Neue Lern- und Leistungskultur in der Grundschule

Alternative Formen des Umgangs mit Schülerleistungen


Examination Thesis, 2012

62 Pages, Grade: 2,3


Excerpt


Inhalt

Einleitung

1. Neue Lernkultur
1.1. Herkömmliche versus neue Lernkultur
1.2. Merkmale und Prinzipien der neuen Lernkultur
1.3. Zusammenfassung

2. Leistungsverständnis und Umgang mit Leistungen
2.1. Zum Begriff der Leistung
2.2. Gesellschaftliches und schulisches Leistungsverständnis
2.3. Kritik an dem etablierten schulischen Leistungsverständnis
2.4. Pädagogisches erweitertes Leistungsverständnis
2.5. Dimensionen des Umgangs mit Schülerleistungen bei dem neu bestimmten Leistungsverständnis
2.5.1. Entstehungs- und Rahmenbedingungen der Leistung
2.5.2. Leistungsermittlung, Beschreibung und Bewertung
2.5.3. Leistungsreflexion, Ursachenerklärung und Diagnose
2.5.4. Präsentation und Wahrnehmung von Leistungen
2.5.5. Kommunikation, Rückmeldung und Entscheidungen im Anschluss an die Leistungsermittlung und Bewertung
2.5.6. Dokumentation von Leistungen
2.6. Zusammenfassung

3. Neue Methoden der Leistungsfeststellung und Bewertung
3.1. Das Portfoliokonzept
3.1.1. Arten von Portfolios
3.1.2. Vorteile der Portfolioarbeit und die Bedeutung der Portfoliomethode für die neue Lernkultur
3.1.3. Prinzipien und Bausteine der Portfolioarbeit
3.2. Methode der Prozessbeobachtung
3.3. Präsentationen
3.4. Lerntagebücher
3.5. Zusammenfassung

Schlussgedanken

Literaturverzeichnis

Internetquelle

„Wer die vom Druck der Zensuren

befreiten, durch Sachinteresse, Zu-

wendung und Freilauf bestimmten

Schulstunden kennt, weiß, dass dies

zur Grundschule gehört wie das täg-

liche Brot zum Leben.“

Erwin Schwartz

Einleitung

In der Diskussion um die Schulbildung und ihre Rolle in der modernen Gesellschaft wird immer häufiger über die Notwendigkeit einer neuen Lernkultur gesprochen, die den rapiden Entwicklungen und Herausforderungen unserer Zeit gerecht wird. Diese neue Lernkultur wird durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Selbständigkeit, Prozessorientierung, Lernen in komplexen Situationen, Demokratisierung der Lernorganisation.[1] In den Vorstellungen von modernen Lehren und Lernen sowie auch in vielen Bereichen der schulischen Praxis werden Veränderungen in Richtung der neuen Lernkultur vollzogen.[2] So werden z.B. die Formen und Methoden eines offenen, handlungsorientierten und schülerzentrierten Unterrichts, solche wie Projektunterricht, Freie Arbeit, Lernstationen, Lernwerkstatt, Wochenplan u.ä. immer häufiger verwendet. Dabei hat sich aber in der Praxis der Leistungsbewertung wenig geändert. Nach wie vor werden die Leistungen der Schülerinnen und Schüler überwiegend nach dem Notensystem beurteilt, welches in der Regel eine Fremdbeurteilung durch Lehrerinnen und Lehrer voraussetzt und den Prüfungscharakter hat, nicht auf den Prozess, sondern auf das Endprodukt gerichtet ist, nicht solidaritäts-, sondern konkurrenz- und ausleseorientiert ist. Die Widersprüche zwischen den veränderten Lehr- und Lernformen und dem herkömmlichen Leistungsbeurteilungssystem sind offensichtlich. „Bei den neuen, offenen Arbeitsmethoden wird besonders deutlich erfahrbar, dass herkömmliche Formen der Leistungsüberprüfung und Leistungsbeurteilung nicht mehr gut passen. Überall da, wo frei und entdeckend gelernt wird, wo Prozesse den Wert des Lernens prägen, wo gemeinschaftlich gearbeitet wird, wo es nicht nur um Wissenserwerb, sondern auch um Lernstrategien, soziale Fähigkeiten und persönliche Entwicklung geht, wird sichtbar, dass neue, ´intelligente` Formen der Leistungsbewertung notwendig werden.“[3] Die tradierten Vorgehensweisen des Umgangs mit Schülerleistungen werden den Erfordernissen der neuen Lernkultur nicht mehr gerecht. Die Praxis zeigt, dass die Leistungsbeurteilung durch die Noten Schülerinnen und Schüler zum Lernen nicht motiviert. Auf schwache Schülerinnen und Schüler wirken sie meistens frustrierend und stagnieren die Lernprozesse überhaupt, bei starken führen sie häufig zur Selbstgenügsamkeit, d.h. starke Schülerinnen und Schüler sehen wegen ihrer ausgezeichneten Noten keine weiteren Ziele mehr, nach denen sie streben könnten. Der Erwerb der Kenntnisse wird von den Kindern überhaupt nicht mehr als der Zweck des Lernens wahrgenommen, sie bemühen sich nur um die Noten, Zeugnisse und Abschlüsse oder, was noch schlimmer ist, um Belohnungen, die sie für gute Noten von ihren Eltern bekommen können.

