Israel. Generative Grammatik des Judentums

Mit einem Blick auf: Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz!, G. Grassens Israel-Gedicht und einem Beitrag zur Beschneidung


Trabajo de Investigación, 2012

66 Páginas, Calificación: 1.0


Extracto


Inhalt

1. Vorbemerkung

2. Israel
Archäologie eund Philologie
Archäologie als Aschenputtel
Der universalhistorische Blick
Hunderttausende zionistischer Invasoren
Die Erfahrung der vollzogenen Verteilung
Von dem Strom Ägyptens bis an den großen Strom Euphrat
Ein gerechter Krieg

3. Generative Grammatik des Judentums
Konstanten jüdischen Verhaltens
Blut und Bodenlosigkeit
Überreizte Wächter
Gewalt als Gegengewalt
Opfernationen
Aufstieg durch Taten zum Volk
Monotheismus als Ausrottung
Niedergang. Opfer-Volk
Die Replik der Sklaven (Fr. Nietzsche), der Parias (M. Weber)
Prügeleien
Glück und Unglück
Achtung! [Ironische] Warnung vor der Weitwinkelperspektive
Umgangsformen
Assimilation und Emanzipation
Fazit

4. Gegenläufige Gedächtnisse oder antagonistische Ontologie
Wissenschaftliche und opferperspektivische Sicht
Befreier und Unterdrücker zugleich
Die „Ereignisikone“ 9. Mai
Ismael und Israel
Opferperspektive

5. Die Befreiung gelingt
GuiseppeVerdis Nabucco

6. Re-Vision argumentativer Muster des Holocaust-Diskurses
Wissen und tun
Das Windschiefe hat Konjunktur
Nochmal: Normalität

7. Reisende

8. Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz!

9. Roma locuta, causa finita?
Zu dem „Gedicht“ eines Nobelpreisträgers

10. Beschneiden oder bescheiden auf archaische Rituale verzichten?

11. Verkehrte Welt. Eine Nachbemerkung
Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit
Zivilisation und Barbarei
Warum Denken traurig macht
Eine Welt kontroverser Positionen

12. Hinweis auf eine Neuerscheinung

1. Vorbemerkung

Gegenwärtig tummelt sich ein buntes Völkchen im öffentlichen Raum; schrill, phonetisch und semantisch, ist eine Qualität der Lebenswelt. Beispiele zu nennen ist kaum möglich, da alles im verrückten Ganzen ver-rückt ist.

Da wird mit Lärm ein Superstar gesucht, dort wird ein Bundespräsident scheinheilig betroffen und mit klammheimlicher Freude gejagt und gehetzt, so als sei noch Herbst und eine Hubertusjagd finde statt. Gibt der genervt und am Ende seiner Kräfte auf, wird der designierte Nachfolger einer medialen Inquisition unterzogen. Beleuchter haben Konjunktur, die dunkle Stellen erhellen wollen. Aber bekanntlich sind auch die Jahreszeiten schon aus dem Konzept gelaufen. Da wird in der Einkaufsmeile in Gießen eine Sprungschanze aufgebaut am verkaufsoffenen Sonntag bei gut 10 Grad plus, die Kerlchen springen dann grad mal 2,50 m. Lächerlich. Aber der Schnee wurde, Umweltkosten uninteressant, herangekarrt. Wenn es derUmsatzsteigerung dient … [ein leicht verändertes Zitat]

Das Volk fordert wie im Alten Rom Unterhaltung; damals panem et circenses, Brot und Spiele, heute mindestens Harz IV und RTL; eine mediale Meute, selbst in einem harten Konkurrenzclinch liegend, an die eigene Subsistenzsicherung denkend, die Abo-Zahlen müssen stimmen, sucht, präsentiert, inszeniert events. Fällt in den Anden ein Bus in den Abgrund mit 30 Toten, reicht das für die Tagesschau. Die verweist dann auf weitere Einzelheiten im Internet unter tagesschau.de. Ja, Gott, merkt Ihr nicht mehr, wie besoffen Ihr seid? Wo bleibt in diesem Lärm noch Zeit, den Rosenkranz zu beten J? Aber, Ihr Schreiberlinge, Ihr lebt davon. Eben, am 18. Januar 2012, wird im hessischen Fernsehen um 21.45 in der Sendung Meinungsmacher zaghaft darauf hingewiesen: dass in der Wulff-Affäre übelste Seilschaftspraktiken, Konkurrenzmechanismen am Werkeln waren.

[Der vorstehende Absatz garantiert, dass diese Publikation unbeachtet bleiben wird.]

Diese Zustände kennzeichnen heute die Alltagswelt; für der Welt der Wissenschaft gilt: hier geht es genauso zu. Es besteht eine kaum verblüffende Strukturhomologie.

Die hier versammelten Kapitel liefern eine kritische Re-Vision kultureller Rituale und Muster unserer Zeit, teils anhand der Besprechung einzelner Bücher, in denen sich diese Erscheinungen konzentriert sedimentieren.

Die gender studies dürfen noch immer als die avantgardistische Ideologie in den Kultur-, den Humanwissenschaften angesehen werden. Die, auch so genannten Geistewissenschaften, haben viele Beerdigungen überlebt: alle marxistischen Varianten sind vom wissenschaftlichen Tanzboden weg und halten sich nur noch in esoterischen, wenig lernfähigen hardliner-Zirkeln. Hierher gehört besonders die kryptomarxistische Kritische Theorie der Frankfurter Schule [Adorno u.a.]; die Dekonstruktion [Derrida] ist zur Lachnummer geworden [vgl. dazu unten], die Dislurstheorie Foucaults gilt nach der glänzenden, fundiert-soliden, vernichtenden Kritik durch Hans Ulrich Wehler[1] nur noch in Fangemeinden als Geheimtipp. Ebenso geht es der Luhmannschen Systemtheorie, die nur noch dort Akzeptanz findet, wo dogmatisch bornierte Engführungen, die doch noch im Bewusstsein der universalen Gültigkeit ihrer Ansätze leben, mutig beschritten werden.

