Zwischen Heilung und Wahnsinn: Potentielle Dichter in den frühen Romanen Vladimir Nabokovs


Masterarbeit, 2012

91 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Der Exilautor Vladimir Nabokov in Berlin:
kulturellhistorische Hintergründe
1.1 Das Leben an einem Ort des „Zwischen“
1.2 Vladimir Nabokov und die Literatur des Zwischenraums
1.3 Exilautor Vladimir Nabokov: von der Lyrik hin zur Prosa
1.4 Der Exilschauplatz Berlin

2. Die Dichterfiguren in den frühen Romanen Vladimir Nabokovs
2.1 Nabokovs potentielle Dichter
2.2 Der Dichter und der Wahnsinnige bei Nabokov

3. Potentielle Dichter zwischen Heilung und Wahnsinn
3.1 Der geheilte Dichter im Debütroman Mašen’ka
3.1.1 Die Gegenwart unter dem Zeichen des Wahnsinns
3.1.2 Die Heilung durch die Kunst der Erinnerung
3.2 Der Wahnsinn und der Tod durch die Kunst in Zaščita Lužina
3.2.1 Der Schachspieler als potentieller Dichter
3.2.2 Zwischen Schachwelt und Realität: dvoemirie in Zaščita Lužina
3.2.3 Die unheilvolle Macht der Erinnerung
3.3 Das Duell zwischen dem wahren und dem falschen Dichter im Roman Otčajanie.
3.3.1 Das Verbrechen als ein quasi-poetischer Akt
3.3.2 Das ästhetische Scheitern an der Verkennung der Realität
3.3.3 Der Kampf zwischen dem wahren und dem falschen Dichter

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Vertiefung in das Wesen eines Dichters bzw. die Erforschung des künstlerischen Schaffensprozesses zählen laut vielen Literaturforschern zu den Hauptthemen nicht nur in den russischsprachigen Frühromanen Vladimir Nabokovs, sondern in seinem gesamten Œuvre. Fast alle Werke des Autors stellen Künstler als Erzähler oder Protagonisten vor und thematisieren den Kontrast zwischen Banalität, Inspiration und ästhetischem Empfinden sowie das Nebeneinander zweier Welten. All diese Aspekte finden in den Forschungsarbeiten von Brian Boyd, Renate Lachmann, Aleksandr Dolinin, Sergej Davydov u.a. große Beachtung. Die vorliegende Masterarbeit greift deshalb im Wesentlichen auf diese Forschungsansätze zurück. Als unverzichtbar für die bestehende Romananalyse erwiesen sich zudem Vladimir Nabokovs poetologischer Essay The Art of Literature and Commonsense, entstanden im Rahmen einer Vorlesungsreihe zur Geschichte der Weltliteratur sowie seine Autobiografie Speak, Memory. Herangezogen für die Analyse werden außerdem zahlreiche Kritiken und Forschungsarbeiten der zeitgenössischen Exilautoren wie Gleb Struve, Vladislav Chodasevič und Georgij Adamovič.

Weil die Entstehung der Frühromane Vladimir Nabokovs auf seine entbehrungsreiche Zeit im Berliner Exil zurückzuführen ist, kann ihre Analyse nicht ohne eine ausführliche Betrachtung jener kulturellhistorischen Hintergründe erfolgen, die für die Entwicklung der schriftstellerischen Karriere des Autors zweifelsfrei von großer Bedeutung sind. Die Schilderungen von Verlust und kultureller Spaltung, von Einsamkeit und Identitätssuche nehmen in einem Großteil seiner in Berlin spielenden Geschichten aus den zwanziger und dreißiger Jahren einen zentralen Platz ein. Unter anderem wird darin auch die Suche des Schriftstellers nach eigener Selbstbestimmung im kulturellen und psychischen Zwischenraum des Berliner Exils thematisiert. Nicht zufällig rückt Nabokov in fast allen seinen Werken Exilkünstler in den Mittelpunkt, die es fortdauernd versuchen, durch die Schaffung fiktiver Welten dem sinnlosen Exilalltag zu entkommen. In der konstruierten Figur des Exilkünstlers werden zwei signifikante Lebenssphären, das Exil und die Kunst, aneinandergeknüpft. Dabei fällt auf, dass der Künstler und der Emigrant bei Nabokov ähnliche Züge besitzen: beide sind einsame, oft labile und sich abschottende Figuren der Peripherie.

Drei russische Romane Nabokovs, welchen sich diese Arbeit widmet, Mašen’ka (1925), Zaščita Lužina (1930) und Otčajanie (1932), spielen im Berlin der zwanziger Jahre. Ohne Ausnahmen dominieren darin russische Emigranten als künstlerisch begabte Charaktere. Jede männliche Hauptfigur – sei es Ganin in Mašen‘ka, Lužin in Zaščita Lužina oder German in Otčajanie – verfügt über ein dichterisches Potential, das im jeweiligen Kunstwerk realisiert werden könnte. Doch obwohl das Leben des Dichters und das künstlerische Schaffen das Thema fast aller Werke von Nabokov sind, verkörpern die oben genannten Romanfiguren keine souveränen Literaten wie zum Beispiel Fëdor Godunov-Čerdyncev aus dem späteren Roman Dar. In den zur Analyse ausgesuchten Romanen versteckt der Autor seine noch ungeformten Dichter[1] hinter den Masken eines jungen Filmstatisten, eines verschrobenen Schachspielers sowie eines egozentrischen Schokoladenfabrikbesitzers. Die Aufgabe der Masterarbeit besteht zunächst darin, aufzuzeigen, aus welchem Grund Nabokov seine potentiellen Dichter als „banale“, der Kunst (zumindest auf den ersten Blick) ferne Charaktere tarnt und sie obendrauf der Gefahr aussetzt, im Romanverlauf wahnsinnig zu werden. Eine weitere Frage richtet sich auf die Realisierbarkeit des dichterischen Potentials, das den Figuren zugesprochen werden kann.

Die These, die auf beide oben angeführten Problemstellungen Bezug nimmt, ist folgende: geistige Gesundung und ästhetische Erfüllung der zur Analyse ausgesuchten Dichterfiguren hängen mit der Stabilität ihrer Verankerung in der alltäglichen Realität zusammen. Dabei ist zu beachten, dass alle drei Charaktere auf den Wunsch des Autors „defekt“ sind: sie verweigern sich dem realen Leben und flüchten in ihre alternativ erschaffenen Parallelwelten, um darin nach Erfüllung und Heilung zu suchen. Solange die Anbindung an beide Sphären – das Imaginäre der Kunst und das Alltägliche der Realität – besteht, kann der ansetzende Realitätsverlust bzw. Wahnsinn rechtzeitig abgewendet, und das dichterische Potential realisiert werden wie im Fall von Lev Ganin in Mašen’ka. Gleitet die Figur dagegen völlig in ihre imaginierte Welt der Kunst über, geht ihr Bezug zur Realität verloren. Die Rückkehr zum Alltag schlägt meistens fehl, worauf sich die dichterische Gabe in einen zerstörerischen Mechanismus verwandelt, der entweder zum ästhetischen Scheitern (German) oder dem Wahn mit Todesfolge (Lužin) führt.