Besonders wichtig ist die Reform der Leistungsbewertung für die Grundschule, denn sie ist eine Schule für alle Kinder und ist deshalb besonders stark durch Heterogenität geprägt. Es ist an dieser Stelle an den Hinweis von Erwin Schwartz auf die Grundrechte jedes Kindes zu erinnern (vgl. dies. 2005, 26ff): Laut dem Gleichberechtigungsprinzip, das im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgelegt ist, darf niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, Rasse, Sprache, Herkunft etc. benachteiligt oder bevorzugt werden.[4] Wenn aber Kinder beim Lernen mit gleichem Maßstab beurteilt und sortiert werden, werden einige von ihnen auf solche Weise von vornherein benachteiligt und einige bevorzugt, denn die Lernausgangslagen sind nicht bei allen Kindern gleich. Das andere durch das Grundgesetz zugesprochene Recht jedes Kindes ist das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.[5] Für die Schule und insbesondere für die Grundschule soll dies bedeuten, dass sie jedem Kind die Möglichkeiten für die Entwicklung eigener Individualität und Erlangung der Autonomiefähigkeit bzw. Mündigkeit gewährleisten muss.[6] Die Schule als eine staatliche Pflichtveranstaltung muss auf die Einhaltung der Grundrechte aller Kinder in besonderem Maße achten.[7] Außerdem gerade für Grundschulkinder ist es besonders wichtig, sich als erfolgreich erleben zu können, denn dies kann für ihr ganzes weiteres Leben entscheidend sein. Die Leistungsbeurteilung durch die Noten ermöglicht aber nicht, dass alle Kinder erfolgreich sein können, dass es keine Versager und Verlierer gibt. Es ist der Meinung von Horst Bartnitzky zuzustimmen, wenn er den Umgang mit Grundschulkindern, solchen, wie er heutzutage meistens ist – mit Auslese und Beschämung durch Noten, Sitzenbleiben, Sonderschulüberweisungen – als kinderfeindlich bezeichnet (vgl. dies. 2004, S. 27).

Ausgehend von Allem oben gesagten kann man behaupten: Die Grundschule muss von einem Unterricht, der in den Lernzielkontrollen für alle das Gleiche abfragt, d.h. von standardisierten Formen der Leistungsbeurteilung wegkommen.[8] „Die Lösung liegt in einer pädagogischen Leistungskultur, in der Kinder nicht beschämt, sondern ermutigt werden.“[9]

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist zu untersuchen, welche es Möglichkeiten gibt, Schülerleistungen anders als durch die Zensuren bzw. Noten, d.h. motivierend und ermutigend zu bewerten, auf welche Weise man Kindern den richtigen Umgang mit Leistungen beibringen und bei ihnen eine Leistungskultur, die ein unentbehrlicher Teil der neuen Lernkultur ist, entwickeln kann. Um dieses Ziel zu erreichen, d.h. um passende Instrumente und Methoden des Umgangs mit Schülerleistungen zu finden, soll zuerst analysiert werden, was im traditionellen Umgang mit Schülerleistungen zu verändern ist, wie den Leistungen der Schülerinnen und Schüler innerhalb der neuen Lernkultur begegnet werden soll, welche Aspekte dabei zu beachten sind.