Die vorliegende Arbeit schickt einige Methoden und Theorien wenn nicht in den Orkus des Vergessens, dann doch in die Revisionsabteilung. Hierzu gehören die genannten gender studies, die spätfeministische Sprachfolklore, sog. hermeneutische Verfahren, die Evolutionstheorie, die Anthropologie der patchwork-Familie, der Partnerwechsel-Diskurs, der Multikulturalismus, der Holocaust-Diskurs, der Atheismus-Diskurs, die Islam-Debatte. Sie alle werden fundiert kritisiert und in ihre Schranken gewiesen.

Am ehesten finde ich meine Ideen vertreten von dem Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa in seinem neuen Buch La Civilisación del Espectáculo, Madrid, 2012. Jetzt deutsch: Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst, Berlin 2013

2.Israel

Die israelische Regierungspartei Likud hat den Staat Israel
schon immer als Erfüllung eines biblischen Versprechens gesehen,
einer Prophezeiung, die durch jede Form von Landabgabe an die Palästinenser unerfüllt bliebe.

Henry Kissinger, in : WELT am SONNTAG 28.12.2003, S.10

Das neue Heft von „Welt und Umwelt der Bibel“ (3.2008) widmet sich den „Anfängen Israels“, dargestellt werden die „Diskussionen um die Landnahme: kriegerisch oder friedlich? Wie kamen die Israeliten ins Land Kanaan? Was sagt die Bibel, was die Archäologie?“ Und die theologisch brisante Frage: „Was ist das für ein Gott, der Eroberung anordnet?“

Besonders das Buch Josua ist voll von martialischer Metaphorik; das hebräische Wort häräm bezeichnet einen Krieg, in dem keine Gefangene gemacht werden[2]. „Josua ließ das Schwert nicht sinken, bis er alle Bewohner von Ai dem Untergang geweiht hatte.“ (Jos 8,26) „Häräm“ [mrh] bedeutet „die vollständige Vernichtung der gegnerischen Bevölkerung“.

Archäologie eund Philologie

Durch das ganze Heft spürt man den Seufzer der Erleichterung: endlich kein wirklicher häräm mehr, kein Vernichtungskrieg, endlich ist das Kind in trockenen Windeln. Archäologisch sind die Gewaltorgien des Heiligen Textes gar nicht belegbar; sie sind pur literal, fiktional, theologisch (und poetisch). Hat die Bibel doch nicht Recht? Bekanntlich gilt „Und die Bibel hat doch recht: Forscher beweisen die Wahrheit der Bibel“ von Werner Keller seit zwanzig Jahren als Bestseller. Damals wie heute sollte man sowieso immer im Hinterkopf behalten: die Archäologie, die als Helfer in theologischer Not hier herangefahren wird, ist eine empirische Wissenschaft. Morgen kann das schon ganz anders aussehen.

Nebenbei sichert man das Existenzrecht Israels: man war schon immer da. Allerdings um den Preis der Konkurrenz um Land im Land. Viele andere waren auch schon da. Die Israeliten, die aus Ägypten flüchtend kamen, mussten eine menschheitliche Erfahrung machen: die der vollzogenen Verteilung. So ging es z.B. auch den Europäern, die Amerika besiedelten: sie fanden Menschen vor, die dann mit Umgangsformen behandelt werden mussten, die noch heute erschrecken machen.

Archäologie als Aschenputtel

Die theologische Diskussion um die häräm-Texte gebraucht bestimmte, immer wieder umgedrehte Abwehr-Strategien: Es ist [doch nur] Literatur, Fiktion. Wer nicht merkt, dass man damit sowieso auf einem schiefen Weg ist – wo nämlich ist das Aschenputtel, das die fiktiven Partien von den andern – und was sind die? - trennt, sollte doch wenigstens zu dieser Frage gelangen: musste die Selbstverteidigungsstrategie notwendig jene Kriegsführungspraktiken verbal übernehmen, die damals rundum gang und gäbe waren? Und durfte diese Schlägermentalität als gottgewollt dargestellt werden? Ist die politische Theologie der einschlägigen Gewalt-Stellen nicht eine Blasphemie, eine anmaßende Funktionalisierung Gottes? JHWH wird für politische Ziele umfunktioniert. Freilich, das alles ist sehr klug: man erreicht eine Immunisierung durch Theologisierung. Da die höchste Instanz das fordert, verstummt jede Kritik[3].

Die Texte, und da beißt keine theologische Maus den Faden durch, können nur unter Verlust ihrer theologischen Dimension gerettet werden; sie stehen dann dort, wo Homer, das Gilgamesch-Epos, das Nibelungenlied u.a.m. auch stehen. Es sind säkulare Texte.

Den Schreibern der Gewalt-Texte gilt als Devise: Wenn ihr angegriffen werdet, dann denkt an eure [funktional erfundene, nur exoterisch behauptete, esoterisch wissen wir das anders] Geschichte – das Judentum erinnert besonders innig [was man nicht sagen muss]: macht häräm! Macht kaputt, was euch kaputt macht.

Ich denke, es wäre ehrlicher, wenn die Theologie sich bereitfände, dies schlicht zu sagen: diese heiligen Texte sind menschengemacht; sie sind Ratgeber- und Erbauungsliteratur. Sie wollen nationale Identität stiften, historische Faktizität ist ihnen wurscht.

Diese brutalen, barbarischen Texte – Cäsar verkauft im Gallischen Krieg seine Gefangenen an Händler, um mit dem Erlös seine Kosten zu finanzieren – vertreten eine archaische Moral, die nicht von Gott kommt – freilich so hingestellt wird, JHWH ist doch isch milschamah [Mann des Krieges]. Sie formulieren eine evolutionäre Erfahrung: wer nicht schlägt, der wird geschlagen. Sie sind eine politische Theologie realistischen staatlichen Handelns. Wer im Hexenkessel des Vorderen Orients, zwischen den Großmächten Ägypten, Babylon, Assyrien u.a. eingeklemmt ist, umgeben von den üblichen Verdächtigen, den sündigen Edomitern, Moabitern, Ammonitern, den üblen Loth-Kindern, den „sieben Völkern“, die in Dtn 7,1-2 genannt werden, wer hier seinen Bestand sichern will, der muss kämpfen können. Vivere militare est, wusste Cicero [oder war es Seneca?].

