20 Jahre Wiedervereinigung

Wie solidarisch sind die Deutschen?


Bachelorarbeit, 2011

50 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A. Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Solidarität
2.1. Annäherung an Begriff und Bedeutung
2.2. Perspektiven und Denkmodelle

3. 20 Jahre Wiedervereinigung - Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Ost und West
3.1. Aufbau Ost - ein nie endender Aufholprozess?
3.2. Zufriedenheit und Wohlbefinden der Deutschen

4. Krise des Sozialstaats? Suche nach Gründen
4.1. Bevölkerungsveränderungen
4.2. Wohlstandsveränderungen

5. Solidarität in Deutschland
5.1. Das Rentensystem
5.2. Die gesetzliche Krankenversicherung
5.3. Der Solidaritätszuschlag und der Solidarpakt
5.4. Freiwilliges soziales Engagement in der Zivilgesellschaft
5.5. Die Jugend - eine pragmatische Generation

6. Solidaritätsschwund oder nur ein Strukturwandel? Was muss getan werden, um Solidarität in Deutschland zu fördern?

7. Fazit

B. Literatur- und Quellenverzeichnis

A. Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Westdeutsche - Ostdeutsche Unterschiede überwiegen

Abbildung 2: Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen

Abbildung 3: Zufriedenheit in Lebensbereichen und allgemeine Lebenszufriedenheit

Abbildung 4: Bevölkerungsveränderung 1991 bis 2008

Abbildung 5: Alters- und geschlechtsspezifische Bevölkerung - Vergleich von 1989 bis 2008; in 1000

Abbildung 6: Freiwilliges Engagement und Bereitschaft zum freiwilligen Engagement (1999, 2004, 2009)

1. Einleitung

20 Jahre nach der Wiedervereinigung haben Bilanzen des Einigungsprozesses in Deutschland Konjunktur. Auch der Anlass für diese Arbeit waren der Jahrestag am 3. Oktober 2010 und die emotional geführten öffentlichen Debatten zum Stand der deutschen Einheit. Mehr als 65 Jahre liegen nun die Entscheidungen von Jalta zurück, doch die Folgen der deutschen Aggression sind noch bis heute schmerzhaft zu spüren. Die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg war unnatürlich und von den Siegermächten aufoktroyiert. Als im Jahr 1989 der „Eiserne Vorhang“ fiel, wurden die tiefen Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland, die aufgrund der gegensätzlichen Lebenswege entstanden waren, rigoros entblößt. Auf der einen Seite hatte sich im Westen die ehemalige Bundesrepublik hin zu Demokratie und Marktwirtschaft entwickelt und dem gegenüber stand auf der anderen Seite im Osten eine Parteidiktatur und der Zentralplan der Deutschen Demokratischen Republik, die unter der sowjetischen Führung eine politisch eher abgekapselte Rolle spielte. Aus diesem Grund waren weder Staat, noch Wirtschaft, noch Gesellschaft der ehemaligen DDR für die neu gewonnene Freiheit gerüstet.1 Gewohnte sozialpolitische Leitbilder, Legitimationsideen und Solidaritätsvorstellungen verschwanden und die ehemaligen Bürger der DDR mussten sich von heute auf morgen einem komplett unbekannten System anpassen.2 Doch nicht nur die Menschen mussten ihre individuellen Lebensweisen den neuen Umständen angleichen. Die Wiedervereinigung war in erster Linie eine immense fiskalische Herausforderung. Vereinfacht ausgedrückt verteilten sich Kosten und Lasten auf drei Haushaltsbereiche. Zum einen auf die Haushalte des Bundes, der westdeutschen Gemeinden und der Länder. Zweitens wurden verschiedene Sondervermögen verwendet und drittens die Haushalte der Sozialversicherung. Aufgrund dieser Verteilung ist es schwer, den Umfang der Vereinigungskosten präzise zu ermitteln. Die vorliegende Arbeit wird aber versuchen, diesen in den öffentlichen Diskursen sehr beliebten Streitpunkt näher zu untersuchen, um weitverbreitete Vorurteile zu beseitigen. Zusätzlich werden mögliche Ost-West-Kontraste bezüglich des materiellen Wohlstandsniveaus anhand von aggregierten ökonomischen Indikatoren wie Arbeitslosigkeit und Einkommenverteilung thematisiert. Gerade am Indikator Arbeitslosigkeit, den es in der DDR realsozialistisch nicht gab, werden die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland deutlich, denn nach der Wende waren strukturell bedingt viele Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern weggefallen.3

