN (Buch)
9783656146063
Dateigröße
440 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Neueste Geschichte, Jüdische Selbsthilfe, Juden, Nationalsozialismus, Judenverfolgung
Arbeit zitieren
Marcus Hanisch (Autor:in), 2010, Die Einrichtung der jüdischen Selbsthilfe zu Zeiten der NS-Repression. Nützliche Stütze oder wirkungsloses Moment?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/189152

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