Der universalhistorische Blick

Ein gleiches Problem hat bekanntlich der Islam; seine Heilige Schrift ist nicht gewaltfrei. Moderne [freilich wenig akzeptierte] Koranexegese versucht durch eine zeitliche Verortung aus dem Dilemma sich zu ziehen: diese Partien seien zeitbedingt und beträfen eine Situation, in der der frühe Islam sich gegen Feinde habe wehren müssen.

Hilfreich wäre auch, aber das ist heute ganz unmodern – um 1800 gab es das – ein universalhistorischer Blick: z.B. auf die Geschichte des Kontinents mit den schwarzen Schwänen. Zur australischen Historie gehören seit der Kolonisierung Worte wie Einwanderung, Landnahme, Enteignung, Ausgrenzung, Vertreibung, Aberkennung des Menschseins [man hat es ontisch mit Tieren zu tun, allenfalls mit Zwischenstufen zwischen Tier und Mensch]. Es war die europäische, englische Antwort auf die Antwort der Aborigines [die Guerilla machten, Überfälle, Entführungen, Plünderungen, Brandstiftungen]. So galt für die englischen Kolonisatoren, selbst überwiegend als Gewaltverbrecher Verurteilte und Deportierte: Aborigines ausrotten, töten, wo immer sie sich zeigen[4].

Im Vorderen Orient, vor 4000, vor 3000, vor 2000 Jahren muss es genau so gewesen sein.

Diese Bibelstellen sind übrigens ganz modern beerbbar: der amerikanische Präsident Bush und seine Neocon-Administration bejahten den Krieg und die Gewalt als Mittel politischer Arbeit.

Wenn es um Israel geht, sind Deutsche wohlberaten, mit Ratschlägen und Kritik zurückhaltend zu sein. Es ist dennoch wichtig, innerisraelische Stimmen zu beachten; was in Deutschland von Deutschen oft mit Recht nicht gesagt werden kann oder sollte, ist in Israel zu hören. Gerade in der letzten Zeit ist wieder deutlich geworden, dass Meinung, Standpunkt, politische Position in Israel kein monolithischer Block ist. Und: Während in den Vereinigten Staaten Särge im Ausland gefallener Soldaten in den Medien nicht gezeigt werden, gilt für Israel, es „legt Meinungsäußerungen keinerlei Schranken auf. In Israel kann man alles über alles sagen. Leute können zur Ermordung ihres Ministerpräsidenten aufrufen und es wird so gut wie nichts gegen sie unternommen.“ Das ist talmudische Tradition; wer den Talmud gelesen hat, weiß, dass da Meinungen an Meinungen über eine Tora-Stelle gereiht werden ohne Ende. Allerdings: „Die freie Meinungsäußerung hat in Israel schon lange jede Grenze überschritten und zu einer Art verbaler Anarchie geführt, die schon fast an aktive Gewalt grenzt“. (64) Für meine nachstehenden Überlegungen aus aktuellem Anlass orientiere ich mich an Avraham Burgs auf- und anregendem Werk[5].

Das Land ist zutiefst gespalten: was zunächst eine universale ontologische Figur bestätigt. Sie ist überall zu finden als Zwei- oder Mehrteilung, Ausdifferenzierung. Jüngst wurde das etwa sehr klar bei der Entscheidung für die Gesundheitsreform in den USA. Konkret politisch hängen diese Dichotomien mit sozialen Verhältnissen zusammen, trivial: es gibt arm und reich. Daraus entstehen unterschiedliche Perspektiven, Interessen. Der Erzeuger von Mais und Reis sieht die Welt anders als der Verbraucher. Anthropologische Basis dieser Situation ist ein Phänomen, das popmodern gern negiert wird, indem man das Ich abschafft, schwächt, als Instanz, etwa gar als dominierende, nicht mehr akzeptieren will. Damit übersieht man Nietzsches Willen zur Macht, der einzelne Subjekte, die es gar nicht geben soll, wesentlich bestimmt.

Das Ich – das nach dem Königsberger Kant all unser Denken muss begleiten können – steht aber weiterhin unverrückbar im Zentrum unserer Bewusstseinswelt: es gibt unten und oben, vorn und hinten, links und rechts. Und das Ich, das sich oft, wie Buridans Esel, zwischen den gleichgroßen Heuhaufen nicht entscheiden kann[6].

Hunderttausende zionistischer Invasoren

Bei Burg darf man härteste Sätze erwarten, die nicht nur für deutsche Ohren so klingen, dass es klirrt oder dass man sich die Augen reibt. Da gibt es „Hunderttausende zionistischer Invasoren“, die „Tausende Häuser in Hunderten Siedlungen gebaut“ haben. „Milliarden Dollar wurden ausgegeben“. (85) Es gibt Zeichen einer „neuen, von Zwang, Gewalt und Diktatur geprägten Ordnung“. (84) „Unser ganzes Land ist Geisel einer Gruppe von Siedlern[7], die mit Bürgerkrieg drohen, Soldaten zur Befehlsverweigerung aufrufen, die Autorität des Staates untergaben und ihm das Recht absprechen, den Mehrheitswillen umzusetzen“. (64) Burg vertraut – humanistisch, universalistisch – auf „das Vorhandensein eines gesunden, unbesiegbaren Gewissens“ (64), das sich irgendwann in den ultraorthodoxen, orthodoxen, fundamentalistischen Gemütern Geltung verschaffen müsste.

Ein eigens geschriebenes „Vorwort zur deutschen Ausgabe“ erläutert: „Das Buch äußert harte Kritik, hinterfragt althergebrachte Ideen, stellt existenzielle Grundlagen infrage, zieht heilige Überzeugungen in Zweifel und versucht, starre nationale Dogmen durch neue universelle Paradigmen zu ersetzen“. (9f.) Man darf auch hören, was der deutsche Verlag schreibt: „Avraham Burg, früherer Parlamentspräsident, Knesset-Sprecher und Leiter der Jewish Agency, spricht aus, was viele in Israel empfinden: Der jüdische Staat ist besessen vom Misstrauen – gegen sich selbst, seine Nachbarn und die Welt um sich herum. Der Holocaust wird als ultimatives Trauma vereinnahmt, um israelisches Unrecht zu legitimieren. Burg kritisiert sein Land als militaristisch, fremdenfeindlich und anfällig für Extremismus. So wird der Weg zu einem Frieden im Nahen Osten immer wieder verbaut. Trotz der großen Bedeutung des Erinnerns an die Opfer ist es Zeit, dass Israelis, Juden und die westliche Welt – allen voran Deutschland – das Trauma des Holocaust überwinden und Israel zu einem neuen Selbstverständnis findet“.