Neben den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der beiden Landesteile Deutschlands, die in Kapitel 3 hervorgehoben werden, steht das Prinzip der Solidarität im Mittelpunkt der Betrachtungen. Sie scheint heute schwieriger und unwahrscheinlicher denn je zu sein. Bereits aus eigenen Erfahrungen bemerkt man eine sinkende Bereitschaft zu solidarischem Handeln, weil unsere Gesellschaft vermeintlich immer mehr interessenrationale Gesichtspunkte und weniger Werteüberzeugungen fördert. Viele Menschen sprechen sogar davon, dass Sozialnormen nicht mehr als verpflichtend angesehen werden und dass in Deutschland ein Solidaritätsschwund zu konstatieren ist. Ausgehend von dieser These wird in Kapitel 2 methodisch so vorgegangen, dass zunächst die Ursprünge und die begriffliche Bandbreite von Solidarität geklärt werden sollen, um im Anschluss verschiedene Denkmodelle, die für weitere Betrachtungen unabdingbar sind, vorzustellen.

Die Krise des Sozialstaats wird in Kapitel 4 veranschaulicht. Hierbei werden vor allem die Bevölkerungsveränderungen und die Wohlstandsveränderungen ausführlich analysiert. Speziell die demografische Entwicklung in Deutschland muss an dieser Stelle behandelt werden, da sie der Ursprung von aktuellen und zukünftigen Problemen ist. In Kapitel 5 gilt es dann gezielt Bereiche der Solidarität in Deutschland herauszugreifen. Beispielsweise werden in Abschnitt 5.3. der Solidaritätszuschlag und der Solidarpakt, die im Jahr 2010 vermehrt politisch diskutiert wurden, untersucht. Da die Wortstämme der beiden Begriffe mit ihrem unmissverständlichen Bezug zur Solidarität eindeutig mit ihr in Verbindung gebracht werden, stehen sie oftmals als Sinnbild für die Solidarität in Deutschland. Außerdem wird ein besonderer Fokus darauf gelegt, ob der Solidaritätszuschlag, der damals unter erheblichen zeitlichen und politischen Druck beschlossen wurde, heute noch zumutbar ist. Der letzte Abschnitt des Kapitels wird sich vordergründig mit der Jugend in Deutschland beschäftigen. Gerade die Interessen und Einstellungen von Jugendlichen sollen hier im Mittelpunkt stehen, denn sie geben Aufschluss auf die weitere Entwicklung und zeigen, welchen Stellenwert Solidarität in unserem Land zukünftig haben könnte. Kapitel 6 wird am Ende die eingangs genannte These eines Solidaritätsschwundes erneut aufgreifen und zusätzlich werden denkbare Lösungsansätze für eine verstärkte Förderung von Solidarität in Deutschland präsentiert.

Anhand dieser Themen wird letztendlich ein umfassendes aufeinander aufbauendes Gesamtbild von der Solidarität in Deutschland skizziert. Die Synthese aller Abschnitte verbindet 20 Jahre Wiedervereinigung mit der Frage: Wie solidarisch sind die Deutschen?

Gerade weil Solidarität nicht messbar und empirisch in Zahlen auszudrücken ist, kann sich der Leser anhand der objektiv vorgestellten Themenkomplexe sein eigenes Urteil bilden und individuelle Rückschlüsse über die Verhältnisse in Deutschland ziehen.

2. Solidarität

Solidarität ist eines der vier klassischen Sozialprinzipien4, die man als strukturierungs- und verhaltensrelevante normative Grundsätze von Gesellschaften ansieht. Das Solidaritätsprinzip gilt des Weiteren als konstitutives Merkmal des Sozialstaates, was den gesellschaftlichen Zusammenhalt thematisiert. Im Sozialstaat fungiert Solidarität als ethisches und soziales Prinzip in Kontexten, in denen das individuelle Eigeninteresse und das Gemeinwohl divergieren. Solidarität kennzeichnet also im Allgemeinen die Wechselbeziehung zwischen der Gemeinschaft und dem Einzelnen, wobei sich kollektive Verantwortlichkeit und Individualverantwortlichkeit gegenüberstehen. Der Mensch ist seit jeher auf die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen, da er kein isoliertes, sondern ein soziales Wesen ist, braucht er die Gesellschaft um sich zu entfalten.5 Dafür ist es unbedingt notwendig, dass der Einzelne mitunter auf seine persönliche Bedürfnisbefriedigung verzichtet, wenn andere davon negativ betroffen wären. Die Freiheit des Einzelnen kann nämlich schnell zum Quell der Unfreiheit eines anderen werden.6