Mit Blick auf die angeführten Überlegungen bietet es sich an, die Masterarbeit folgendermaßen aufzubauen: im theoretischen Teil werden die kulturellhistorischen Hintergründe beleuchtet, die für die Entwicklung der schriftstellerischen Karriere Vladimir Nabokovs, aber auch für eine reflektierte Analyse seiner Werke von großer Bedeutung sind. Der praktische Teil der vorliegenden Masterarbeit ist der Bestätigung der oben formulierten These gewidmet. Es wird darin ausführlich auf drei potentielle Dichterfiguren eingegangen, die zwischen Heilung und Wahnsinn wanken. Zunächst befasst sich die Analyse mit dem geheilten Dichter Ganin in Nabokovs Debütroman Mašen’ka; danach werden der Wahnsinn und der Tod durch die Kunst in Zaščita Lužina und, zuletzt, der ästhetische Krach des schreibenden Verbrechers German in Otčajanie analysiert. Die Ergebnisse der durchgeführten Analyse werden im Schlussteil zusammengefasst.

1. Der Exilautor Vladimir Nabokov in Berlin:
kulturellhistorische Hintergründe

1.1 Das Leben an einem Ort des „Zwischen“

Als Reaktion auf Weltkrieg, Revolutionen, Bürgerkrieg und Vertreibung setzte Anfang des 20. Jahrhunderts ein beispielloser Exodus von Menschen verschiedenster Schichten und Überzeugungen ein, welche in der Folge viele Städte Mittel- und Westeuropas (Berlin, Paris, Prag u.a.) zu den Zentren einer russischen Auslandskultur machten. Flüchtlingsmassen aus Russland verteilten sich außerdem auf zahlreiche Städte in Nord- und Südamerika, sowie Asien. Gleb Struve schreibt, es habe fast keinen Ort auf der Erde ohne russische Emigranten gegeben.[2]

Die Ereignisse der Zwischenkriegszeit in Sowjetrussland hatten auch im Hinblick auf die russische Literatur ihre Spuren hinterlassen: zu Beginn der 1920er Jahre vollzog sich ihre Spaltung zwischen Mutterland und Exil. Unter den Millionen, die das kommunistische Russland in drei großen Emigrationswellen verließen, war ein beträchtlicher Anteil der kulturellen, geistigen und literarischen Elite des Landes vertreten, die im europäischen Ausland wenn nicht unbedingt eine neue Heimat, so doch eine vorübergehende Zuflucht fand und allmählich „ein Russland jenseits der Grenzen Russlands“ (zarubežnaja Rossija)[3] bildete.

Im Exil angekommen, fanden sich viele Exilautoren in einer äußerst schwierigen Lage wieder. Nach der systematischen Verfolgung und Diffamierung in ihrer östlichen Heimat wurden sie in den westlichen Kulturkreisen nun sprachlich und kulturell zunehmend isoliert.[4] Trotz dieser negativen Erfahrungen setzte sich ihr Schaffen im europäischen Ausland fort, jüngere Autoren wie Vladimir Nabokov entfalteten sich dort erst richtig. Diesem Umstand ist es wohl zu verdanken, dass die Literatur im Exil paradoxerweise gerade zu dem Zeitpunkt ihre Blüte erlebte, als es politisch und wirtschaftlich unaufhaltsam bergab zu gehen schien und heftige Diskussionen um ihre Legitimation aufbrachen.

Gegen Mitte der 1920er Jahre kann man von einem für die Exilsituation typischen Wendepunkt im Selbstverständnis der Emigranten sprechen: die Überzeugung, das Exil sei eine vorübergehende Erscheinung, machte der Resignation Platz, sich auf Dauer in der Fremde einrichten zu müssen.[5] Hinzu kam die Verschlechterung der gesellschaftlichen, ökonomischen und nicht zuletzt emotionalen Lage der Emigranten. Vor diesem Hintergrund keimte ein zunehmender Generationskonflikt zwischen den älteren und den jüngeren Vertretern[6] der russischen Exilgemeinden auf. Während der älteren Generation die Erinnerung an Russland und die Bemühungen um seine Wiederherstellung heilig waren und sie auf die Rettung der russischen Kultur hofften, sahen sich die jungen, unbekannten Exilautoren mit der Isolation in einem fremden Sprachraum und dem Verlust materieller Grundlagen konfrontiert.[7]

Die Unterschiede und somit auch die Konflikte lagen jedoch viel tiefer. So war die ältere Generation der Kultur und dem Kult der Heimat verhaftet und fasste die Bemühungen der jüngeren Autoren um eigene Identität geradezu als Verrat an den russischen literarischen Traditionen auf. Die jüngere Generation fühlte sich dagegen in ihren Entfaltungsmöglichkeiten behindert und glaubte zudem, unter einem viel stärkeren Anpassungsdruck zu stehen, als die Älteren. Laut Anatolij Afanas’ev verstand sich die emigrierte Jugend in den 20er Jahren als die „unbemerkte Generation“ (nezamečennoe pokolenie).[8] Zudem flammte in den 30er Jahren eine erbitterte Debatte um die Frage auf, ob eine russische Literatur fern der Heimat überhaupt möglich sei und wie diese auszusehen habe. Prominenteste Teilnehmer dieser Debatten waren Georgij Adamovič und Vladislav Chodasevič.

Dies alles – die große Zahl der Flüchtlinge, ihre heterogene Zusammensetzung, die unterschiedlichen Wege und die verschiedenen individuellen Motivationen – macht aus der Emigration ein komplexes Phänomen, ein „Konglomerat von Einzelschicksalen“[9], zwischen denen sich jedoch viele Berührungspunkte ergeben, betont Ulrike Goldschweer. So sei es möglich, von Tendenzen, Strömungen und Stimmungen zu sprechen, ohne dabei den Einzelnen und sein Schicksal aus dem Blick zu verlieren. Der nächste Arbeitsschritt soll deshalb mit Blick auf Nabokovs Leben unter den Bedingungen des Berliner Exils erfolgen. Das Ziel ist, anhand seiner Romanfiguren aufzuzeigen, dass die Frühwerke des Autors von dem fortlaufenden Versuch einer Selbstbestimmung im kulturellen und psychischen Zwischenraum des Berliner Exils zeugen.