Israel hat, in Burgs Sicht, das Trauma des Holocaust in eine immerdauernde Traumatisierung verlängert; die Monopolstellung dieses schrecklichen Ereignisses lähmt jede innovative, kreative zukunftsgerichtete Sicht. So drückt das Problem der palästinensischen Flüchtlinge, das anzugehen man Angst hat. Die Folgen von Verhandlungen scheinen unkalkulierbar, etwa wenn Geflüchtete, Vertriebene, zwischenzeitlich zahlenmäßig gewaltig gewachsen, auf einer Rückkehr in ihre angestammten Wohngebiete bestehen. Die Ermordung der europäischen Judenschaft diene – so Burg – als Argument, Fundament für die schlechte Behandlung palästinensischer Araber, dient auch als Hebel, um sie aus dem Gelobten Land hinauszuhebeln.

In diesem Kontext überrascht es nicht, dass Burg auch auf andere Genozide eingeht: den Genozid der Deutschen an den Hereros und Namas (vulgo Hottentotten) in Deutsch-Südwest, den der Türken an den Armeniern und, jedenfalls für Deutsche (noch) schwer verstehbar, den Umgang der europäischen Einwanderer in Nordamerika mit den Indianern. „Jahrzehnte vor Auschwitz wurde die ‘Endlösung’ in der Neuen Welt auf den Weg gebracht. In Nordamerika rotteten Weiße die Ureinwohner aus, und vier Jahrzehnte vor dem Holocaust in Europa perfektionierte Deutschland das Modell in Afrika. Namibia war der Vorläufer der Shoah, die Herero waren Afrikas ‘Juden’.“ (187f.) Solche Formulierungen sind in Deutschland tabu; sie verletzen eine Regel und Absprache, den Holocaust als in besonderer Weise einmalig zu erfassen und keine Vergleiche mit Völkermorden zu machen, die es gab und die man auch, aber in einem anderen Kapitel, erinnern kann (vielleicht nicht muss, weil das Gedenken des Holocaust ausreicht). Erinnerungskonkurrenz ist hier kaum vermeidbar, Vergleiche aber bedeuteten Relativierung, ein schwer zu verstehendes Wort, das Abschwächung der Verbrechen des Holocaust bezeichnen soll und Aufwertung anderer Genozide. Diese heutige mainstream-Position wird in den Augen Burgs prekär, weil sie nicht wissenschaftlich sine ira et studio gefunden wurde, sondern aus der Angst, dem Trauma geboren ist, dem Wächterbewusstsein, das Wiederholungen befürchtet und diese ab ovo ersticken will. Burgs Denken ist indes auch perspektivisch; er unterscheidet selbst jüdisches, israelisches und universales Konstituieren von Positionen; seine Theorien resultieren aus einer universalen, humanistischen Interessen­perspektive.

In Frankreich wird eine Konkurrenz der Opfer schon länger beobachtet und diskursiv bearbeitet. Der von der Insel Martinique in der Karibik stammende Aimé Césaire hatte 1950 von der schwarzen Shoa gesprochen und damit den Sklavenhandel gemeint. Sein Buch Über den Kolonialismus von 1950 wurde 1968 von Wagenbach publiziert u.a. neben Frantz Fanon zu einem Kultbuch der 68er. In seiner karibischen Heimat brachte es Aimé Césaire, der weltweit auch als Poet geschätzt wurde, zu hohem Ansehen; er verteilte französische Subventionen unter die Armen und sicherte sich dadurch seine politische Stellung als Bürgermeister. Er konnte aber, teils stalinistisch-marxistisch denkend, Korruption nicht verhindern; der alte Adam [Goethe] war/ist stark. Er musste sich auch kritisieren lassen: seine Meinung, er sei ein Schwarzer wurde korrigiert; man sei kreolisch. Das Parlament der Grande Nation jedenfalls hat in einem Gesetz eine „Gleichbehandlung von Shoa und Sklavenhandel“ beschlossen[8].

Burg zeichnet nicht immer überall bekannte Linien, er deckt als intimer Kenner israelischer Politik Verdecktes auf. „Als die ganze Welt versuchte, diese Schandtaten [der Serben auf dem Balkan] zu beenden, stellte Israel sich auf die Seite Serbiens. Die internationale Gemeinschaft tat, was sie konnte – wenn auch mehr schlecht als recht –, um dem Morden ein Ende zu setzen, und der Moralist Israel schaute tatenlos zu. Mehr als einmal bot Israel Serbien zudem politische und moralische Unterstützung an. Manche behaupten sogar, Israel habe Serbien Waffen und Munition aus den Notvorräten der Armee geliefert.“ (185) Burg behauptet, dass „die mörderischen Serben Israels Partner waren“. (186) Und: „Wir haben Waffen an diejenigen geliefert, die die Massaker in Ruanda begingen“. (198) „Wir stehen auf Seiten der Türken in ihrer Verleugnung des Holocausts an den Armeniern“. (198) „Bald nach dem Ende des Eichmann-Prozesses verleugnete die israelische Regierung und die breite Gesellschaft [Hannah] Arendts Argument, dass die Shoah ein von Menschen begangenes Verbrechen an Menschen war, das durch einen neuen Mördertypus ermöglicht wurde, durch den Bürokraten. Arendts Buch über den Eichmann-Prozess wurde kurz und bündig abgelehnt. Nein, protestierte das Shoah-Establishment. Die Shoah ist einmalig, sie ist nur uns zugestoßen; kontaminiert unsere Shoah nicht mit den Problemen anderer Völker. So isolierte sich Israel von tiefgreifenden Weltprozessen und wurde zum Leugner des Holocausts an anderen Völkern.“ (199) Burg zitiert, wohl ernstzunehmende, Forschungen, die nachweisen wollen, dass „zwischen 1900 und 1987 die unvorstellbare Zahl von 169.198.000 Menschen ihr Leben durch Völkermorde [verloren], einschließlich derer, die Stalin und die Chinesen an ihrem eigenen Volk begingen“. (175)
Burg notiert sehr genau Mentalitäten, die sonst, respektvoll, übersehen werden; dazu gehört immer auch alttestamentliches Erbe. „Dass das Blut der Gojim nicht wie das der Juden ist und die Araber Tiere sind.“ (207) Es sind „extreme orthodoxe Juden“, die so denken, der „strittige Aspekt ist ihre Auslegung und ihr Verständnis des Judentums und der Tora als Rassentheorie und Religion der Diskriminierung und Gewalt.“ (208) Es gebe, schreibt Burg, eine „lange Kette religiöser und mystischer Ideologen, für die im Zentrum der jüdischen Nationalseele die jüdische Überlegenheit steht“. Es ist der alte Mythos vom Auserwählten Volk, vielfältig in Midrasch und Talmud modifiziert, das den Bund (die berit, trb) mit JHWH schloss, einzig unter allen Völkern, die sämtlich das Angebot der Tora zurückwiesen (so eine Meinung im Talmud) „Tief im Inneren sind viele Tausende unserer jüdischen Brüder und Schwestern von einer jüdischen Überlegenheit über den Rest der Menschheit, vom ‘jüdischen Geist’ überzeugt.“ (210) Es gibt eine starke Tendenz zur „Exklusivität“, zur Abgrenzung von denen, die unrein sind. „Die Abgrenzung von der Welt fängt mit dem persönlichen Morgengebet des Gläubigen an, das die Zeilen enthält: ‘Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Heiden erschaffen.’ Sie tritt am Ende des Sabbats zutage, wenn wir beten: ‘Lob dir o Gott … der scheidet Weihe und Welt, das Licht von der Finsternis, dein Volk und die Völker.“ (212f.) Die Lage ist hochkomplex und mit wenigen Worten nicht zu erfassen.