Auf diesem Zurücknehmen der eigenen Interessen basiert das Prinzip der Solidarität, denn der Mensch vertraut durch seinen Verzicht darauf, dass ihm in eigener Not Hilfe zuteil wird. Daraus ergibt sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl, dass gleichzeitig Voraussetzung für die Entwicklung von Solidarität ist.7 Aufgrund dieser ausgleichenden Funktion von Solidarität wird ein Zustand egalitärer Gleichstellung geschaffen, der dazu beiträgt, aus ihr ein anthropologisch aufweisbares Grundbedürfnis des Menschen zu machen.

Im kommenden Abschnitt werden nun Begriff und Bedeutung von Solidarität näher untersucht. Im Anschluss daran sollen verschiedene Denkmodelle thematisiert und erläutert werden, um im späteren Verlauf der Arbeit Aussagen über die Solidarität in Deutschland treffen zu können.

2.1. Annäherung an Begriff und Bedeutung

Solidarität ist ein normativer Begriff innerhalb gesellschaftlicher Ordnungsmodelle, der viele verschiedene Lebensbereiche tangiert. Doch zunächst soll die Genese des Solidaritätsbegriffs, der sich im Laufe der Zeit von einem juristischen, zu einem sozialen und schließlich zu einem Klassenbegriff transformiert hat, im Vordergrund stehen. Der Begriffskern entstammt dem Rechtsbereich und findet seinen Ursprung in der römisch-rechtlichen Kategorie der Solidarobligation.8 Seine etymologische Herleitung dürfte von den Begriffen solidare (fest zusammenführen), solidum (fester Grund) und solidus (fest, dicht) herrühren. Im Verständnis der Römer bezeichnete Solidarität das Rechtsverhältnis mehrerer Mitschuldner, wobei entweder die Gruppe für ihre Mitglieder haftete oder ein Mitglied für die Gruppe.9 Besonders im 19. und frühen 20. Jahrhundert besaß der Solidaritätsbegriff eine herausragende Relevanz innerhalb gesellschaftlicher Ordnungsmodelle. Er bezeichnete genau wie bei den Römern einen Zustand der Verbundenheit zu Mitmenschen, mit denen man sich in einer ähnlichen sozialen Lage befand, aber auch eine Art „Wir-Gefühl“ trotz Differenzen.

Grundsätzlich ermöglicht solidarisches Handeln freiwillige Kooperation ohne größere Transaktionskosten. Es ist die Fähigkeit des Menschen sich für das Gemeinwohl und für eine gerechtere Verteilung von Lebenschancen einzusetzen und wird so zu einer aktiven Facette des toleranten Handelns.10 Solidarität geht aber viel weiter als Toleranz, denn sie kann sowohl materielle als auch symbolische Unterstützung sein und ist damit eine Verbundenheit durch latente Reziprozität. Auch für Karl Otto Hondrich stellt die Gegenseitigkeit das Grundprinzip des menschlichen Handelns dar, wobei er folgende Eingrenzung vornimmt:

„Solidarität bildet sich nur unter Menschen, die sich, zumindest in einer Beziehung, als Gleiche verstehen. Ich tue etwas für den anderen und damit zugleich etwas für mich. Das ist der Urakt aller Solidarität. Der andere handelt genauso oder würde es tun [].

