Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Entwicklung eines eigenen Musik-Bild-Systems
1.1 Frühe Filme
1.1.1 A Walk Through H (1978)
1.1.2 Vertical Features Remake (1978)
1.1.3 The Falls (1980)
1.2 Das Verhältnis zwischen Musik und Bild
2. Der Kubismus
2.1 Grundsätze des Kubismus
2.2 Kubismus und Film
2.3 Kubismus und Musik
2.3.1 Musikalischer Kubismus
2.3.2 Kubistische Musik
3. Kubistisches bei Michael Nyman
3.1. Jenseits des Absoluten
3.2 Der Umgang mit Material
3.3 Arbeit mit Grundformen
3.4 Form als übergeordnetes Prinzip
Fazit
Bibliographie
Diskographie
Einleitung
Eine Selbstaussage Peter Greenaways taucht immer wieder in Interviews und Kommentaren zu seinen Filmen auf: „I am still, primarily, a painter who’s working in cinema“1. Davon zeugen zahlreiche tableaux vivants, Stilleben, Zitate aus der Malerei, die meist statische Kamera, die intensive Arbeit mit Licht. Es soll nun gezeigt werden, dass auch Michael Nymans Musik, die für Greenaway „une des formes du film“2 ist, sich in ihrer ungewöhnlichen Mikro- und Makrostruktur mit Strukturprinzipien der Malerei vergleichen lässt - insbesondere mit jenen des Kubismus.
In dieser Arbeit soll zunächst anhand der frühen gemeinsamen Filme von Peter Greenaway und Michael Nyman untersucht werden, wie das System der Beziehungen zwischen Musik und Bild entstand und einige wesentliche Praktiken vorgestellt werden, die auch im späteren Schaffen präsent bleiben. Anschließend sollen die Grundlagen des Kubismus beleuchtet werden, um schließlich der Frage nachzugehen, ob man Michael Nymans Filmmusik als „kubistische Musik“ bezeichnen könnte.
1. Die Entwicklung eines eigenen Musik-Bild-Systems
1.1 Frühe Filme
1.1.1 A Walk Through H (1978)
Peter Greenaway und Michael Nyman experimentieren bereits in ihren ersten gemeinsamen Werken mit einer eigenständigen Tonebene und entwickelten dabei ein eigenes System, das sich vor allem durch die strukturelle Angleichung von Bild und Ton auszeichnete.
Bereits in A Walk Through H (1978), wo sich ein Ornithologe auf die Reise durch gezeichnete Landkarten begibt, besteht ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Nymans Musik, der Erzählung des Sprechers und den Bildern. Die Musik ist meist geradtaktig und repetitiv, der Rhythmus des Bildschnitts folgt oft den starken Akzenten der Musik. Oft setzt die Musik unvermittelt und somit unüberhörbar ein, worauf die Erzählung pausiert. Auf der anderen Seite setzt sie jedoch ebenso plötzlich an bestimmten Punkten der Erzählung oder bei Schnitten aus. Hier waltet nicht das Hollywood-Prinzip des „continuity editing“, bei dem auch mittels fließenden Tonübergängen der Montage-Vorgang für den Zuschauer unbewusst geschehen soll. Greenaway legt die Montage und somit die Konstruktion des Films offen, in dem er den verschiedenen Schichten des Films Eigenständigkeit gewährt und sie sich wechselnd beeinflussen lässt. Hier strukturiert die Musik die Erzählung und den Rhythmus der Bilder, aber auch umgekehrt strukturieren Erzählung und Bildschnitt die Musik.