Die Erfahrung der vollzogenen Verteilung

In der jüdischen Position steckt Evolution; Schiller hat seinen Wallenstein hierher gehörende wichtige Worte formulieren lassen („hart im Raume stoßen sich die Sachen, / Wo eines Platz nimmt, muß das andre rücken, / Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben, / Da herrscht der Streit, und nur die Stärke siegt“) Es ist die Erfahrung der vollzogenen Verteilung (des Landes), die im Nahen Osten Probleme macht.

Burg sieht sehr deutlich, dass „die Idee des auserwählten Volkes sich aus historischen und menschlichen Kontexten erklären“ lässt. „Es mag sein, dass die unterdrückten Juden, die Vernichtung und Verfolgung ausgesetzt waren, Zuflucht in einem Traum von Größe fanden,“ (213) Man darf auch Nietzsche lesen und dessen „Genealogie der Moral“. Moral ist eine Erfindung der Unterdrückten, der Sklaven. Burg bekennt. „Mein Judentum ist dagegen ein ständiger Kampf gegen Rassismus, religiöse Arroganz und selbsternannte Sendboten Gottes, die glauben, Gott sei immer und ausschließlich mit ihnen“ (das ist z.B. unüberhörbar der Fall bei der Schilderung der Landnahme im Alten Testament). (215) Burg beklagt, dass „mit dem Übergang von der Ohnmacht zur Macht keine entsprechende Revolution in der modernen israelisch-jüdischen Seele stattgefunden hat“. (223)

Möglich werden Burgs Positionen aus einer prinzipiellen Einschätzung heraus; er sagt als Abgeordneter in der Knesset: „Ich fühle mich nicht so verfolgt. Ich glaube nicht, dass die Gefahr einer zweiten Shoah in irgendeiner Weise real ist“. (194) Auch hier sollte man im nichtaktiven Bewusstseinshintergund eine Erkenntnis mitlaufen lassen, die anthropologisch ist: es gibt immer zwei Sorten von Menschen: große und kleine, dicke und dünne, rechte und linke, kluge und nicht so kluge, Wandervögel und Nesthocker, Wasserratten und Landratten usw. usf. So gibt es optimistische und pessimistische Evaluationen von Sachverhalten. Faktenensembles sind oft so komplex, dass eindeutig begründete Entscheidungen nicht möglich sind, dann treten emotional gesteuerte Mechanismen ein, die eine Entscheidung – dezisionistisch – vollziehen (Gegner des Dezisionismus-Modells bedenken nur die halbe Wegstrecke; sie glauben, alle Welt rational, hegelisch rekonstruieren zu können und laufen dabei in die Falle, die von der Hochkomplexität – freilich erst seit kurzem erkennbar – aufgestellt wurde). „In der Knesset ist es üblich, Redner zu beglückwünschen, wenn sie vom Rednerpult kommen, aber dieses Mal geschah das nicht. Vom Podium sah ich, wie das Publikum mich anschaute, manche hörten zu, andere waren wütend.“ (195) Die Wütenden, die auch Daniel Barenboim ausbuhen, wenn er Wagner spielen will, sehen das anders als Burg: „Die ganze Welt ist gegen uns!“ ist eine weitverbreitete Meinung in Israel, wenn etwa internationale Untersuchungsberichte Feststellungen treffen, die nicht in die politische Mehrheitslandschaft passen. Eine breite Mehrheit hat Angst, jahrtausendelange Verfolgungen, Pogrome haben ihre tiefen Spuren hinterlassen. Fast könnte man mit Burg formulieren: Der Standardisraeli ist paranoid geworden. Misstrauen, Furcht, Angst, elementare, gehören zur jüdischen Identität.