Daß diese Gegenseitigkeit eine nicht einklagbare, ja oft eine nicht ausgesprochene ist, macht ihre besondere moralische Qualität und Differenz zum Kontakt aus. Solidarität ist latente Reziprozität unter Gleichen.“11

Auf der anderen Seite muss man aber an dieser Aussage kritisieren, dass Solidarität durchaus auch eine reine Vorleistung bleiben kann. Eine Idee der Gegenseitigkeit oder Gegenleistung ist also nicht unbedingt in jedem Fall gegeben. Richtig ist aber, dass aus subjektiver Sicht Solidarität niemals einseitig sein dürfte, denn sowohl Solidaritätsempfänger als auch der Solidaritätsspender erfahren eine psychische Stärkung bei der Ausübung von Solidarität. „Letztendlich wird also aus einer Subjektivität, nämlich dem Wohlbefinden des Einzelnen aufgrund von Solidarität, eine Objektivität, nämlich das Wohlbefinden und der Erfolg einer Gemeinschaft.“12 Fraglich bleibt an dieser Stelle aber die tatsächliche Rückkopplung zwischen Spender und Empfänger, die kritisch betrachtet in größeren Gemeinschaften nicht mehr so funktioniert, wie sie ursprünglich angedacht war. Gerade die anonymen Verteilungssysteme sorgen für einen wie auch immer gelagerten Gerechtigkeitsanspruch, der die entscheidende Grundlage eines „Wir-Gefühls“ vermissen lässt. Zwar ist Solidarität nicht einklagbar, jedoch gerät der Aspekt der Freiwilligkeit bei solchen Systemen in eine bedenkliche Schieflage.13

Solidarität sprengt außerdem die Grenzen der Gruppe und ist abzugrenzen von Liebe, Sympathie oder einfachem Mitleid, obwohl sie häufig durch Betroffenheit ausgelöst wird. Man muss voraussetzen, dass der Einzelne dazu bereit ist, die Lasten anderer zu tragen, ohne sie zu kennen und gleichzeitig erfordert Solidarität die Bereitschaft, Zuwendungen anderer in Anspruch zu nehmen. Hier wird die enge Verbindung von Solidarität mit subsidiärem Handeln deutlich, denn das Prinzip der Subsidiarität sagt allgemein aus, dass die kleinere Einheit gefördert werden muss und nur dann Solidarität ins Spiel kommen darf, wenn sie allein ihre Aufgaben nicht bewältigen kann und Hilfe von der größeren Einheit benötigt.

Leider ist die Grenze, wie weit Hilfeleistungen gehen, nicht eindeutig zu bestimmen und auch die Semantik des Begriffes scheint verbraucht zu sein. Dieser Nachteil von positiven Geboten ist allgemein bekannt und wird viel zu oft missbraucht, indem einem kritischen Argument sofort eine unsoziale Haltung vorgeworfen wird.14

In unserer Gesellschaft ist das Bild von Solidarität leicht verschoben, denn „Solidarität wird weiterhin als etwas gesehen, was ohne absehbaren Nutzen für den Gebenden eingefordert werden kann, was im Umfang grenzenlos ist, so wie auch die Reichweite von Solidarität offenbar als grundsätzlich unbegrenzt eingeschätzt wird.“15 In Wirklichkeit ist Solidarität jedoch tatsächlich in ihrem Umfang grundsätzlich begrenzbar und nach ihrer Reichweite immer begrenzt.16 Wie im Verlauf der Arbeit zu sehen sein wird, verschieben sich die Solidaritätsgrenzen in Krisenzeiten und das Auftauchen von Solidarität ist wesentlich mit den aufkommenden Problemen in modernen Industriegesellschaften verbunden.17

2.2. Perspektiven und Denkmodelle

Moderne Gesellschaften kann man heutzutage als Risikogesellschaften bezeichnen, denn beispielsweise sehen sich wachsende Teile der Bevölkerung bedroht, aus der sozialstaatlichen Sicherung wieder ausgegliedert zu werden. Gesellschaftliche Phänomene wie die Massenarbeitslosigkeit, aber auch die Erosion der Familie führen zur Gefährdung der humansozialen Lebensgrundlagen, was sich in den vermehrten Individualisierungstendenzen widerspiegelt. Der zunehmende Egoismus in der Gesellschaft drosselt Solidarität und fördert ein zweckrationales Verhalten. An diese veränderten Gegebenheiten muss sich nicht nur die deutsche Sozialpolitik anpassen. Auch die Zerstörung ökologischer Lebensgrundlagen macht ein wirtschaftliches Umdenken notwendig, da die Solidarität mit künftigen Generationen und ihren Lebensbereichen von mehreren Faktoren abhängig ist.