1.2 Vladimir Nabokov und die Literatur des Zwischenraums

Im Exil zu leben bedeutete für viele Vertriebene, einen fast unmöglichen Spagat zwischen zwei Realitäten bzw. zwei Mentalitäten zu schaffen: derjenigen des Mutterlandes und der des Gastlandes. Laut Ulrike Goldschweer war das Grenzbewusstsein der russischen Emigrantenkultur im Exil stark erhöht. Das äußerte sich vor allem im Bestreben der Exilautoren, das Exil als einen Zwischenort – zwischen den Nationalitäten, zwischen Leben und Tod, Materialismus und Idealismus – zu verstehen. Dabei seien diese Grenzen nicht nur im Bewusstsein und Verhalten der russischen Emigrantenautoren wie Vladimir Nabokov nachzuweisen, sondern auch auf der Motivebene ihrer literarischen Texte.[10]

Aleksandr Dolinin hebt an dieser Stelle insbesondere das existenzielle Dilemma der jüngeren Generation der Exilautoren hervor, die in Folge von Vertreibung gleichzeitig in zwei parallelen Realitäten existierte: „der aktuellen, aber fremden, und der imaginären, aber eigenen“.[11] Vladimir Nabokov, der in Sankt-Petersburg eine glückliche Jugend erlebte und sein Debüt als Lyriker bzw. als angehender Schriftsteller im Berliner Exil hatte, wird diese Spaltung sicherlich nachempfunden haben.

Auf den stark ausgeprägten gegensätzlichen Charakter der Exilliteratur verweist in ihrer Arbeit auch Anja Pülsch:

Emigrantenliteratur steht im Zeichen des Übergangs vom alten zum neuen Ich, von der Vergangenheit zur Gegenwart sowie vom Eigenen zum Fremden. Sie trägt diese Gegensätze in sich und macht sie fruchtbar.[12]

Um den Zwischenraum, in dem sich Exilliteratur entfaltet, begrifflich zu machen, greift Pülsch auf das Freudsche Konzept des Unheimlichen zurück. Demnach handelt es sich um einen psychischen Zustand zwischen dem „verlorenen Heimlichen und einer kulturellen Wiederverortung“.[13] Literarisch äußere sich diese Spaltung in der Produktion textueller Doppelgänger sowie einer Verdoppelung der Zeit und des Ortes.

Diese von Pülsch angeführten Aspekte lassen sich an den drei für die Analyse ausgesuchten Romanen Nabokovs festmachen. Die Figur des jungen russischen Exilanten Lev Ganin im Roman Mašen’ka, den Aleksandr Dolinin als „Alter Ego“[14] des Schriftstellers Nabokov bezeichnet, konnte vom Autor als die perfekte Projektionsfläche für eigene Identitätssuche genützt werden, um die schmerzhaften Erfahrungen von Verlust und kultureller Entwurzelung zu verarbeiten und auf diese Weise einer drohenden Identitätskrise zu entkommen. Wie durch eine Folie schimmert in Mašen’ka das erinnerte Russland durch das irreal anmutende Exil hindurch. Analog dazu überlagern sich zwei Zeitebenen: die Zeit- und Raumstruktur sowohl in Mašen’ka als auch in Zaščita Lužina sind durch zwei gegensätzliche zeitliche und räumliche Sphären gekennzeichnet, die nicht nur eng miteinander verbunden sind, sondern in einem bemerkenswerten Verhältnis zueinander stehen. In Mašen’ka sind es die Gegenwart und die Vergangenheit des 25-jährigen Lev Ganin, die miteinander verquickt sind; in Zaščita Lužina die Spaltung des Raums zwischen dem realen und dem des Schachspiels. In Otčajanie liegt zwar keine Verdopplung der Zeit bzw. des Ortes vor, dafür taucht dort ein (vermeintlicher) Doppelgänger auf, mit dessen Hilfe der potentielle Dichter German das eigene Ich zu definieren versucht. Und letztlich dient in allen drei Romanen primär Berlin als Schauplatz des Geschehens, wobei die Realien der Stadt Nabokov als Folie für den eigenen künstlerischen Schaffensprozess dienen.

Pülschs theoretische Erfassung von Exil und Emigration als Grenzüberschreitung von einer Kultur in die andere setzt die Abgrenzung des Fremden gegenüber dem Eigenen voraus, was nicht selten zu einer Identitätskrise führen könne.[15] In Konfrontation mit der fremden Umgebung und Kultur sei jeder Exilant gezwungen, sich neu zu bestimmen und seine Identität immer wieder aufs neue zu hinterfragen, so Pülsch. Die erforderliche Neuorientierung bewege sich grundsätzlich zwischen drei Polen: der Identifikation mit dem Status des Exilanten, der Integration in die andere Gesellschaft und der Nostalgie. Der Mangel einer festen Position im sozialen Gefüge und die häufig unüberwindbare Distanz zu Einheimischen führen dazu, dass der Exilant auf sich selbst zurückgeworfen werde, erklärt Pülsch. Ihr Fazit ist, dass die Narration des Exils eine identitäts- und sinnstiftende Funktion erhält:

Für die aus der Erfahrung des Exils entstehende Literatur ergibt sich demnach folgendes Muster: Aus der Realität des Verlustes soll eine neue Identität gewonnen werden, und zwar mit Hilfe eines narrativen Selbstentwurfes.[16]

In einem dynamischen Prozess der Auseinandersetzung mit diesem Phänomen werde das Eigene jedoch auf das Fremde projiziert, die Kategorien des Eigenen und des Fremden überlagern sich entsprechend, und gerade im Spannungsfeld dieser Prozesse entstehe die Literatur des Exils, schlussfolgert Pülsch.[17]

Von einer „self-definition through language“ im literarischen Werk des Exils bei Vladimir Nabokov spricht David M. Bethea, indem er schreibt:

To cite the example of Nabokov, the émigré who at some point ceases to be an displaced person and becomes a genuine artist in exile is the one whose rodina is metaphysical <…> and temporal <…> rather than physical and actual. <…> These rodina is the absence that all men feel, but the exiled artist fills with the presence of words.[18]

Aufgrund all dieser Überlegungen lässt sich feststellen, dass Nabokovs frühere Prosa von dem fortlaufenden Versuch einer Selbstbestimmung im kulturellen und psychischen Zwischenraum des Berliner Exils zeugt. Sie ist zugleich auch das Produkt dieses Zwischenraums, zumal der Autor erst nach der Emigration Schriftsteller geworden ist. Nabokovs russischsprachiges Werk soll deshalb weitgehend vor dem Hintergrund seiner realen Erfahrungen im Berliner Exil gelesen werden, die darin thematisiert werden.

1.3 Exilautor Vladimir Nabokov: von der Lyrik hin zur Prosa

Nach den Ereignissen der Oktoberrevolution konnten die Nabokovs nicht länger in der russischen Hauptstadt bleiben. Familienoberhaupt Vladimir Dmitrievič Nabokov, der unter dem Zaren ein wichtiger Jurist, liberaler Politiker und Journalist war, musste im Angesicht der drohenden Verhaftung seine Angehörigen in Sicherheit bringen. Der systematische Terror hatte zwar noch nicht begonnen, doch die Gefahr des drohenden revolutionären Hasses war bereits deutlich zu spüren.