Die Arbeit besteht aus der Einleitung, drei Hauptkapiteln und dem Abschlussteil. In der Einleitung wird die Aktualität des Themas begründet. Es werden die Ziele der Arbeit sowie auch die Gliederung angekündigt. Im ersten Kapitel werden die charakteristischen Merkmale und Prinzipien der neuen Lernkultur erläutert. Im zweiten Kapitel wird es den Fragen nachgegangen, was unter dem Leistungsbegriff zu verstehen ist, ob die Schule ihren eigenen Leistungsbegriff benötigt und wie er sein muss. Hier werden außerdem die Spannungsbeziehungen zwischen der neuen Lernkultur und dem tradierten Leistungsverständnis aufgezeigt. Das dritte Kapitel befasst sich damit, einige besonders für die Grundschule geeigneten neuen bzw. zu den herkömmlichen alternativen Formen und Methoden der Leistungsfeststellung und -beurteilung, nämlich Portfolio, Prozessbeobachtung, Präsentationen und Lerntagebücher zu betrachten und zu beschreiben. Dabei wird es unter Anderem auch auf die Möglichkeiten und Probleme sowie auch einige besonderen Aspekte der praktischen Verwendung dieser Formen und Methoden eingegangen. Im letzten Teil der Arbeit werden Schlussfolgerungen gemacht.

Bemerkung: In dieser Arbeit werden im Weiteren keine Genderbezeichnungen ´Schülerinnen und Schüler`, ´Lehrerinnen und Lehrer` u.ä. verwendet, sondern immer nur die Maskulina-Formen, unter denen aber auch weibliche Personen zu verstehen sind. Dies wird keineswegs mit der Absicht, Personen weibliches Geschlechtes zu diskriminieren, gemacht, sondern nur mit dem Ziel, die Sätze durch solche Bezeichnungen nicht zu verlängern und das Verständnis dem Leser nicht zu erschweren.

1. Neue Lernkultur

In den letzten Jahren ist es ganz deutlich geworden, dass infolge der rasanten technischen Entwicklung und der damit verbundenen Veränderungen in fast allen Lebensbereichen, sowie auch infolge des gesellschaftlichen Wandels hin zu Pluralität und Flexibilität die Anforderungen an das Individuum sich stark veränderten. Dies kann von der Schule nicht ungeachtet bleiben, denn die Aufgabe der Schule hauptsächlich darin besteht, Heranwachsende auf das zukünftige Leben vorzubereiten. Es wird immer mehr offensichtlich, dass die gegenwärtig tradierten Formen des Lernens und Lehrens, die durch die „Monokultur“ des lehrerzentrierten Unterrichts[10] geprägt sind, mit dieser Aufgabe nicht mehr zurechtkommen – die Unzufriedenheit mit der Bildung ist in der Gesellschaft spürbar und die Kritik am Bildungs- und Schulwesen zunehmend wächst. Es ist deshalb eine neue Lernkultur bzw. ein neu gedachtes Lernen und Lehren erforderlich, die den Forderungen unserer Zeit mehr entsprechen.

In diesem Kapitel der Arbeit soll ausgeleuchtet werden, wodurch sich die neue Lernkultur von der herkömmlichen unterscheidet. Dafür werden zuerst einige Grundannahmen der beiden Lernkulturen gegenübergestellt und verglichen. Dann werden Hauptmerkmale und leitende Prinzipien der neuen Lernkultur ausführlich beschrieben und begründet.

1.1. Herkömmliche versus neue Lernkultur

Eine ihrer Aufgaben sah die Gesellschaft schon immer darin, das vorhandene Wissen in Form eines Kanons den nächsten Generationen zu übergeben. Dies liegt, wahrscheinlich, auch im Grunde der traditionellen und seit langem in unserer Gesellschaft etablierten Lernkultur. Die Grundlagen dieser Lernkultur bilden außerdem die vorwiegend auf Theorien des Behaviorismus und Kognitivismus basierenden Vorstellungen vom Lernen und Verhalten.[11] Laut dieser Theorien existiert Wissen unabhängig vom Lernenden, Lernen ist lediglich ein Informationsverarbeitungsprozess und das Lernverhalten kann durch äußere Reize gesteuert werden.[12] Demzufolge wurde angenommen, dass Wissen vermittelt werden kann und muss. Diese Sichtweise ist zu einer Entscheidungsprämisse d.h. einer nicht mehr hinterfragbaren Entscheidung für das schulisches Lernen geworden.[13] Die kanonisierten (in Lehrplänen festgeschriebenen) Wissensbestände werden allen Schülern einer Klasse gleichzeitig dargeboten. Lernende werden dabei als Rezipienten angesehen, die die vermittelten Kenntnisse später präzise reproduzieren sollen, Lehrende als Vermittler des Wissens.[14]