Um diese Faktoren zu verstehen, ist es unabdingbar, dass man die verschiedenen Reichweiten von Solidarität kennt. Der Einfachheit halber werden nur drei Solidaritätsreichweiten vorgestellt, da sie für die weiteren Betrachtungen von Nöten sind. Wie schon erwähnt beschränkt sich Solidarität nicht nur auf die Gruppe, der man sich zugehörig fühlt. So geht die sogenannte Makrosolidarität über nationale Grenzen hinaus. Zum Beispiel wird bei Naturkatastrophen im Ausland verstärkt zu Spenden aufgerufen und an die Hilfsbereitschaft der Menschen appelliert. Als Zweites gibt es die Mesosolidarität, die sich durch eine nahe und eine ferne Variante unterscheidet. Durch sie werden Verbindungen geknüpft, welche die Grenzen des primären Lebensraumes überschreiten. Die Menschen werden dazu veranlasst, sich in die Lage anderer hineinzuversetzen, was wiederum ihre Sozialkompetenz erhöht. Letztendlich gibt es dann noch die Mikrosolidarität, der man Aspekte der Lebenswelt zuordnet.18 Sie ist nicht nur auf zwischenmenschlicher Ebene, sondern in modernen Gesellschaften auch auf institutioneller Ebene organisiert. Hierbei dürfte die Denkfigur des Gesellschafts- bzw. Sozialvertrages das wohl bekannteste und auch älteste Konzept von Solidarität sein. Es hat seinen Ursprung in der Antike und ist über Rousseaus Herrschaftsvertrag zum permanenten Sozialvertrag ohne Herrschaftsunterwerfung gereift.

In Deutschland regelt der Sozialvertrag nicht nur die sozialstaatlich organisierte Solidarität zwischen den Generationen, sondern auch die Beziehungen innerhalb einer Generation.19 Anhand der Sozialversicherung kann man sehr gut das Solidaritätsprinzip erläutern. Zwar verweist das Äquivalenzprinzip des Versicherungsgedankens auf die Identität zwischen Leistung und Gegenleistung, aber im Gegensatz zur Privatversicherung basiert sie auf dem Prinzip der Solidarhilfe. Vereinfacht ausgedrückt hat derjenige Anspruch auf Sozialleistung, der Versicherungsbeiträge gezahlt hat und man erhält nur Leistungen gegen finanzielle Gegenleistungen.

Des Weiteren gibt es unterschiedliche Typen von Solidarität, wobei speziell die interpersonelle und die intergenerationale Solidarität an dieser Stelle genannt werden sollen. Bei der interpersonellen Solidarität handelt es sich um eine Umverteilung zwischen Personen und Haushalten, während intergenerationale Solidarität eine Umverteilung von Aktiven zu Inaktiven innerhalb einer Alterskohorte umfasst.20

Oft hört man auch von der Idee einer universellen Solidarität, die alle Menschen einschließen müsse. Wie aber gezeigt wurde, ist Solidarität eher als gemeinsam geteilte Lebensform und nicht als Tugend oder individuelle Hilfeleistung zu verstehen. Daher dürfte diese Idee als Utopie bezeichnet werden, denn wie kann man fordern, sich mit allen Menschen solidarisch zu verhalten, wenn noch nicht einmal die Solidarität in einer Gruppe ausnahmslos gegeben ist?21

Im nächsten Kapitel wird nun der Fokus auf die deutsche Wiedervereinigung gelegt. Gerade anhand der Unterschiede und Gemeinsamkeiten soll verdeutlicht werden, inwiefern 20 Jahre nach der Einheit tatsächlich eine Nation entstanden ist.