Im November 1917 verbrachte der zwanzigjährige Vladimir Nabokov seinen letzten Tag in Petersburg. Danach hielt sich die Familie zunächst auf der Krim auf, wo Geldnöte und das Gefühl von absoluter Hilfslosigkeit die Familie quälten:

Meanwhile, the life of my family had completely changed. Except for a few jewels astutely buried in the normal feeling of a talcum powder container, we were absolutely ruined. <...> and we were subjected to the preposterous and humiliating sense of utter insecurity.[19]

Etwa zwei Jahre später hat Vladimir Nabokov Russland für immer verlassen müssen. Dadurch verlor er nicht nur sein Elternhaus und seine Heimat, sondern musste erleben, wie sich ein ganzer kultureller Mikrokosmos, dessen Teil er war, auflöste. Über Konstantinopel gelangten die Nabokovs nach London, wo der mittlerweile 20-jährige Vladimir sein Studium am Trinity College in Cambridge beginnen konnte, bevor er 1922 nach Berlin übersiedelte. Etwa zur selben Zeit fing das russische Berlin an, sich zu einer „kulturellen Supernova“[20] zu entwickeln.

Ab der Mitte der zwanziger Jahre beginnt Nabokov, sich in den literarischen Kreisen Berlins zu bewegen und seine schriftstellerische Karriere zu entwickeln. Im Januar 1921 macht er sich einen literarischen Namen, indem er in der Berliner Exilzeitschrift Rul‘ drei Gedichte und eine Erzählung unter dem Pseudonym „V. Sirin“ veröffentlicht. Darauf folgen die Gedichtbände Gornij put‘ und Grozd‘ (beide 1923). Das Pseudonym „Sirin“ sollte Nabokov während seiner ganzen Karriere als russischer Autor in Europa beibehalten. Den Großteil seines gesamten russischen Œuvres zwischen 1920 und 1940 zeichnete er mit diesem Namen. In einem Interview mit Alfred Appel im August 1970 beantwortete Nabokov die Frage nach dem Ursprung des Namens „Sirin“ folgendermaßen:

<...> in der altrussischen Mythologie <...> heißt so ein farbenfreudiger Vogel mit Frauenantlitz und -Busen, der zweifellos identisch ist mit der griechischen ‚Sirene‘, einer göttlichen Seelengeleiterin und Seeleute-Verlockerin. Als ich 1920 nach einem Pseudonym suchte und mich für das Federtier aus der Fabel entschied, hatte ich noch nicht den faulen Zauber der byzantinischen Metaphorik abgeschüttelt, dem junge russische Poeten der Blok-Ära gern erlagen.[21]

Mit seiner Lyrik reagierte der junge Autor auf die Erfahrungen von kultureller Spaltung, Verlust und Abwesenheit und versuchte, den Identifikations-schwierigkeiten und dem Gefühl emotionaler Zersplitterung künstlerisch entgegenzuwirken.

Die frühen Gedichte Nabokovs aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre sind jedoch Produkte des klassischen, fast archaischen Stils, die keinerlei Spuren moderner avantgardistischer Strömungen aufweisen.[22] Zeitgenössische Kritiker (Aleksandr Bachrach, Gleb Struve, Vera Lur’je u.a.) warfen Nabokov deswegen vor, er kolportiere Klischees der Lyrik des 19. Jahrhunderts, und sprachen ihm jegliche Originalität seiner poetischen Werke ab.[23]

Ein anderer Literaturforscher, Aleksandr Dolinin, nimmt nun, etwa 75 Jahre später, den jungen Nabokov in Schutz. Um dessen künstlerische Entwicklung besser verstehen und verfolgen zu können, müsse man berücksichtigen, dass diese relativ zurückgeblieben, fast marginal gewesen sei. Die Ursachen hiefür sieht Dolinin nicht zuletzt darin, dass das künstlerische Schaffen Nabokovs erst im Exil anfing und zunächst außerhalb jeglicher Literaturkreise existierte. Gerade diese Umstände aber hätten bei Nabokov dazu beigetragen, einen distanzierten, retrospektiven Blick auf die russische Moderne beibehalten und mit ihren Erfahrungen bewusst wählerisch umgehen zu können, betont Dolinin.

In seinen ersten Jahren als Dichter war der junge Nabokov einer doppelten Herausforderung ausgesetzt: wie alle Symbolisten strebte er einerseits danach, seine Dichtung ins Unendliche zu öffnen; gleichzeitig hatte er sich aber auch mit der „avantgardistischen Formzertrümmerung“ und einer „Rückkehr zur konkreten, sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit“[24] auseinanderzusetzen, die Vertreter des Akmeismus, des Futurismus und anderer avantgardistischer Strömungen propagierten. Als Antwort auf diese Herausforderung verzichtete Nabokov gezielt darauf, an einer „Demontage der Kunst“[25] und ihrer Überführung in Lebenspraxis im Sinne der frühen Avantgarde teilzunehmen. Stattdessen experimentierte er weiter an seinem eigenen literarischen Stil und versuchte, „den Mechanismus zu erneuern, statt ihn zu zerstören“.[26]

In wenigen Jahren verschob sich der Schwerpunkt von Nabokovs Schreiben von der Lyrik, die ihm keine Anerkennung gebracht hatte, hin zur Prosa. Als angehender Schriftsteller bewegte sich Nabokov seit der Mitte der zwanziger Jahre innerhalb seines eigenen literarischen Stils, der als Synthese gewisser klassischer, symbolistischer, akmeistischer und sogar futuristischer Züge verstanden werden könnte.[27] Seine Versuche, die künstlerischen Leistungen der frühen russischen Moderne in eine neue Richtung überzuleiten, finden in den neuartigen Hybridgebilden ihren Ausdruck, die sowohl die Züge des Künstler- und Entwicklungsromans, der fiktiven Biografie, wie der literarisierten Autobiografie aufweisen.[28]

Jedoch wurden auch diese Versuche zunächst heftig kritisiert:

По-русски так ещё никто не писал <...>, все наши традиции в нем обрываются <...>.[29]

Dieses vernichtende Urteil des Literaturkritikers und Anhängers der sogenannten „Pariser Schule“, Georgij Adamovičs, wurde über die erzählerischen Techniken des jungen Schriftstellers Vladimir Nabokov im Jahr 1929 gefällt. Georgij Adamovič und Vladislav Chodasevič waren die prominentesten Teilnehmer der Diskussion um die Legitimation der russischen Emigrantenliteratur. Beide deuteten die aktuelle Lage als äußerst bedrohlich, wollten der Krise jedoch unterschiedlich begegnen. Für Adamovič war das Fehlen einer einigenden, die Entfremdung überwindenden Strömung entscheidend, Chodasevič machte hingegen die Unbeweglichkeit der älteren Generation und ihre Unfähigkeit, das Potential der Exilsituation künstlerisch zu nützen, verantwortlich.[30]