Die herkömmliche Lernkultur zielt auf den Erwerb von Qualifikationen.[15] Dies stimmt mit der Vorstellung überein, dass die Schule qualifizierte Menschen für unterschiedliche gesellschaftliche oder berufliche Bereiche produzieren soll.[16] Und obwohl in allen gesetzlichen Dokumenten für Bildungs- und Schulwesen jüngerer Zeit ganz andere Aufgaben und Ziele für die Institution Schule bestimmt sind, prägt diese Vorstellung das Schulsystem nach wie vor in wesentlichem Maßen. Davon zeugen die Gliederung des Schulsystems in Schularten und die daraus resultierte Selektion der Schüler. Zum Sinn des Lernens wird bei der herkömmlichen Lernkultur logischerweise der Erwerb von Zugangsberechtigungen bzw. von Zeugnissen, Qualifikationsabschlüssen etc. Dementsprechend erfolgt das Lernen in bestimmten gesonderten Lernphasen im Lebensverlauf.[17]

Im Gegensatz zu der beschriebenen, bis heute noch meistens herrschenden Lernkultur basiert die neue Lernkultur auf Theorien des Konstruktivismus, die besagen, dass das Wissen von jedem Individuum konstruiert wird und nicht vermittelt werden kann. Diese Lernkultur zielt auf den Erwerb von Kompetenzen und reflexiver Handlungsfähigkeit, die dem Menschen helfen sollen, unterschiedliche Lebenssituationen zu bewältigen, Handlungsfelder zu erschließen und zu gestalten.[18] Es wird angenommen, dass das Lernen lebenslang dauern kann, deshalb sollen die Bemühungen darauf gerichtet werden, Lernpotenzial bereitzustellen.[19] Das Lernen kann im Unterschied zur tradierten Lernkultur differenziert oder sogar individuell organisiert und von Curricula unabhängig sein, ist weder an bestimmte Lernorte noch an bestimmte Vorgehensweisen und Methoden gebunden.[20]

1.2. Merkmale und Prinzipien der neuen Lernkultur

Im vorangegangenen Abschnitt wurde kurz dargestellt, welche prinzipielle Unterschiede zwischen der herkömmlichen und der anzustrebenden neuen Lernkultur bestehen. Im Folgenden wird auf die besonders kennzeichnenden Merkmale und Prinzipien der neuen Lernkultur eingegangen.

Eines der wichtigsten Merkmale der neuen Lernkultur ist die höhere Selbständigkeit der Lernenden. Dies ist nicht zufällig: Wenn man das Lernen folgend konstruktivistischen Theorien als einen individuellen Konstruktionsprozess ansieht, wird es dann deutlich, dass man diesen Prozess am besten dadurch fördern kann, den Lernenden die Möglichkeit zur aktiven und selbstständigen Tätigkeit zu geben.[21] Wie die Praxis zeigt, wirkt sich das aktive und selbständige Handeln positiv auf die Motivation der Kinder aus. Diese und andere Argumente für selbständiges Lernen waren schon auch früher bekannt und brauchen nicht, hier noch einmal bewiesen zu werden. Die Idee des freien selbständigen Handelns beim Lernen ist nicht neu und steht im Mittelpunkt mehrerer pädagogischen Konzepte (z.B. verschiedene Konzepte der Reformpädagogik). Heutzutage gibt es aber viel mehr Gründe dafür, das Lernen mit einem sehr hohen Grad an Selbständigkeit zu verlangen. Dieses Verlangen ergibt sich aus der heutigen Realität: Die Welt, die immer wieder komplexer wird, mit riesigem Informationsschwall, dem rasanten Wandel sowohl im öffentlichen und beruflichen als auch im privaten Lebensbereich - Pluralisierung der Lebensformen, moralischer Werte, Differenzierung der Arbeitswelt etc. - fordert von den Menschen einerseits sich auf neue Anforderungen immer wieder anpassen zu müssen, andererseits sich auf neue Entwicklungen kritisch einstellen und mitgestalten zu können.