Diese Gleichberechtigung von Bild- und Tonebene ist das Ergebnis eines Schaffensprozesses, bei dem Musik und Bild der gleichen abstrakten Grundstruktur und dem gleichen Konzept unterliegen,3 beide aber zur selben Zeit unabhängig voneinander entstehen.4
1.1.2 Vertical Features Remake (1978)
In Vertical Features Remake (1978) dient die Musik einzig und allein einem strukturellen Zweck. Dadurch wird noch ein anderes Hollywood-Schema außer Kraft gesetzt: die emotionale oder atmosphärische Funktion von Filmmusik. Statt einem Gefühl oder Stimmung wiederzugeben, ist die Musik Teil einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung und gliedert sich damit in die Grundstruktur des Films ein. Diese beruht auf dem Versuch, ein geplantes Filmexperiment des fiktiven Wissenschaftlers Tulse Luper zu realisieren und Aufnahmen vertikaler Objekte in der Landschaft systematisch zu montieren. Die Objekte werden in 11 Gruppen a 11 Bildern eingeteilt (verschiedene Arten von Zaunpfosten, Bäumen, Strommasten, etc.). Insgesamt werden vier Versuche unternommen, den Plänen Lupers möglichst genau zu realisieren. Zwischen den Sequenzen streiten verschiedene Theoretiker über Verbesserungsmöglichkeiten in der Ausführung, die wiederum zum nächsten Remake führen. So zeigt der Film letztlich vier verschiedene Möglichkeiten, eine Reihe von 121 Objekten (11x11) zu verfilmen. Wird der Versuch des ersten Remakes noch ohne Musik unternommen, so wird für das Folgende dem Rat eines Akademiker nachgegangen, „musical punctuation“ zu benutzen. Bereits diese Formulierung fordert also nichts als eine reine Zeichensetzung. Beim Beginn jeder der folgenden elf Bildreihen steht nun ein voll ausklingender Klavierakkord, der nichts anderes bewirkt, als den Beginn einer Reihe wahrnehmbar zu machen.
Im dritten Remake wird die Zeichensetzung komplexer. Wie beim vorigen Remake wird bei jeder neuen Bildreihe der Akkord gewechselt, nun wird aber zusätzlich der jeweilige Akkord auf jedem ungeraden Einzelbild der Reihe wiederholt. Auf jedem geraden Einzelbild ertönt in der ersten Reihe ein Achtel-Akkord - in der zweiten Reihe zwei Achtel-Akkorde, usf. bis zu elf Achteln, also einer fast vollständigen Füllung des Taktes. Die Länge der stehenden Bilder passen sich hier den Notenwerten an, die geraden Bilder werden also gegen Ende zunehmend länger. Im letzten Remake dominiert die musikalische Struktur in ihrer Komplexität den Rhythmus der Bilder noch stärker. Abwechselnd werden die Einzelbilder im
Achteltakt auf Sechzehntel-Akkorde und auf innehaltenden, aber zunehmend öfter wiederholenden Akkorden montiert.
Wo Greenaway eindeutig eine Parodie auf den strukturalistischen Film vollführt, lotet er doch gleichzeitig die Möglichkeiten aus, ein bestimmtes Thema auf verschiedene Weisen zu verfilmen. Während sich der fiktive Hersteller des Films, das „Institute of Reclamation and Restoration“ bei jeder Verfilmung die Sicherheit ausspricht, dass dies die end- und einziggültige Verfilmung des Projekts von Tulse Luper sei, zeigt Greenaway gerade durch die unterschiedlichen Versuche, dass es einen einzigen zentralen, objektiven Blick auf ein Thema nicht geben kann. Alle Versuche wirken gerade wegen ihrer übertriebenen formalen Strenge völlig willkürlich. Die Strukturierung durch Musik macht dies deutlich: die Tonebene ist von den Bildern losgelöst und stellt ein übergeordnetes Ordnungsystem aus Dauer und Wiederholungen dar. Es ordnet so die Objekte in der Landschaft unter und gliedert sie nach den eigenen musikalischen Gesetzmäßigkeiten und Strukturen (Achtel, Sechzehntel, Tonwiederholungen). Durch diese Künstlichkeit - die ebenso der Kamera und der Montage innewohnt - kann es keinesfalls zu einem blanken Abbild der Realität kommen. Stattdessen werden immer neue Perspektiven auf die Objekte entworfen.