In Vladimir Nabokov sah Adamovič einen „frivolen, unrussischen Schriftsteller, einen Zauberer ohne Botschaft“[31] und beklagte dessen vermeintliche Respektlosigkeit gegenüber sowohl den literarischen Traditionen als auch den wichtigsten modernistischen Strömungen. Dabei hatte Nabokov nie einen Zweifel gelassen an seinen Ursprüngen in der frühen russischen Moderne bzw. im Symbolismus. So nannte er sich z. B. in einem Brief an den amerikanischen Literaturkritiker Edmund Wilson im Januar 1949 „ein Produkt der Jahre von 1905 bis 1917“:

The ‚decline‘ of Russian literature in 1905-1917 is a Soviet invention. Blok, Bely, Bunin and others wrote their best stuff in those days. And never was poetry so popular – not even in Pushkin’s days. I am a product of this period, I was bred in that atmosphere.[32]

Durch Herkunft und Begabung begünstigt, nahm der junge Nabokov die vielfältigen Anregungen der russischen Fin de siècle – Epoche intensiv auf, las in drei europäischen Literaturen und entdeckte auch die zeitgenössischen Symbolisten.[33] Die dichterische Erfahrung Nabokovs ist auf diesem Weg eine Art Prolog zu seinen Erzählungen und Romanen gewesen. Bereits in den Berliner Gedichten der zwanziger Jahre haben sich jene große Themenkomplexe herauskristallisiert, die später den tragenden Kern von Nabokovs Prosawerken bilden sollten. Hier sind vor allem die Themen des künstlerischen Schaffens und des Bewusstseins (wie detailliertes Erinnern an die Vergangenheit oder hellseherisches Versinken in imaginäre Welten) zu beachten sowie die Themen des dvoemirie.[34]

Die häufige Gegenüberstellung von realer und imaginärer Welt in Nabokovs Berliner Frühwerken spiegelt unmissverständlich den zweigeteilten Charakter der Exilsituation, der sich in verschiedenen Bereichen zeigt, insbesondere aber im „Fehlen einer Gegenwart“[35]: der Emigrant befinde sich in einer ständigen Spannung zwischen der Erinnerung an eine mittlerweile verklärte Vergangenheit, die ihm jedoch eine gewisse Zuflucht von den täglichen Entbehrungen des Exils biete, und der Hoffnung auf eine ungewisse Zukunft, in der alles besser sein würde, betont Robert Williams. Die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der russischen Frühromane von Vladimir Nabokov sollte deshalb vor dem Hintergrund dieser Entwicklung betrachtet werden. Dafür ist ein differenzierter Blick auf seine Beziehung zu Deutschland und vor allem zu Berlin notwendig.

1.4 Der Exilschauplatz Berlin

Anfang der 1920er Jahre lebten etwa 300 000 Russen in Berlin[36], darunter die bedeutendsten unter den russischen Schriftstellern: Maksim Gor’kij, Andrej Belyj, Il’ja Ėrenburg, Marina Cvetaeva, Vladislav Chodasevič und auch der später in den USA zu Weltruhm gelangte Vladimir Nabokov. Berlin hat seine Spuren hinterlassen in einem großen Korpus von Briefen, Memoiren, Autobiografien und Romanen, wobei jeder der genannten Künstler sein eigenes Berlinbild und seine eigene Berlinerfahrung zum Ausdruck zu bringen suchte. Für Andrej Belyj war die Stadt „eine Folie, auf die der Untergang Europas projiziert wurde und die die Rückkehr nach Moskau rechtfertigen sollte“[37] , und Viktor Šklovskij fand in Berlin nicht nur die vorübergehende Zuflucht von den Repressalien der Tscheka, sondern auch „das Experimentierfeld für die neue Prosa“.[38]

Aus welchem Grund auch immer die Russen nach Berlin gekommen waren – in offizieller Mission wie Maksim Gor’kij, geflohen vor der Verfolgung durch die Bolschewiken wie Vladimir Nabokov und Viktor Šklovskij, auf der Suche nach ihren Angehörigen wie Marina Cvetaeva, als Weltreisende der Revolution wie Vladimir Majakovskij und Dmitrij Esenin – sie haben alle die schmerzliche Erfahrung einer Weltspaltung hinnehmen müssen.[39] Für viele russische Autoren wurde die Stadt deshalb zu einer riesigen Projektionsfläche bei der Suche nach der Selbsterkenntnis.

Der amerikanische Exilforscher Marc Raeff schreibt Berlin eine zentrale Rolle im Identitätsbildungsprozess der russischen Emigranten zu: auch wenn Paris und Prag seit Mitte der 20er Jahre zu den aktivsten und wichtigsten russischen Zentren zählten, war Berlin doch

der Ursprungsort, an dem die russische Diaspora begonnen hatte, sich als feste kulturelle und soziale Gemeinde zu organisieren und viele Institutionen und Praktiken zu entwickeln, die es ihr ermöglichten, bis zum Beginn des 2. Weltkrieges als ein ‚Russland jenseits der Grenzen‘ zu bestehen.[40]

Vladimir Nabokovs Beziehungen zu Deutschland und vor allem zu Berlin haben eine lange Forschungsgeschichte hinter sich. Der Schriftsteller lebte nicht nur sehr lange in Berlin (15 Jahre, 1922 bis 1937), sondern hatte durch seine zahlreichen Umzüge[41] wohl auch ein sehr genaues Bild von seiner Umgebung. Dort entstand auch der größte Teil seines russischsprachigen Werks: 8 Romane, 35 Erzählungen, viele Gedichte und Essays. Unschwer lässt sich an Nabokovs Erzählungen und Romanen aus diesen Jahren der Berliner Hintergrund ablesen: „<...> die Stadt war unzweifelhaft der Horizont, in dem seine Figuren Gestalten wurden und agierten“[42], betont Karl Schlögel. Entscheidend bei Nabokov sei aber nicht die Topografie aus Hausnummern, die sich abschreiten lässt, sondern jener genius loci, der Geist des Ortes, den nur jemand kenne, der ganz genau hinsähe, so Schlögel.