Daraus ergibt sich zum einen die Notwendigkeit, Kinder und Jugendliche zu zielbewusstem lebenslangem Lernen zu befähigen.[22] Auf Grund dessen gewinnt das Lernen des Lernens eine große Bedeutung. Es müssen in dieser Hinsicht bestimmte Fähigkeiten ausgebildet werden: Die Schüler sollen neben dem Erwerb wichtiger Methodenkompetenzen auch lernen, ihre Bildungsprozesse selbst zu steuern und zu kontrollieren. Dafür ist auch überragend wichtig, dass sie diese Prozesse als eigene wahrnehmen.[23] Zum anderen resultiert aus den heutigen Tendenzen zum Wandel in allen Lebenssphären die Aufgabe der Schule, jedem Kind die Erlangung von Mündigkeit zu ermöglichen. In Anbetracht dessen wird die Entwicklung der Urteilsfähigkeit zu einem wichtigen Punkt.[24] Die Kinder sollen lernen, sich in ihrer Umwelt zu orientieren und Entscheidungen selbst zu treffen.

Wie aus den oberen Auslegungen folgt, ist die Fähigkeit zum verantwortungsbewussten Handeln und zur effektiven Selbststeuerung eine der wichtigsten Forderungen, die unsere Gesellschaft heutzutage vor die einzelnen Individuen stellt und die zum Ziel des Lernens werden soll. Dieses Ziel scheint erreichbar zu sein, wenn die Selbständigkeit beim Lernen im weiten Sinn betrachtet wird und in alle Bereiche des Lernens und des Unterrichts durchdringt.

Als zweites kann man das Merkmal der stärkeren Prozessorientierung nennen. Für eine Zuwendung zu den Lernprozessen und nicht nur zu den Resultaten bzw. der Richtigkeit von Lösungen plädierten mehrere Pädagogen und Didaktiker schon früher. Dies wurde hauptsächlich dadurch begründet, dass neben den fachlichen Sachkompetenzen auch der Erwerb von Methodenkompetenzen unentbehrlich ist. Prozeduralem Wissen wurde also gegenüber deklarativem eine größere Bedeutung zugeschrieben.[25] In Konzepten der neuen Lernkultur geht es aber um viel mehr: Das Lernen soll reflexiv werden.[26] In Anbetracht der Notwendigkeit, das Lernen zu lernen, was unter Anderem die Fähigkeit zur Selbststeuerung voraussetzt, entsteht die Forderung nach Ausbildung und Entwicklung von metakognitiven Kompetenzen. Als solche werden „das Wissen über Lernprozesse, mögliche Fehlerquellen, die Besonderheiten von Anforderungen, die eigenen Stärken und Schwächen sowie Fähigkeiten, das eigene Lernen zu überwachen“[27] bezeichnet. Verfahren des Lernens sollen jetzt nicht lediglich als Mittel zum Zweck – dem Erwerb fachlicher Kompetenzen – angesehen werden, sondern selbst zum Gegenstand des Unterrichts werden.[28] Dies bringt mit sich notwendigerweise Umorganisation des Unterricht. Das Lernen des Lernens soll zu einem sichtbaren Unterrichtsziel werden und von den Schülern als solches anerkannt werden.[29] Das passiert aber keineswegs an sich: Die Schüler sind angewöhnt, als anzustrebendes Ziel Aufgabenlösungen oder den Erwerb fachlicher Kenntnisse zu betrachten, und sind nicht bereit, die weitergehenden Ziele wie Beobachtung und Analyse eigener Lernvorgänge zu akzeptieren. Eine wichtige Aufgabe des Lehrers ist es also, sie für diese Ziele zu begeistern, denn „ohne aktive Beteiligung der Schüler an der Beobachtung, Kontrolle, Reflexion und Bewertung von Lernhandlungen ist das Lernen des Lernens im Unterricht nicht zu realisieren.“[30]

Weiteres ist für die neue Lernkultur die verstärke Hinwendung zu komplexen, alltagsnahen Aufgaben charakteristisch. Ausgehend von konstruktivistischen Lerntheorien versucht man authentische Lernsituationen mit vielfältigen Kontexten zu schaffen, bei denen die Kinder nicht von dem Lehrer didaktisch aufbereitetes Wissen übernehmen, sondern ihre eigenen Erfahrungen sammeln und aus ihnen lernen, indem sie die gewonnenen Eindrücke auswerten, reflektieren, verallgemeinern und darstellen.[31] Das Lernen erfolgt auf solche Weise in vollständigen Lernakten und nicht als kleinschrittiger Wissenserwerb.[32]