Von dem Strom Ägyptens bis an den großen Strom Euphrat

Hitler wirkt weiter und keiner will es. Die Gründung der nationalen Identität auf eine barbarische Katastrophe ist eine negative Engführung, die noch keine positive Richtung aufzeigt. (Übrigens stützen die mythischen Amazonen der griechischen Sage ihre staatliche Identität auf ein grausliges Verbrechen: die Ermordung aller Männer, nachdem sie als Samenspender missbraucht wurden.) Dort, wo eine positive Richtung gefunden ist, bleibt sie, bei der anderen Bevölkerungshälfte in Israel, alttestamentlich gebunden: vom Bache Ägyptens bis zum Euphrat wird das Land den wandernden, besitzlosen Israeliten von JHWH gegeben: „An dem Tage schloss der HERR einen Bund mit Abram und sprach: Deinen Nachkommen will ich dies Land geben, von dem Strom Ägyptens an bis an den großen Strom Euphrat“ (1.Mose 15,18), Land, das so zum verheißenen wird; und, weil in ihm Milch und Honig fließen, zum gelobten. Auch bei ausgedehnteren Hebräisch-Kenntnisse bleibt die Stelle eine harte philologische und geographische Nuss; sie scheint auch defekt überliefert, die Übersetzungen sind geglättet. Luther schreibt: „von dem wasser Egypti an bis an das grosse wasser Phrat“. Wasser, Fluss, Strom, Bach sind im Hebräischen nicht genau auseinanderzuhalten, weithin gilt die eine Wurzel n h r. Kommentatoren betonen, der Nil sei nicht gemeint, sondern das Wadi el-Arish auf dem Sinai. Allerdings bleibt auch unklar, in welche Richtung es beim Euphrat geht: ob nach Norden oder nach Osten oder gar in beide.

Der Heilige Hieronymus hat in der Vulgata als Text: „in die illo pepigit Dominus cum Abram foedus dicens semini tuo dabo terram hanc a fluvio Aegypti usque ad fluvium magnum flumen Eufraten“ (an jenem Tag befestigte der Herr mit Abram einen Bund, indem er sprach: deinem Samen werde ich jenes Land geben vom Flusse Ägyptens bis zum großen Fluss, dem Fluss Euphrat). Vielleicht müsste man übersetzen: vom Fluss (fluvius) Ägyptens bis zum Strom (flumen) Euphrat, allerdings ist der Unterschied zwischen fluvius und flumen im Lateinischen nicht deutlich, jedenfalls gebraucht Hieronymus nicht das Wort rivus, was Bach bedeutet. Und dann folgen im Akkusativ die Namen kanaanitischer Völker, Stämme: „Cineos et Cenezeos et Cedmoneos et Hettheos et Ferezeos Rafaim quoque et Amorreos et Chananeos et Gergeseos et Iebuseos“. Es fehlt ein Prädikat. Bekommen die auch das Land? Es gibt Kommentatoren, die versichern: „Die aufgeführten kanaanitischen Stämme werden später bei der Eroberung vertrieben.“

Burg plädiert optimistisch für eine positivere Sicht. „Israel muss Auschwitz verlassen, da es ein mentales Gefängnis ist.“ (200) Dagegen aber stehen „die neuen Wurzeln eines jüdischen Rassismus, der in unserer Mitte wächst“. (203) Burg beschreibt, wie stark die Orientierung am Holocaust den Alltag bestimmt, und er meint, es sei nun höchste Zeit, das zu ändern, unverkrampfter mit der Katastrophe umzugehen. Die Jugendlichen sollten nicht nur nach Auschwitz fahren, sondern nach Andalusien. „Dort werden sie das goldene Zeitalter kennen lernen, als Islam und Judentum Beziehungen pflegten, von denen beide Seiten profitierten.“ (269) Es war eine maurisch-jüdische, auch wohl christliche Hochblüte, die weite Teile der Antike für das christliche und später auch unchristliche Abendland rettete. Der Rückblick Burgs geht nach vorn, seine Landsleute blicken nur zurück. Avraham Burg wird es wohl schwer haben, von einer Mehrheit in Israel bemerkt und respektiert zu werden. Israel ist bekannt dafür, seine Propheten umzubringen (vgl. die theologische Dissertation von Odil Hannes Steck, „Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum“, Neukirchen-Vluyn 1967); das kann auch noch zu unseren Zeiten geschehen, vgl. die Ermordung von Jitzchak Rabin 1995, der Generalstabschef der israelischen Streitkräfte war. Vielleicht muss Burg darauf achten, dass ihm dies nicht auch widerfährt.

Bei all dem, was Avraham Burg so bewegt und bewegend schreibt, lässt er eine Dimension ganz außerhalb: die wissenschaftlich-technologisch-ökonomische. In Israel wurde vor kurzem der Speicher-Stick erfunden, der die PC-Technik weit voranbrachte. Es gibt die überraschendsten Erfindungen von „Tüftlern“, wie man sagt, bei den Nobelpreisträgern sind jüdische Menschen ganz weit vorn. Israel, vertraute es auf seine mentale Kraft, wäre dann dort, wo Schiller um 1800 Deutschland hinstellte: es möge nicht, so meinte der Marbacher, wie die großen Nachbarnationen, England, Frankreich, auch Holland, Spanien, nach Kolonien blinzeln. Die deutsche Kraft bestehe nicht im Arealen, sie bestehe im Geistigen und an dieser technologisch-humanistischen Vernunft könnte dann „die Welt genesen“

Das ist auch die Zukunft Israels.

Ein gerechter Krieg

Den Problemkomplex hat auch Stefana Sabin beleuchtet[9]. Man liest diesen Essay Die Welt als Exil, mit angespanntestem Interesse. Dabei fällt einem manches auf. „Im Gelobten Land eroberten die Israeliten weite Territorien [S. 8]“ Weißgott ja, Joschua 1-12 im AT erzählt es so, Eroberungen mit häräm, als Vernichtungskrieg, Kopp ab, Rübe runter, Männer, Frauen, Rinder, Kinder. Das ist die literale, quasi evangelikale Lesung, die heute wohl nur von einer Minderheit vertreten wird. Die wissenschaftlich-theologische Mehrheit hat andere Theorien zur Landnahme entwickelt, teils stark gestützt von der Archäologie. Da gibt es Bürgerkrieg zwischen den armen Bewohnern der Berge und den reichen der Ebene, zwischen reicher Stadt und armem Land, da gibt es teils gar keinen Krieg, nur einfache Durchmischung. Jedenfalls wird die Vermutung kaum zu widerlegen sein, dass die Israeliten; die aus Ägypten kamen, eine menschheitliche Erfahrung machen mussten: die der vollzogenen Verteilung. Da waren schon welche im Gelobten Land, freilich: Sünder, Edomiter, Ammoniter, überhaupt die üblichen Verdächtigen. Es ist ein Gott wohlgefälliges Werk, diese Brut zu vertilgen. Jacob Burckhardt wusste das: „Bisweilen befiehlt ein Gott einem erobernden Volke die Zernichtung der Vorgefundenen und ergrimmt, sobald irgend Schonung geübt wird[10]. Auch Cervantes hat da gespitzte Ohren: Der erfindungsreiche Ritter Don Quijote reitet mit seinem Diener Sancho Pansa über Land. „Indes sahen sie wohl dreißig oder vierzig Windmühlen, die auf jenem Felde stehen, und als sie Don Quijote erblickte, sagte er zu seinem Knappen: ‚Das Glück führt unsre Sache besser, als wir es nur wünschen konnten, denn siehe, Freund Sancho, dort zeigen sich dreißig oder noch mehr gewalttätige Riesen, mit denen ich eine Schlacht zu schlagen gesonnen bin und ihnen allen das Leben zu nehmen; mit der Beute von ihnen wollen wir den Anfang unseres Reichtums machen; denn dies ist ein gerechter Krieg, und es ist ein echter Gottesdienst, diese verdammte Brut [mala simiente] vom Angesicht der Erde zu vertilgen.’