Die Forschungslage zum Thema Nabokov und Berlin lässt sich dieser Aussage folgend grob in zwei unterschiedliche Zugangsweisen einteilen. Bei der einen wird ein eher biografisch orientiertes Bild Nabokovs als der „Chronist des russischen Berlins“[43] gezeichnet, wobei die feine Beobachtungsgabe und der Detailreichtum Berliner Texte in den Vordergrund gerückt werden. Doch diese Freude des Autors am Detail erstrecke sich vor allem auf die Beschreibung von Urbanität; die negativen, in vielen Fällen fast gehässigen Züge von Nabokovs Berlinbildern, werden dabei heruntergespielt, betont Ulrike Goldschweer.[44] Sie vertritt einen zweiten, eher textanalytisch orientierten Ansatz, demzufolge zwar ebenfalls die prägende Wirkung der Berliner Jahre auf das literarische Schaffen Nabokovs unterstrichen wird, andererseits jedoch die Schattenhaftigkeit, Unwirklichkeit und Realitätsferne der Berliner Umgebung in den Vordergrund gerückt werden. Die Suggestion der Berliner Realität[45], Zwischenreich und flüchtige Wirklichkeit[46], Schatten des Exils[47] sind typische Titel von Arbeiten, die die Irrealität der Berliner Exilwirklichkeit zum Thema haben. In seiner Autobiografie Speak, Memory hebt Vladimir Nabokov genau diese Transparenz und den illusorischen Charakter des Exils hervor:

As I look back at those years of exile, I see myself, and thousands of other Russians <…> among perfectly unimportant strangers, spectral Germans and Frenchmen in whose more or less illusory cities we, émigrés, happened to dwell. These aborigines were to the mind’s eye as flat and transparent as figures cut out of cellophane <…>[48]

Das Problem der Authentizität der Realien in Nabokovs Berlinbeschreibungen tritt demzufolge sichtlich in den Hintergrund. Folglich betrachtet Goldschweer die Berliner Realia Nabokovs nur als Folie, die etwas ganz anderes als nur die positiven Momentaufnahmen Berliner Urbanität durchschimmern lässt, nämlich das verlorene Russland.[49] Durch ein weiteres Zitat von Vladimir Nabokov kann diese Sichtweise unterstützt werden:

Blue evenings in Berlin, the corner chestnut in flower, lightheadedness, poverty, love, the tangerine tinge of premature shop lights, and an animal aching yearn for the still fresh reek of Russia <…>[50]

In einem Aufsatz von 1987 versucht Philipp T. Sicker, Nabokovs Berlinbild als „not an actual place but an accumulation of shifting fragments, fleeting images that only rarely coalesce into streets, parks and buildings“[51] zu fassen. Seine wichtigste Erkenntnis ist, dass diese „Bildsplitter“ zwar nicht dazu geeignet sind, ein kohärentes Bild Berlins zu zeichnen, dafür aber den Blick auf das verlorene Russland freigeben. Nabokovs Berlinschilderungen haben demnach eine „Schattenseite“: Hinter einer Welt zahlreicher Details, der aber jegliche geografische Präzision und Kohärenz fehlen, schimmert eine zweite, imaginäre und erinnerte Welt hindurch, und zwar immer nur dann, wenn der reale Raum verblasst: „<...> only when articulate space has been obliterated – <...> is memory free to range in a purified time element.“[52] Gerade deswegen seien Nabokovs Berlinbeschreibungen besonders: Sie ermöglichen dem Leser Einblick in den verzweifelten, seltsam unscharfen Geisteszustand entwurzelter Russen, wobei die Stadt selbst verschlüsselt bleibt:

The shifting transparencies of Berlin are <...> thoroughly indecipherable, particularly for Nabokov’s émigrés, who make no effort to translate them into a private idiom.[53]

So entstehen Bilder privater wie kollektiver Entfremdung, Schilderungen des Exilalltags, in dem solche Kategorien wie „Realität – Vision“, „Traum – Wachen“, „Gegenwart – Vergangenheit“ miteinander verschmelzen:

The most disquieting effect of these works is the fact that Berlin exists as a dreamlike transparency for the sane and the deranged alike, both before and after death. It is a place, where psychological categories collapse, where fantasies, hauntings, and hallucinations are often indistinguishable from waking perceptions, and where ordinary objects and events suddenly acquire nightmarish characteristics. A human activity is reduced to mere shadow play, inanimate features of the cityscape come to life.[54]

Diesen Zwischenstatus, wo eine Stadt weder lebendig noch tot ist, teile Berlin mit Sankt Petersburg, sowohl in der Auffassung Nikolaj Gogol‘s als auch Andrej Belyjs, so Sicker.

Auch Frank Göbler ist der Meinung, dass die Stadtschilderungen bei Nabokov reiner Instrumentalisierung dienen, um wesentliche Aussagen sowie künstlerische Prinzipien Nabokovs einzuschließen. Diese Prinzipien betreffen die Zeit, die Erinnerungen und die Reflexion über das künstlerische Schaffen als solches.[55] Detailreiche Schilderungen sind laut Göbler nicht als Wiedergabe von Realität zu verstehen, sondern als künstlerisches Verfahren: Nabokov ist der Künstler, der das ihm zur Verfügung stehende Material nützt, um sich daraus eine eigene Welt zu erschaffen.

Aus dieser Perspektive lässt sich gut nachvollziehen, wie der junge Emigrant Lev Ganin, Protagonist im Nabokovs Debütroman Mašen’ka und Alter Ego des Schriftstellers, sein verlorenes Russland durch Berlin hindurch „liest“. Berlin als die reale Stadt liefert ihm nur einen Zeichenvorrat, der erst durch das künstlerisch veranlagte Ich des Protagonisten in Sinn umgewandelt wird. Die Realien der Stadt dienen hier als Folie für den künstlerischen Schaffensprozess. Die zusätzliche Verstärkung entsteht daraus, dass Berlin als reale Stadt im Laufe dieses Schaffensprozesses zunehmend surrealer wird, während die russische Vergangenheit Ganins mit verblüffender Kraft in den Vordergrund tritt. Wie der Autor, so registriert auch Ganin die Details seiner Berliner Umwelt und weiß diese als Bausteine für eine alternative, imaginäre Welt zu nutzen.

Eine einleuchtende Erklärung für die Besonderheiten von Nabokovs Deutschlandbild könnte also in den allgemeinen Lebensbedingungen des Exils zu finden sein. Darauf schließt Robert C. Williams, wenn er in seiner Arbeit gerade die als feindlich empfundene Umgebung (sowohl das russische als auch das deutsche Milieu) als Auslöser kreativer Energien bei Nabokov betrachtet. Das Gefühl der kulturellen Fremdheit findet bei Nabokov gerade dann sein literarisches Echo, wenn er eine innere, imaginäre Welt in größtmöglicher Distanz zu der realen zu schaffen sucht. Solch eine Welt werde zwar von den Details der Exilwirklichkeit gespeist, sei dennoch vollständig der Kontrolle Nabokovs unterworfen, so Williams.[56]

Ein weiterer wichtiger Faktor, den Williams anführt, ist die Spaltung des Deutschlandbildes bei Nabokov in ein „gutes“ der Dichter und ein „schlechtes“ der Exilwirklichkeit, „a jackbooted and stuffy burgeois society concerned mainly with drinking beer and making war“.[57] Das in der Erinnerung gebliebene gute Russland wird von einer negativen Folie der Gegenwart überschattet, die in der Geschmackslosigkeit des deutschen Spießbürgertums und der politischen Kleinkrämerei ihren Ausdruck findet. Diese Negativität wird auch von Ulrike Goldschweer betont:

Für Nabokov, dessen Herkunft und Erziehung eine durchaus germanophile Haltung hätten vermuten lassen, führt die Emigration zu einer radikalen Umwertung aller Überzeugungen: dem guten Deutschland seiner Kindheit, Rastpunkt vieler Reisen in den Süden, tritt als negativer Spiegel das kleinliche Alltagsdeutschland des Exils gegenüber.[58]

Die Schilderungen des vulgären deutschen Spießbürgertums lassen sich bei Nabokov in den Texten aus der Berliner Zeit in großen Mengen finden. Doch das Phänomen pošlost‘ (Vulgarität) ist laut Nabokov international; auch dem Sowjetrussland attestiert er eine spezielle Form des Vulgären, die aus einer Mischung von Pseudo-Kultur und Despotismus bestehe: „<...> Soviet Russia is so full of its special brand, a blend of despotism and pseudo-culture;“[59]

Außer einer ästhetischen hat Vulgarität für Nabokov eine noch stärkere moralische Komponente:

Poshlism is not only the obviously trashy but mainly the falsely important, the falsely beautiful, the falsely clever, the falsely attractive. To apply the deadly label of poshlism to something is not only an estheic judgment but also a moral indictment. The genuine, the guileless, the good is never poshlost.[60]

Ein vulgärer Mensch (pošlyj čelovek) stehe im Nabokovs Wertesystem auf der niedrigsten geistigen Entwicklungsstufe; er sei dumm, alltagsgesteuert und unkreativ. Daher gestalte es sich als höchst problematisch, ihn in Verbindung mit einem schöpferisch-künstlerischen Prozess zu setzen, welcher bei Nabokov immer transzendente Züge besitze, betont auch A. V. Zločevskaja.[61]

Der Antagonismus von „Dichter“ und „Alltagsmensch“, der im poetologischen Essay Nabokovs The Art of Literature and Commonsense deutlich in den Vordergrund gerückt ist, bildet den Kern seiner Kunstauffassung. In der Regel erfordert das Vulgäre ein Kollektiv, das es zum Wahren und Richtigen erklärt. Dort mutiert es zum Alltagsverstand, commonsense, in dessen Namen das Kollektiv laut Nabokov immer bereit sei, den Einzelnen, den Sonderling für seine Abweichung zu bestrafen:

Commonsense has trampled down many a gentle genius whose eyes had delighted in a too early moonbeam of some too early truth; commonsense has back-kicked dirt at the loveliest of queer paintings because a blue tree seemed madness to its well-meaning hoof;[62]

Den Alltagsverstand definiert Nabokov folglich als ein Konglomerat von primitiven und vulgären Vorstellungen der Masse, die für jede originell denkende Persönlichkeit eine direkte Gefahr darstellen. Beide negativen Begriffe – Vulgarität und Alltagsverstand – sind aus seiner Sicht eng miteinander verwandt.

Auch die Opposition zwischen dem – meist künstlerisch begabten – Sonderling und dem vulgären Kollektiv wird bei Nabokov immer wieder thematisiert. Dieses Gegenpaar bestimmt die Thematik, Orientierung und Struktur zahlreicher literarischen Werke des Autors, die seine Philosophie fortführen und illustrieren. Dabei sind Nabokovs Charaktere entweder Teil diesen von Mittelmaß und Vulgarität bestimmten Kollektivs oder sie sind seine mitleiderregende Opfer:

[...]


[1] Hier und im weiteren Arbeitsverlauf wird auf den ästhetische Begriff „Dichter” (chudožnik) zurückgegriffen, mit dem die literarische Produktion der Protagonisten hervorgehoben und gegenüber allen anderen Bereichen der Kunst (Musik, Malerei, Tanz u.a.) abgegrenzt werden soll.

[2] Vgl.: Struve, Gleb: Russkaja literatura v izgnanii. Opyt istoričeskogo obzora zarubežnoj literatury. New York 1956. S. 16.

[3] Vgl.: Kissel, Wolfgang Stephan: Exklusion. Chronotopoi der Ausgrenzung in der russischen und polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Peter Rehder, Igor Smirnov (Hrsg.): Die Welt der Slaven. Sammelbände. Bd. 26. München 2006. S. 23.

[4] Vgl.: Schlögel, Karl: Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren. 1917 bis 1941. München 1994. S. 21.

[5] Vgl.: Afanas’ev, Anatolij: Neutolënnaja ljubov‘. Vstupitel’naja stat’ja . In: Valentin Lavrov (Hrsg.): Literatura russkogo zarubežja. Antologija v šesti tomach. Bd. 1. (1920-1925). Moskva 1990. S. 5.

[6] Seit Gleb Struve ist es in der Literaturgeschichtsschreibung des Exils üblich, die russische Schriftstelleremigration in eine ältere und eine jüngere Generation einzuteilen, und zwar nicht nach dem Altersunterschied. Die älteren Exilautoren (Ivan Bunin, Dmitrij Merežkovskij, Vladislav Chodasevič u.a.) konnten schon auf eine vorrevolutionäre schriftstellerische Karriere zurückblicken, während die jüngere Generation (Vladimir Nabokov, Georgij Ivanov, Nina Berberova) erst im Exil zum Durchbruch oder zur Reife kam.

[7] Vgl.: Kissel, Wolfgang Stephan: Vladimir Nabokovs Metamorphosen. (Selbst-)Überzeugung als transkulturelle Praxis des Exils. In: Klaus-Dieter Krohn u.a. (Hrsg.): Übersetzung als transkultureller Prozess. Hamburg 2007. S. 53.

[8] Afanas’ev, Anatolij: Odna ili dve russkie literatury? In: Valentin Lavrov (Hrsg.): Literatura russkogo zarubežja. Antologija v šesti tomach. Bd. 3 (1931-1935). Moskva 1997. S. 7.

[9] Goldschweer, Ulrike: Exil als Grenzphänomen. Die Wiederentdeckung der russischen Literatur „jenseits der Grenze“. In: Karl Eimermacher (Hrsg.): Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen: Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit. München 2006. S. 805.

[10] Vgl.: Goldschweer, Ulrike: Exil als Grenzphänomen. S. 824.

[11] Dolinin, Aleksandr: Istinnaja žizn‘ pisatel‘ja Sirina. Raboty o Nabokove. Sankt-Peterburg 2004. S. 33.

[12] Pülsch, Anja: Emigration als literarisches Verfahren bei Zinovij Zinik. München 1995. S. 33.

[13] Ebd., S. 34.

[14] Dolinin, Aleksandr: Istinnaja žizn‘ pisatel‘ja Sirina. S. 46.

[15] Vgl.: Pülsch, Anja: Emigration als literarisches Verfahren bei Zinovij Zinik. S. 24.

[16] Ebd., S. 33.

[17] Vgl.: ebd., S. 24.

[18] Bethea, David M.: Emigration and Heritage. In: Slavic and East European Journal. Nr. 31. Beloit 1987. S. 156-157.