Solche Herangehensweise an das Lernen fand ihren Ausdruck vor allem in der Lernprojektmethode.[33] Projekte sollen nach der Initiative der Schüler entstehen und lebensnahe, für die Kinder relevante, häufig auch gesellschaftlich relevante Themen behandeln. In der Regel setzt die Projektarbeit voraus, dass die Schüler den Verlauf des Projekts (möglichst) selbständig planen, notwendige Materialien beschaffen, weitere Arbeiten organisieren und durchführen, Ergebnisse darstellen und vorstellen, erstellte Produkte sowie auch Arbeitsprozesse beurteilen und bewerten.[34] Bei solcher Arbeit werden alle Sinne, ganz unterschiedliche Fähigkeiten und Persönlichkeitsseiten der Schüler angesprochen, Verbindungen mit unterschiedlichen Lebenssphären werden herstellt und genutzt, unterschiedliche Produkte können entstehen - man kann also sagen, dass es hier ein ganzheitliches Lernen stattfindet, welches die Ausbildung bzw. Entwicklung solcher Kompetenzen ermöglicht, die den Kindern in der Zukunft sowohl zur Bewältigung beruflicher Anforderungen als auch zur Gestaltung ihres Lebens insgesamt in Übereinstimmung mit eigenen Vorstellungen und Erwartungen der Gesellschaft verhelfen.

Es ist allerdings erwünscht, dass ganzheitliches und erfahrungsbezogenes Lernen nicht nur bei Projekten, sondern auch in dem sogenannten Fachunterricht Anwendung findet.

Das Kernelement der neuen Lernkultur ist aber die Demokratisierung der Lernorganisation.[35] Demokratisierung im Rahmen der neuen Lernkultur muss man anders, viel breiter verstehen, als dies in mehreren Schulen praktiziert wird – lediglich als Teilnahme der Schüler (häufig leider nur angebliche) an der Verwaltung der Schule oder Klasse, d.h. nur in außerunterrichtlichen Bereichen ist Mitbestimmung der Kinder zugelassen. Demokratisierung muss sich auf den Lernprozess erstrecken. Dies bedeutet, dass die Schüler sich am Entscheidungstreffen auf allen Etappen des Lernprozesses, beginnend von der Planung bis zur Auswertung der Ergebnisse beteiligen dürfen.[36] Hier geht es aber nicht nur um individuelle Entscheidungsfreiheit, sondern auch um Übernahme der Verantwortung.[37] Eine wesentliche Bedeutung kommt außerdem der Erziehung zum sozialen demokratischen Handeln zu.[38] Bei demokratisch organisierten Lernprozessen lernen die Kinder, die Meinung und Interessen der anderen zu akzeptieren, Kompromisse zu schließen, auf gemeinsames Ziel und gemeinsamen Erfolg hinzuarbeiten, kooperativ zu handeln. Sie erfahren den Wert der Solidarität, der gegenseitigen Hilfe. Die Schüler können von einander lernen. Es ist prinzipiell anders, als bei herkömmlicher Organisation des Lernens, bei der die Konkurrenz eine bedeutende Rolle spielt.

In Anbetracht dessen, dass das Lernen im Kontext der neuen Lernkultur Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern in allen Phasen der Lernprozesse voraussetzt, erweist sich als unerlässlich, dass die Schüler ihre Meinungen, Gedanken und Vorstellungen offen aussagen können. Dies ist aber kaum möglich, wenn die Lehrer hauptsächlich als Träger und Vermittler des Wissens, als Kontrolleure und Beurteiler auftreten. Für eine tatsächliche Demokratisierung der Lernorganisation ist es deshalb nicht zuletzt wichtig, dass die Lehrer ihre Position in den Verhältnissen zu den Schülern umdenken und sich auf die Rolle des Beraters, Begleiters, in vielen Fällen Zuhörers, Dialogpartners einstellen.

Als einen weiteren Moment der Demokratisierung kann man betrachten, dass die Schule sich der äußeren Lebenswelt öffnet.[39] Das passiert z.B. bei Durchführung und Präsentation der Projekte, wenn Probleme der Umwelt zum Thema eines Projekts werden. Aber nicht nur Ergebnisse der Projekte, sondern durchaus auch alle anderen Leistungen der Kinder und der Schule insgesamt können der Öffentlichkeit zugänglich sein. Dass die Eltern und andere Personen in die Bildungs- und Erziehungsprozesse der Schule miteinbezogen werden können ist für die neue Lernkultur charakteristisch.