3. 20 Jahre Wiedervereinigung - Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Ost und West

Wenn man heute nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Deutschen in Ost- und Westdeutschland fragt, werden vor allem die Unterschiede betont. Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, überwiegen für 42% der Westdeutschen 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer die Unterschiede und nur 20% sehen mehr Gemeinsamkeiten. Auch in den neuen Bundesländern herrscht die Einstellung vor, dass die Unterschiede zwischen beiden Landesteilen überwiegen, denn 63% der Befragten bejahen diesen Punkt und nur 11% meinen die Gemeinsamkeiten würden dominieren.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Westdeutsche - Ostdeutsche Unterschiede überwiegen22

Bedenkt man, dass das Empfinden der Verschiedenheit kurz nach der Wiedervereinigung noch stärker war und die Unterschiede in der gegenseitigen Wahrnehmung im Laufe der Zeit immer weniger wurden, sind diese Werte durchaus verblüffend. Wie später anhand des Verlaufes der gegenseitigen Wahrnehmungen noch gezeigt werden wird, ist das subjektive Empfinden von Unterschieden gerade in den letzten Jahren wieder angestiegen, doch zunächst soll ein kurzer Blick auf die Ausgangssituation nach der Wiedervereinigung geworfen werden.

Die friedliche Revolution in der DDR war nicht nur ein Aufbegehren gegen das bestehende politische System, denn es machte sich auch zunehmend eine verstärkte Unzufriedenheit über die wirtschaftlichen Verhältnisse, den desolaten Zustand von Infrastruktur, Wohnungswesen und Umwelt breit. Es ist nicht zu leugnen, dass durch den Beitritt eines kollabierenden Staates, wie es die DDR ohne jeden Zweifel war, zu einem größeren deutschen Kernstaat Unterschiede und Gemeinsamkeiten vorhanden waren und noch immer sind. Wollten die Bürger in den neuen Bundesländern so schnell wie möglich so leben können wie westdeutsche Bürger, so wollten diese weder ihren Lebensstil noch die „sozialistischen Errungenschaften der DDR“ übernehmen. Schnell wurde die anfängliche Euphorie der deutschen Einheit gedämpft, denn man musste sich eingestehen, dass die Differenzen zwischen beiden Landesteilen noch zu groß und die blühenden Landschaften noch viele Jahre von der Realität entfernt waren. Durch diese Enttäuschung können teilweise die identitätsstiftende ostdeutsche Trotzreaktion und auch die westdeutschen Überlegenheitsgefühle erklärt werden.

Trotzdem sieht heute die Mehrheit der Deutschen die Vereinigung eher mit Freude als mit Sorge. Die Sehnsucht nach alten Zeiten ist mehr konstruiert und sowohl in Ost als auch in West gleichermaßen verbreitet, wobei entgegen der öffentlichen Wahrnehmung mehr Menschen eine Westalgie umtreibt als eine Ostalgie und so sagen eine Zweidrittelmehrheit der Westdeutschen, dass es Deutschland zwischen 1945 und 1989 am Besten gegangen sei.23 Auf der anderen Seite blenden viele Angehörige der älteren Generationen in Ostdeutschland die negativen Aspekte der sozialistischen Diktatur aus und erinnern sich vor allem an die positiven Seiten. Aber wie gesagt, die Nostalgien dürften eher Fiktion als Ausdruck realer Sehnsüchte sein.

Im Gegensatz dazu sind die Vereinigungskosten ein beliebter „Zankapfel“ zwischen Ost und West. Niemand konnte sich 1990 vorstellen, welches Ausmaß sie annehmen würden und allein die illusionäre Vorstellung bereits im Angebot der Währungsunion, man könne ohne zusätzliche Einnahmen und Verschuldung die Vereinigung finanzieren, spiegelt diesen Irrtum wider.24 Bereits 1991 begann ein rasanter Aufholprozess der neuen Länder. Es kam zur vermehrten Gründung neuer Unternehmen und auswärtige Investoren finanzierten den Aufbau neuer Produktionsstätten. Insbesondere wurde das Wachstum vom Baugewerbe getragen, das vom hohen Nachholbedarf bei der Verkehrsinfrastruktur und im Wohnungswesen profitieren konnte. In der Industrie war der Aufschwung aber verzögert, weil die Produktionsstätten mehr Zeit benötigten.