‚Welche Riesen?’ fragte [desillusionierend] Sancho Pansa.“ Schon immer ging im lustvollen Leseerlebnis, der trödelige ingenioso hidalgo, rennt gegen die Windmühlen an und holt sich einen blutigen Kopp, die wahre Intention des Poeten Cervantes unter: die harte Kritik an Eroberungskriegen.

Joschua 1-12 zitiert auch die Vorbereitung von Staatlichkeit, die dann unter Saul, David, Salomon [vielleicht] erreicht wurde, die nomadischen Viehzüchter vermindern ihre Transhumanz [den Weidewechsel auf der Suche nach grünem Gras], werden sesshaft. So kann „immerwährende Bedrohung durch andere Völker“ [Sabin, S. 8] möglich und wirklich werden. Die Babylonische Gefangenschaft steht am Anfang (wenn man die Knechtschaft in Ägypten nicht mitzählen will). Tatsächlich erweist das Auserwählte Volk sich hier als ein Besonderes; der normale Gang der Dinge wird vom Modell des melting pot bestimmt: die Perser werden früher oder später zu muslimischen Iranern, die Römer zu Italienern, die Germanen zu Deutschen, die Gallier lernen Latein und vergessen ihre Muttersprache. Sie verlieren ihre tradierte Identität oder geben sie auf. Sie gewinnen eine neue Identität. Im 19. Jahrhundert werden Europäer [Engländer, Iren, Schotten, Franzosen, Deutsche, Italiener, Polen etc.] zu Amerikanern; eben wird der marokkanische Oberbürgermeister von Amsterdam ein Niederländer, ihm genügt auch ein Pass, der niederländische, den marokkanischen braucht er nicht mehr. Indes Juden beharren auf ihrer [archaischen] Identität, als Orthodoxe verweigern sie weithin Modernisierung. Moses Mendelssohns vorsichtige Änderungsvorschläge im 18. Jahrhundert werden als „Gefährdung der Tradition“ orthodox erlebt. Die geschichtliche, barbarische, (noch) nicht zivilisierte, (noch) nicht humane Antwort der Völker ist Verfolgung, des Anderen, des Fremden, des Sündenbocks. Eine Antwort, die vom Naturzustand gelenkt ist: vom bellum omnium contra omnes, homo homini lupus est.

Das Judentum hat im Exil durch Erinnerung seine tradierte Identität stabilisiert. Stefana Sabin notiert: im AT kommt zachor! [erinnere dich!] 169 Mal vor, Exil wird als galut, als Verbannung erlebt so wie bei Ovid, der am Schwarzen Meer Rom nicht vergessen konnte. Ruth Meyer weiß das: das „Eigene im Fremden bewahren“. Weitergehende Fragen werden hier nicht mehr gestellt. Bewahrung! Während der Körper exilisch wandert, ruht der Geist bei den alten Bildern. Wer stellt die Wertfrage, ist das Eigene denn wert bewahrt zu werden? Die Olympische Religion der Alten ist passé, zum Glück auch die mythische Welt der Germanen.

Übrigens: der Befund trifft ein Anthropinon: es gibt immer wie gerade bemerkt zwei Sorten von Menschen [große, kleine, dicke, dünne, linke, rechte, Reiche, Arme etc.], Wandervögel und Nesthocker, hier haben wir die Bewahrer und die Veränderer. Prosit!

3.Generative Grammatik des Judentums

weiter leben!

Ruth Klüger

Wachset, mehret Euch, erfüllet die Erde!

Genesis

Konstanten jüdischen Verhaltens

Man wird nicht völlig falsch liegen, wenn man meint, daß der Wille, die tradierte Identität des Judentums zu wahren, als zentrale Konstante jüdischen Verhaltens zu sehen sei. Verweigerung von Assimilation, auch schon Integration, ist seit Altvater Abraham ein Stichwort; für seinen Sohn Isaak läßt er eine Braut in der alten Heimat werben. Unter den Kanaanitern, neben denen er leben muß, kann er für ihn keine reine Frau finden. So gehört das Verbot von Mischehen hierher, besonders klar seit den biblischen Büchern von Esra und Nehemia[11] – und seit Michel Friedman, der seine Bärbel Schäfer nicht richtig zeigen kann, solange er prominentes Mitglied im konservativen Zentralrat der Juden in Deutschland ist. Sie darf als Schickse gelten, das ist der westjiddische Ausdruck für ein Christenmädchen und zugleich die weibliche Form von Schegez, d.h. Christenbursche; das Wort kommt vom hebräischen ¦ÕqžÿÿeH [schäqäz], was soviel wie abscheulich bedeutet. Weißgott, Christen sind als Unreine abscheulich. Man will unter sich bleiben, um die rituelle Reinheit nicht zu gefährden. So gehört auch Verstoßung zu den zentralen Motiven und Verhaltensmustern der Identitätssicherung und -stabilisierung. Biblische Urgeschichten halten sie fest: Abraham vertreibt den Ismael mit seiner Mutter Hagar. Man teilt, in der mosaischen Unterscheidung seit der Sinai-Offenbarung, die Welt in Reine und Schweine. Die Andern sind Feinde, Moses ist die frühe Fassung von Carl Schmitt und dessen Bestimmung des politischen Gegners als Feind. Bekannter sind die Ausdrücke Goj für Nichtjude, Heide und Goje für Heidin, Christin. Die Schabbesgoje war das Christenmädchen, das als Bediente am Sabbat Arbeiten verrichtete, die dem frommen Juden verboten waren.