Es ist also deutlich, dass Demokratisierung der Lernorganisation einen unentbehrlichen Bestandteil der neuen Lernkultur darstellt. Nur unter Bedingung, dass Lernprozesse demokratisch organisiert sind, kann das Lernen ganzheitlich, eigenverantwortlich und selbstgesteuert, aber auch solidarisch sein. Solche Art der Organisation des Lernens ermöglicht einen großen Lerneffekt und bereitet die Kinder auf die Erfüllung ihrer bürgerlichen Pflichten und Rechte in der demokratischen Gesellschaft vor.

1.3. Zusammenfassung

Es bedarf heutzutage eines Umdenkens des Lehrens und Lernens in die Richtung der neuen Lernkultur, die sich durch viele Merkmale von der etablierten Lernkultur unterscheidet. Die neue Lernkultur ist vor allem durch Demokratisierung der Lernorganisation geprägt, die die Realisierung der anderen wichtigen Prinzipien, nämlich hohe Selbständigkeit der Lernenden, Lernprozessorientierung, Lernen in komplexen Situationen, ermöglicht.

2. Leistungsverständnis und Umgang mit Leistungen

Leistungserbringung, -feststellung, -beurteilung und -bewertung gehören zum Alltag des schulischen Lebens. Es stellt sich aber die Frage, was unter Leistung in der Schule zu verstehen ist und wie man mit Leistungen der Kinder im Kontext der neuen Lernkultur umgehen muss. Dieser Frage wird im folgenden Kapitel nachgegangen. Zuerst wird geklärt, was unter dem Begriff ´Leistung` insgesamt verstanden wird und wie sich dieser Begriff auf die Leistungen der Kinder beim Lernen bezieht, in welchem Zusammenhang das gesellschaftliche und das schulische Leistungsverständnis stehen. Es wird ausgeführt, warum das gesellschaftliche Leistungsprinzip sich nicht für die Schule und Bildung eignet und welche Veränderungen das tradierte schulische Leistungsverständnis in Anbetracht dessen und unter Berücksichtigung neuer Forderungen an das Lernen und Lehren benötigt. Dann werden ausgehend von dem neu gedachten Leistungsverständnis, das pädagogisch begründet und entsprechend den Forderungen der neuen Lernkultur erweitert ist, die Dimensionen des modernen Umgangs mit Leistungen dargestellt.

2.1. Zum Begriff der Leistung

Es ist zuerst zu klären, was man unter dem Begriff ´Leistung` insgesamt versteht.

Das Neue Deutsche Wörterbuch von Karl-Heinz Göttert definiert das Wort Leistung als das Ergebnis einer Arbeit, Verdienst, Werk, Tat (vgl. dies. 2008, S. 529). In Physik wird als Leistung die Arbeit per Zeiteinheit bezeichnet.[40] Das Wort Leistungen wird außerdem in der Bedeutung „Bestandteile des Lohns oder Gehalts, die nicht ausgezahlt, sondern vom Arbeitgeber für den Arbeitnehmer angelegt werden“[41] verwendet. Wenn man daran denkt, was man in unserer Gesellschaft hauptsächlich unter Leistungen versteht, drückt, wahrscheinlich, die erste Definition, nämlich die Leistung als das Ergebnis einer Arbeit, dieses Verständnis am besten aus.

Im pädagogischen Lexikon von Rene Gumnich ist folgende Definition des Begriffes ´Leistung` zu finden (vgl. dies. 2003, S. 72): „Allgemeine Bezeichnung für das erfolgreiche Erreichen eines Ziels bzw. für das erfolgreiche Lösen von Aufgaben (z.B. bei Tests).“

[...]


[1] Vgl. Winter, Felix: Leistungsbewertung. Eine neue Lernkultur braucht einen anderen Umgang mit den Schülerleistungen. 2010, S. 6ff.