1.1.3 The Falls (1980)
Das frühe Schaffen Greenaways und Nymans kulminiert im dreistündigen The Falls (1980). Diesem Mockumentary liegt die Struktur eines Wörterbuchs zugrunde, das ja ebenfalls mit einem willkürlichen Prinzip - dem des Alphabets - versucht, die Wirklichkeit zu ordnen. Thema des Films ist das „Violent Unknown Event“, kurz VUE, ein unbekanntes Ereignis, das dazu führte, dass Millionen von Betroffenen Ornithologen wurden, bisher unbekannte Sprachen beherrschten, zu vogelähnlichen Wesen mutierten oder die Unsterblichkeit erlangten. Gezeigt werden in Reihenfolge des Alphabets all jene Opfer die mit der Silbe ‚Fall-’‚ beginnen, von „Orchard Falla“ bis zu „Anthior Fallwaste“. So entsteht eine Reihe von 92 Biographien. Die musikalischen Themen sind bestimmten Bildern oder Bildergruppen fest zugeordnet und setzen auf ähnliche Weise wie in A Walk Through H unvermittelt ein und aus. Eines der musikalischen Materialien bildet der zweite Satz von Mozarts Sinfonia Concertante in Es-Dur (KV 364), das später ebenfalls zur Grundlage der Filmmusik von Drowning by Numbers (1988) wurde. Nyman variiert Themen aus Mozarts Satz in unterschiedlicher Form und Instrumentierung. Er reduziert das Ausgangsmaterial auf einige wenige Parameter, die im Laufe des Filmes wechseln. Zudem ist das Thema in seiner Originalform auf Schallplatte zu hören. Ein anderes Thema aus dem Satz wird wie in Vertical Features Remake akkumulativ verwendet. Es erscheint immer beim Titel und Nummer der folgenden Biographie. In der ersten Biographie ist es zunächst nur mit einem Takt zu hören und baut sich dann im Laufe des Films mit jedem Titel systematisch auf, bis es am Ende in voller Länge erklingt. Diese Vorgehensweise lässt an Claudia Bullerjahns Begriff der „Baukastentechnik“ denken, den sie als vierte Filmmusik-Technik neben Leitmotiv-, Mood- und Underscoring-Technik bezeichnete:
Bei diesem Verfahren werden kleinste Bausteine, zumeist vollständig harmonisierte Einzeltakt-Zellen oder eintaktige rhythmische oder melodische Motiv-Zellen, mittels Repetition zu zumeist Vier- oder Achttaktmustern zusammengefügt oder auch kombiniert. Diese Muster wiederum montiert man baukastenartig zur ganzen Komposition zusammen.5
Diese Technik ist der des Bildschnitts sehr ähnlich. Die Musik bleibt durch ihre Geradtaktigkeit, Repetitivität und Symmetrie stets teilbar und kann so wie Bilder montiert werden. Somit begegnen sich Ton und Bild auf einer Augenhöhe und können in vielfältige Beziehungen treten - in den Worten Greenaways: „La musique devient une des formes du film.“6 So gibt es auch immer wieder Überschneidungen zwischen den sonst getrennten Sphären von Bild und extra-diegetischem Ton. Beispielsweise wird ein Liedtext aus der Filmmusik in einer Sequenz im Hintergrund von einer Figur am Telefon gesprochen, in einer anderen Sequenz wird die Aufnahme jenes Songs von der Michael Nyman Band gefilmt.
1.2 Das Verhältnis zwischen Musik und Bild
Peter Greenaway erklärt in einer Vorlesung über Filmmusik7 dass Michael Nyman und er seit Beginn ihrer Zusammenarbeit von der Möglichkeit fasziniert waren, Musik wie Film schneiden und anordnen zu können. Dass Nymans Musik derart gestaltet sei, dass sie eine solche Vorgehensweise zulasse, sah Greenaway sogar als einen der Hauptgründe für ihre gemeinsame Arbeit.
Wie oben ausgeführt geschieht diese Montage nicht unsichtbar, sondern wird gerade durch strenge Strukturprinzipien wie die Akkumulation einzelner Takte oder das plötzliche Ein- und Aussetzen von Musik offengelegt.
Innerhalb der Baukasten-Technik kommt es auch zu Veränderungen innerhalb der musikalischen Bausteine. So erscheint in ein anderer musikalischer Baustein in The Falls, der „Bird List Song“, mal als Sologesang, mal mit Klavier und Perkussion, mal mit zusätzlichen Horn-Akzenten, mal als Sechzehntel in den Streichern. Einzig die Harmonik und Melodik bleibt gleich.