Gegenläufig zu diesem enormen Wachstum war hingegen die Entwicklung am Arbeitsmarkt. Moderne Produktionsstätten benötigten deutlich weniger Personal, wodurch die Zahl der Erwerbstätigen abnahm und die Arbeitslosigkeit stetig anstieg. Gerade bezüglich dieser Entwicklung wird häufig vonseiten der neuen Bundesländer darauf hingewiesen, dass die Verfassung den Bund verpflichtet, gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet herzustellen. Was viele Menschen jedoch nicht wissen, dass mit „gleichwertig“ nicht wie oft angenommen gleiches Einkommen oder individuelle Lebensverhältnisse, sondern Infrastruktur, Bildung und Verkehr gemeint sind.25

Betrachtet man die Abbildung 2, so fällt schnell auf, dass es 2006 so schien, als ob die Zahl derjenigen, die mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten sahen, deutlich geschrumpft sei, während der Anteil der Gemeinsamkeiten gestiegen war. Damals konnte man durchaus davon ausgehen, die Menschen seien in ihrer subjektiven Wahrnehmung zusammengewachsen und auch die Frage der Identität zeigt, dass sich 2006 mehr Ostdeutsche als Deutsche fühlten. Womöglich lassen sich die Ergebnisse anhand der nationalen Euphorie angesichts der Fußballweltmeisterschaft erklären, denn kurz danach hatte sich die Stimmung innerhalb der Bevölkerung wieder eingetrübt und die Ernüchterung über die Realität führte unter anderem zu einer Renaissance sozialistischen Gedankenguts.

Klaus Schröder sieht diese Entwicklung genauso, denn auch für ihn besteht „weiterhin eine Differenz in der positiven Beurteilung der politischen Ordnung und des Wirtschaftssystems; die schwindende Zustimmung in beiden Landesteilen lässt sich jedoch nicht mehr übersehen.“26

[...]


1 Vgl. Institut für Wirtschaftsforschung Halle (Hrsg.): Ostdeutschlands Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren, Halle 2009, S. 5. Siehe auch: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): 20 Jahre Deutsche Einheit. Wunsch oder Wirklichkeit, Wiesbaden 2010, S. 6.

2 Vgl. Sesselmeier, Werner/ Yollu-Tok, Aysel: Sozialstaat versus Marktwirtschaft, in: Glaab, Manuela/ Weidenfeld, Werner/ Weigl, Michael (Hrsg.): Deutsche Kontraste 1990-2010. Politik - Wirtschaft Gesellschaft - Kultur, Frankfurt am Main 2010, S. 239.

3 Vgl. Sesselmeier, Werner/ Yollu-Tok, Aysel: Sozialstaat versus Marktwirtschaft, S. 240f.

4 Neben Solidarität sind dies Personalität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit. Grundsätzlich unterliegen diese Prinzipien der Gestaltungsverantwortung des Menschen.

5 Vgl. Homeyer, Josef: Solidarität. Reformbarrieren überwinden - Eigenverantwortung stärken - Solidarität ermöglichen, in: Deufel, Konrad/ Wolf, Manfred (Hrsg.): Ende der Solidarität? Die Zukunft des Sozialstaats, Freiburg im Breisgau 2003, S. 217f.

6 Solidarität als die demokratische Realisierung individueller Freiheit. Siehe dazu: Brunkhorst, Hauke: Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 12-15.

7 Vgl. Arnold, Michael: Solidarität 2000. Die medizinische Versorgung und ihre Finanzierung nach der Jahrtausendwende, Stuttgart 1995, S. 8. Siehe auch: Jutzi, Sebastian: Zertrümmerung, Werteverlust und Misstrauen - Das Individuum als Schlüssel zur Solidarität, in: Edition Büchergilde: Eine egoistische Gesellschaft? Leben zwischen Individualismus und Solidarität, Frankfurt am Main 2004, S. 148.

8 Vgl. Kampmann-Grünewald, Andreas: Solidarität oder „Sozialkitt“? Der Strukturwandel freiwilligen gesellschaftlichen Engagements als Herausforderung christlicher Praxis, Münster 2004, S. 305-307.

9 Vgl. Tragl, Torsten: Solidarität und Sozialstaat. Theoretische Grundlagen, Probleme und Perspektiven des modernen sozialpolitischen Solidaritätskonzeptes, München und Mering 2000, S. 33.