Franz Rosenzweig sieht das deutlich, wenn auch in seiner teils dunklen, archaischen Diktion, im Stern der Erlösung: Notwendig ist dem ewigen Volk seine Selbsterhaltung im Abschluß des reinen Quells des Bluts vor fremder Beimischung. Da darf man schon einmal eine Pause beim Lesen machen, die Brille zurechtrücken, schlucken. Rosenzweig entwickelt eine theologisch-biblisch begründete Anthropologie, die mit einer absoluten und unüberwindbaren Differenz zwischen den Juden und den Völkern, den Heiden rechnet (M. Brumlik). Rosenzweig denkt im Kontext des suchenden, sich selbst erst bestimmenden Zionismus um und nach 1900; hier tauchen auch schon einmal Positionen auf, zeitgeistvermittelt, die Geschichte als Rassenkampf begreifen wollen. Man argumentiert auf dem Hintergrund der jüdischen Verfolgungs- und Opfergeschichte, die durch aktuelle russische Pogrome gegenwärtig war. Rosenzweig, der mit Martin Buber zusammen die Bibel in einem expressionistisch hohen Stil verdeutscht hat, gehört auch zu denen, die als Antwort auf den christlichen Antijudaismus (etwa des Reformators Luther) eine ausgewachsene, ressentimentfundierte Feindschaft gegenüber dem Christentum pflegen. Lorenz Jäger zitiert in der FAZ aus einem Brief Rosenzweigs von 1916[12]: wir Juden verleugnen die Grundlage der gegenwärtigen Kultur. Er stabilisiert so eine Ideologie, die als Theologie ganz im Alten Testament angelegt ist. Christen dürfen als polytheistische Heiden zu den Feinden des einen wahren Gottes gerechnet werden und das Strafgericht erwarten, das - in Nachahmung von Taten, die Moses vormachte – immer mal wieder an Götzendiener und Feinden Israels und Judas vollzogen wird:

Gerechterweise muß man wohl anmerken, daß Rosenzweig auf einem Weg des Denkens ist; das Referierte ist ein Stadium, eine Etappe auf seinem Denkweg, der dialektisch-tragisch ist, pendelt zwischen Extremen: dem Dialog (Rosenzweig ist ganz bestimmt z.B. vom Dichten Goethes) und dem Konflikt, der anpassenden Übernahme und der verschärfenden Trennung. . Er endet, so wollen wir unterstellen, bei Lessing – so landet er schließlich als Humanist: bei des Aufklärers Parallelisierung der dogmatischen Absolutheitsansprüche der einzelnen Religionen. Ob er damit innerhalb der Judenschaft die Mehrheitsmeinung vertritt, ist wohl unklar.

[...]


[1] Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998

[2] Vgl. das Lemma mrh iim Gesenius [dem großen Wörterbuch des Hebräischen]: der Vernichtung weihen, weil das Betreffende Gegenstand es göttlichen Zornes ist, besonders von den Verfahren der Israeliten mit feindlichen eroberten Städten. Die Angelegenheit ist sehr komplex, das Wort semitisch verwandt mit Harem, o my god.

[3] Für eine umständliche [das ist Goethes Sprachgebrauch, heute: ausführliche] Entfaltung vgl. E. Leibfried, Die Bibel, dargestellt für die Gebildeten unter ihren Verächtern. Band 1 Genesis: Vorgeschichten – Frühgeschichten – Urgeschichten. 224 S. 2003, ISBN 3–932289–81–1. Band 2: Exodus bis Joschua: Auszug aus Ägypten – Gesetzgebung auf dem Sinai – Landnahme. 254 S. 2004, ISBN 3–932289–82–X, jetzt auch als ebook.

[4] Dichtung ist oft sensibler als wissenschaftliche Literatur. Glänzend beschrieben hat das Friedrich Gerstäcker in seinem Roman Im Busch, 1864, jetzt auch im Internet.

[5] Avraham Burg, Hitler besiegen: warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss (Aus dem Engl. von Ulrike Bischoff, Frankfurt am Main: Campus-Verlag 2009, 280 Seiten, ISBN 978-3-593-39056-7)

[6] Vgl. dazu Aron Gurwitsch, The field of consciousness, dt. „Das Bewusstseinsfeld“, übers. von Werner D. Fröhlich, Berlin: de Gruyter 1975; Gurwitsch ist Jude aus Vilnius, der sich nach Amerika retten konnte; ich bin stolz darauf, bei ihm ein philosophisches Seminar besucht zu haben, er war ein großartiger Lehrer.

[7] Das zeigt sich gerade wieder beim Jahreswechsel 2011/2012.

[8] Vgl. den Artikel Sklavenvordenker von Jürg Altwegg in der FAZ vom 31. 01. 2006, S. 42.

[9] Stefana Sabin, Die Welt als Exil, Wallstein Verlag, Göttingen 2008, ISBN-10 3835302590, Kartoniert, 41 Seiten.

[10] Griechische Kulturgeschichte, 1898, Burckhardt, GW Bd. 5, S. 270.

[11] Auch dazu meine Bibeldarstellung.

[12] FAZ 21.04.2004, S. N 3

Final del extracto de 66 páginas

Detalles

Título
Israel. Generative Grammatik des Judentums
Subtítulo
Mit einem Blick auf: Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz!, G. Grassens Israel-Gedicht und einem Beitrag zur Beschneidung
Universidad
Justus-Liebig-University Giessen
Calificación
1.0
Autor
Año
2012
Páginas
66
No. de catálogo
V200467
ISBN (Ebook)
9783656279945
ISBN (Libro)
9783656280293
Tamaño de fichero
908 KB
Idioma
Alemán
Notas
Die Arbeit liefert eine Kritik der herrschenden Un-Vernunft und leitet eine Re-Vision lebensweltlicher, kultureller und wissenschaftlicher Rituale ein
Palabras clave
Israel, Holocaust, Grass, Asuchwitz, Auschwitz
Citar trabajo
Prof. Dr. Erwin Leibfried (Autor), 2012, Israel. Generative Grammatik des Judentums, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/200467

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