[2] Vgl. ebd., S. 30

[3] Hecker, Ulrich: Vom Wert der Mühe – gesammelte Lernspuren im Portfolio. In: Bartnitzky, Horst / Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Leistungen der Kinder wahrnehmen – würdigen – fördern. 2004, S. 91

[4] Vgl. GG, Art.3, Abs.3 zit. n.: Schwartz, Erwin: Leistung, Leistungsmessung und Grundschulreform. In: Bartnitzky, Horst (Hrsg.): Pädagogische Leistungskultur: Materialien für Klasse 1 und 2. Beiträge zum pädagogischen Leistungsbegriff. 2005, S. 26

[5] Vgl. ebd., Art. 2, Abs. 1 zit. n.: ebd., S. 29

[6] Vgl. Schwartz, Erwin: Leistung, Leistungsmessung und Grundschulreform. In: Bartnitzky, Horst (Hrsg.): Pädagogische Leistungskultur: materialien für Klasse 1 und 2.Beiträge zum pädagogischen Leistungsbegriff. 2005, S. 29f

[7] Vgl. Bartnitzky, Horst: Die pädagogische Leistungskultur – eine Positionsbestimmung. In: Bartnitzky, Horst / Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Leistungen der Kinder wahrnehmen – würdigen – fördern. 2004, S. 27

[8] Böttcher, Wolfgang / Brosch, Ulrich / Schneider-Petri, Henricke (Hrsg.): Leistungsbewertung in der Grundschule. 1999, S. 11

[9] Bartnitzky, Horst: Die pädagogische Leistungskultur – eine Positionsbestimmung. In: Bartnitzky, Horst / Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Leistungen der Kinder wahrnehmen – würdigen – fördern. 2004, S. 29

[10] Vgl. Winter, Felix: Leistungsbewertung. 2010, S. 5

[11] Vgl. Sindler, Alexandra: Etablierung einer neuen Lernkultur. Modelle medienbasierter Lernarrangements zur Förderung selbstregulierten Lernens im Kontext der Organisation. 2004, S. 89

[12] Vgl. ebd., S. 14ff

[13] Vgl. Stadler-Altmann, Ulrike / Schindele, Jürgen / Schraut, Alban (Hrsg.): Neue Lernkultur – neue Leistungskultur. 2008, S. 22

[14] Vgl. Sindler, Alexandra: Etablierung einer neuen Lernkultur. 2004, S.89

[15] Vgl. ebd., S. 89

[16] Vgl. Stadler-Altmann, Ulrike / Schindele, Jürgen / Schraut, Alban (Hrsg.): Neue Lernkultur – neue Leistungskultur. 2008, S. 21

[17] Vgl. Sindler, Alexandra: Etablierung einer neuen Lernkultur. 2004, S. 91

[18] Vgl.ebd., S. 89

[19] Vgl. ebd., S. 89

[20] Vgl. ebd., S. 91

[21] Vgl. Winter, Felix: Leistungsbewertung. 2010, S. 6

[22] Vgl. Jürgens, Eiko/Sacher, Werner: Leistungserziehung und pädagogische Diagnostik in der Schule. 2008, S. 17

[23] Vgl. Winter, Felix: Leistungsbewertung. 2010, S. 9

[24] Vgl. ebd., S. 9

[25] Vgl. Winter, Felix: Leistungsbewertung. 2010, S. 12

[26] Vgl. ebd., S.11

[27] Ebd., S. 12

[28] Vgl. ebd., S. 12

[29] Vgl. ebd., S. 13

[30] Ebd., S. 14

[31] Vgl. Winter, Felix: Leistungsbewertung. 2010, S. 17

[32] Vgl. ebd., S. 17

[33] Vgl. ebd., S. 18

[34] Vgl. Gasser, Peter: Neue Lernkultur. Eine integrative Didaktik. 2008, S. 118

[35] Vgl. Winter, Felix: Leistungsbewertung. 2010, S. 23

[36] Vgl. Winter, Felix: Leistungsbewertung. 2010, S. 21

[37] Vgl. ebd., S. 22

[38] Vgl. ebd., S. 22

[39] Vgl. ebd., S. 22

[40] Vgl. Göttert, Karl-Heinz: Neues Deutsches Wörterbuch. 2008, S. 529

[41] Ebd. S. 529

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Details

Title
Neue Lern- und Leistungskultur in der Grundschule
Subtitle
Alternative Formen des Umgangs mit Schülerleistungen
College
University of Paderborn
Grade
2,3
Author
Year
2012
Pages
62
Catalog Number
V195850
ISBN (eBook)
9783656217572
ISBN (Book)
9783656218173
File size
696 KB
Language
German
Keywords
Leistungsfeststellung;, neue Lernkultur, pädagogisches Leistungsverständnis, Leistungsbeurteilung
Quote paper
Nina Danilevski (Author), 2012, Neue Lern- und Leistungskultur in der Grundschule, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/195850

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