10 Vgl. Ebd., S. 80f.

11 Hondrich, Karl Otto: Der Neue Mensch, Frankfurt am Main 2001, S. 105.

12 Jutzi, Sebastian: Zertrümmerung, Werteverlust und Misstrauen - Das Individuum als Schlüssel zur Solidarität, S. 150.

13 Vgl. Hengsbach S. J., Friedhelm: Solidarität in der Marktwirtschaft. Über die ethischen Grundlagen einer sozialen Gesellschaft, in: Böttcher, Wolfgang/ Eibeck, Bernhard/ Schlömerkemper, Jörg (Hrsg.): Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 4. Beiheft 1997, Bildung und Solidarität. Über das nicht selbstverständliche Verhältnis zweier Konzepte und ihre pädagogische Bearbeitung in der Praxis, Frankfurt am Main 1997, S. 25.

14 Vgl. Wunder, Dieter: Bildung und Solidarität. Anstöße zur Eröffnung einer notwendigen Debatte, in: Böttcher, Wolfgang/ Eibeck, Bernhard/ Schlömerkemper, Jörg (Hrsg.): Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 4. Beiheft 1997, Bildung und Solidarität. Über das nicht selbstverständliche Verhältnis zweier Konzepte und ihre pädagogische Bearbeitung in der Praxis, Frankfurt am Main 1997, S. 13. Siehe auch: Frankenberg, Günter: Solidarität durch Konflikt. Über Bildung und die Notwendigkeit einer zivilen Streitkultur, in: Böttcher, Wolfgang/ Eibeck, Bernhard/ Schlömerkemper, Jörg (Hrsg.): Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 4. Beiheft 1997, Bildung und Solidarität. Über das nicht selbstverständliche Verhältnis zweier Konzepte und ihre pädagogische Bearbeitung in der Praxis, Frankfurt am Main 1997, S. 17.

15 Arnold, Michael: Solidarität 2000. Die medizinische Versorgung und ihre Finanzierung nach der Jahrtausendwende, S. 29.

16 Nach ihrem Umfang ist Solidarität durch das Recht autonom über seine eigenen Mittel zu verfügen und nach der Reichweite durch die Beschränkung auf Gruppen, denen man sich nicht zugehörig fühlt, begrenzt.

17 Vgl. Tragl, Torsten: Solidarität und Sozialstaat. Theoretische Grundlagen, Probleme und Perspektiven des modernen sozialpolitischen Solidaritätskonzeptes, S. 82-88.

18 Vgl. Tragl, Torsten: Solidarität und Sozialstaat. Theoretische Grundlagen, Probleme und Perspektiven des modernen sozialpolitischen Solidaritätskonzeptes, S. 95-117.

19 Vgl. Ebd., S. 124-126.

20 Vgl. Ebd., S. 158-160.

21 Vgl. Kampmann-Grünewald, Andreas: Solidarität oder „Sozialkitt“? Der Strukturwandel freiwilligen gesellschaftlichen Engagements als Herausforderung christlicher Praxis, S. 309-315.

22 Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 10036, April 2009, entnommen aus: Institut für Demoskopie Allensbach: Ostdeutsche - Westdeutsche. Für die Mehrheit im Osten überwiegen heute wieder deutlicher die Unterschiede, Allensbacher Berichte, 2009/ Nr. 7, URL: http://www.ifd-allensbach.de/pdf/prd_0907.pdf (abgerufen am 15.12.2010), S.2.

23 Vgl. Schroeder, Klaus: Das Zusammenwachsen Deutschlands und die Kosten der deutschen Einheit, in: Politische Studien, Themenheft 1/2010, 20 Jahre Deutsche Einheit, S. 88-102, URL: http://www.hss.de/uploads/tx_ddceventsbrowser/PS-Themenheft-2010-1_03.pdf (abgerufen am 15.12.2010), S. 92f.

24 Vgl. Schroeder, Klaus: Das Zusammenwachsen Deutschlands und die Kosten der deutschen Einheit, S. 95.

25 Vgl. Ebd., S. 98.

26 Ebd., S. 100.

Ende der Leseprobe aus 50 Seiten

Details

Titel
20 Jahre Wiedervereinigung
Untertitel
Wie solidarisch sind die Deutschen?
Hochschule
Universität der Bundeswehr München, Neubiberg
Note
2,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
50
Katalognummer
V200504
ISBN (eBook)
9783656300267
Dateigröße
1107 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
20 Jahre Wiedervereinigung, solidarisch, Deutschen, Wiedervereinigung
Arbeit zitieren
Master of Arts Alexander Eichler (Autor:in), 2011, 20 Jahre Wiedervereinigung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/200504

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