Diese Vorgehensweise wäre in Analogie zum Bild eine Einnahme verschiedener Perspektiven gegenüber einem Gegenstand. Die Auswahl des Ausschnitts aus dem größeren musikalischen Zusammenhang entspräche der filmischen Cadrage. Wenn Peter Greenaway davon spricht, dass The Falls nicht nur 92 Arten zeigt, das Ende der Welt vorauszusehen, sondern auch 92 Arten, in denen man einen Film machen kann,8 so ist hier Nymans Musik mit einbegriffen. In einem ständigen Wechsel von Perspektiven, Stilen und Formen, trägt die Musik dazu bei, den Gegenstand unterschiedlich zu beleuchten. Zudem ist immer wieder festzustellen, dass die Musik das Bild nicht illustriert und unterstützt, sondern sich ihm sich mit ihm reibt oder gar entgegenstellt. Neben dem selbstständigen Ein- und Aussetzen, also der Inkongruenz des visuellen und akustischen Schnitts, kehrt sich bei Greenaway und Nyman oft auch das Wesen der Musik gegen die Bilder. Bereits die Titelmelodie von The Falls zeigt eine fröhlich-springenden Unbedarftheit gegenüber der oft grausamen Schicksale der VUE-Opfer. In einer anderen Sequenzen ist während der Geschichte einer Auslöschung einer ganzen Familie im Hintergrund der feierliche Marsch einer Blaskapelle zu hören.9
All dies fußt auf der Auffassung, dass es dem Film nicht möglich ist, ein Abbild der realen Welt zu sein. So traut Greenaway nicht dem zentralen Blick der Kamera, der dem Zuschauer nahelegt, hier werde die Realität gespiegelt. Stattdessen setzt ein hohes Maß an Ironie, Künstlichkeit und sichtbarer Konstruktion entgegen. Er kommentiert selbst:
Every time you watch a Greenaway movie, you know you are definitely and absolutely only watching a movie. It’s not a slice of life, not a window on the world. It’s by no means an exemplum of anything „natural“ o „real“. I do not think that naturalism or realism is even valid in the cinema. Put up a camera and everything changes. Pursuit of realism seems to me a dead end.10
Für Greenaway scheint auch Godards in den Histoire(s) du cin é ma formulierter Grundsatz zu gelten, dass die Zentralperspektive die Erbsünde der abendländischen Malerei sei.11 Im Gegensatz zu Godard sieht er aber nicht Niepce und Lumière als die Erlöser dieser Sünde, da auch der Film jeweils von einzelnen Einstellungen abhängt, die dem zentralen Blick unterworfen sind:
Ein zeitgenössisches Publikum sieht die Wert im Film als ein flaches Rechteck, ein zweidimensionales Phänomen, das die fotografische Illusion des Raumes und der Tiefe nutzt, um drei Dimensionen anzudeuten. Das Kino hat keine materielle Substanz. Wir können nicht ein wenig nach links rücken, um den Eßtisch von der Südseite zu sehen. Wenn der Regisseur uns den Tisch von der Südseite lassen will, dann wird er den Kameramann anleiten, uns den Tisch von der Südseite zu zeigen.
Dann schauen wir alle auf die Südseite, und jeder im Kino nimmt denselben Standpunkt ein. Das ist eine äußerst armselige Situation, wenn wir wissen, das Tische von der Nord-, West und auch von der Ostseite aus gesehen werden können.12
Es ist unter anderem die Musik, die jener „armseligen Situation“ Abhilfe schaffen kann, in dem sie einerseits eine weitere, eigenständige Dimension dem Bild hinzufügt und somit das Bild aus seinem unverrückbaren Standpunkt herauslöst. Zudem dekonstruiert die Musik auch ihren eigenes Material (wie Mozarts Sinfonia in The Falls) und setzt sie neu aus ihren verschiedenen Parametern, den Grundformen des musikalischen Materials zusammen.
Diese Problemstellung und ihr Lösungsansatz ähnelt stark dem Weg der Kubisten am Anfang des 20. Jahrhunderts, der im folgenden nachgezeichnet werden soll.
[...]
1 Peter Greenaway, Interviews, S. 100
2 Michael Nyman u.a., Peter Greenaway, S. 113
3 Michael Nyman erklärte in einem Interview: „Peter et moi […] partons d’une structure, d’un concept formel qui n’a rien a voir avec l’histoire et les personnages du film.“ (Isabelle Ruchti, Une musique structurelle, S. 34)
4 „We’ve worked a lot together trying to evolve a system wherby the music and the visuals are created simultaneously and each has ist own independent life.“ (Peter Greenaway, Interviews, S. 5)
5 Claudia Bullerjahn, Grundlagen zur Wirkung von Filmmusik, S. 93
6 Michael Nyman u.a., Peter Greenaway, S. 113
7 Peter Greenaway, The Slavery of Music and Sound (Video)
8 Peter Greenaway, Einführung zu den Frühen Filmen (2) (Video)
9 Mit solchem Vorgehen wird die Forderung Adornos und Eislers wahrgenommen, statt einer Untermalung im Hintergrund Filmmusik kontrapunktisch und antithetisch einzusetzen. (siehe Theodor W. Adorno / Hanns Eisler, Komposition für den Film, S. 58-79)
10 Peter Greenaway, Interviews, S. 98
11 Jean-Luc Godard, Histoire(s) du cinéma, no. 3b
12 Peter Greenaway, Watching Water Katalog, Nr. 12, zit. nach Michael Schuster, Malerei im Film, S. 107