[19] Nabokov, Vladimir: Speak, Memory. An Autobiography Revisited. London 1999. S. 191.

[20] Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899-1940. Reinbek bei Hamburg 1999. S. 322.

[21] Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte. In: Dieter E. Zimmer (Hrsg.): Vladimir Nabokov. Gesammelte Werke. Bd. 20. Reinbek bei Hamburg 1994. S. 253f.

[22] Vgl.: Dolinin, Aleksandr: Istinnaja žizn‘ pisatel‘ja Sirina. S. 29.

[23] Vgl.: Hüllen, Christopher: Der Tod im Werk Vladimir Nabokovs. München 1990. S. 13.

[24] Kissel, Wolfgang Stephan: Nabokovs Kanon . In: Klaus Städtke, Ralph Kray (Hrsg.): Spielräume des auktorialen Diskurses. Berlin 2003. S. 158.

[25] Kissel, Wolfgang Stephan: Vladimir Nabokovs Metamorphosen. S. 55.

[26] Vgl.: Dolinin, Aleksandr: Istinnaja žizn‘ pisatel‘ja Sirina. S. 28.

[27] Vgl.: ebd. S. 13.

[28] Vgl.: ebd.

[29] Adamovič, Georgij: Sirin. In: Nikolaj Mel’nikov (Hrsg.): Klassik bez retuši. Literaturnyj mir o tvorčestve Vladimira Nabokova. Moskva 2000. S. 198.

[30] Vgl.: Struve, Gleb: Russkaja literatura v izgnanii. S. 212.

[31] Zitiert nach: Kissel, Wolfgang Stephan: Vladimir Nabokovs Metamorphosen. S. 55.

[32] Karlinsky, Simon (Hrsg.): The Nabokov – Wilson Letters. Correspondence Between Vladimir Nabokov and Edmund Wilson 1940-1971. London 1979. S. 220.

[33] Vgl.: Dolinin, Aleksandr: Istinnaja žizn‘ pisatel‘ja Sirina. S. 28.

[34] Vgl.: ebd., S. 32-33.

[35] Williams, Robert C.: Culture in exile: Russian émigrés in Germany 1881 - 1941. Ithaca 1972. S. 242.

[36] Schlögel, Karl: Berlin – Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert. Berlin 1998. S. 159.

[37] Ebd., S. 160.

[38] Ebd.

[39] Vgl.: Mierau, Fritz: Wind vom Kaukasus. Die Russen in Berlin. Begegnungen und Entfremdungen. In: Gerd Koenen, Lev Kopelev (Hrsg.): Deutschland und die Russische Revolution: 1917-1924. München 1998. S. 648.

[40] Raeff, Marc: Emigration – welche, wann, wo? Kontexte der russischen Emigration in Deutschland 1920-1942. (Übersetzt von Schamma Schahadat). In: Karl Schlögel (Hrsg.): Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg. Berlin 1995. S. 24.

[41] Karl Schlögel nennt neun verschiedene Adressen, unter welchen Familie Nabokov im Zeitraum zwischen 1922 und 1932 gemeldet war. In: ders. (Hrsg.): Berlin – Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert. S. 160.

[42] Ebd., S. 161.

[43] So der Titel eines Kapitels bei: Urban, Thomas: Blaue Abende in Berlin. Berlin 1999. S. 120-129.

[44] Vgl.: Goldschweer, Ulrike:“Chronist des russischen Berlin“ oder Traumwandler unter Fremden – Vladimir Nabokov in Deutschland. In: Karl Eimermacher (Hrsg.): Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen: Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit. München 2006. S. 871.

[45] Engel-Braunschmidt, Annelore: Die Suggestion der Berliner Realität bei Vladimir Nabokov. In: Karl Schlögel (Hrsg.): Russische Emigration in Deutschland 1918-1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg. Berlin 1995. S. 367-378.

[46] Göbler, Frank: Vladimir Nabokov und Berlin: Zwischenreich und flüchtige Wirklichkeit. In: Zeitschrift für Slavistik (Heft 4), 1994. S. 582-590.

[47] Sicker, Philipp T.: Shadows of Exile in Nabokov’s Berlin. In: Thought: A Revue of Culture and Idea (62:246) . New York 1987. S. 281-294.

[48] Nabokov, Vladimir: Speak, Memory. S. 215.

[49] Vgl.: Goldschweer, Ulrike :“Chronist des russischen Berlin“ oder Traumwandler unter Fremden – Vladimir Nabokov in Deutschland. S. 871.

[50] Nabokov, Vladimir: Speak, Memory. S. 220.

[51] Sicker, Philipp T.: Shadows of Exile in Nabokov’s Berlin. S. 282.

[52] Ebd., S. 290.

[53] Ebd., S. 285.

[54] Ebd., S. 287.

[55] Vgl.: Göbler, Frank: Vladimir Nabokov und Berlin: Zwischenreich und flüchtige Wirklichkeit. S. 585.

[56] Vgl.: Williams, Robert C.: Culture in exile : Russian émigrés in Germany 1881 - 1941. S. 242.

[57] Ebd., S. 243.

[58] Goldschweer, Ulrike :“Chronist des russischen Berlin“ oder Traumwandler unter Fremden – Vladimir Nabokov in Deutschland. S. 881.

[59] Nabokov, Vladimir: Philistines and Philistinism. In: ders.: Lectures on Russian Literature. Hrsg. von Fredson Bowers. New York, London 1980. S. 313.

[60] Ebd.

[61] Zločevskaja, A. V.: Chudožestvennyj mir Vladimira Nabokova i russkaja literatura XX veka. Moskva 2000. S. 150-151.

[62] Nabokov, Vladimir: The Art of Literature and Commonsense. In: ders.: Lectures on Literature. Hrsg. von Fredson Bowers. New York and London 1980. S. 372.

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Zwischen Heilung und Wahnsinn: Potentielle Dichter in den frühen Romanen Vladimir Nabokovs
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Veranstaltung
Slavische Kultur- und Literaturwissenschaft
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
91
Katalognummer
V197190
ISBN (eBook)
9783656233671
ISBN (Buch)
9783656233763
Dateigröße
1053 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Gutachten der Erstprüferin: [...] In dieser Masterarbeit ist Frau Schmid eine sehr schöne eigenständige Interpretation dreier Romane Nabokovs - und eines wesentlichen Themas, das sein ganzes Werk bestimmt - gelungen, wobei sie ihre eigenen Interpretationen in Auseinandersetzung mit der umfangreichen Forschungsliteratur entwickelt, sie führt also einen wissenschaftlichen Dialog im besten Sinne des Wortes. Ich habe eigentlich nichts zu bemängeln - es ist eine gut lesbare, intelligente, interessante Arbeit.[...]
Schlagworte
Nabokov
Arbeit zitieren
Anna Schmid (Autor:in), 2012, Zwischen Heilung und Wahnsinn: Potentielle Dichter in den frühen Romanen Vladimir Nabokovs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/197190

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