Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
A. Von der Gründungsphase bis zur Expansion
B. Gewährleistet die Gesamtschule eine höhere Chancengleichheit und bessere
Schulleistungen im Vergleich zum traditionellen Schulsystem?
1. Bildungspolitische Motive für die Entstehung der Gesamtschule
2. Charakteristiken des neuen Schulsystems im Vergleich zum traditionellen
3. Problematiken bei der Evaluation von Schulsystemen
4. Systemvergleichende Schulleistungsstudien in der Bundesrepublik
4.1 Die Gesamtschulstudie im Flächenversuch Wetzlar (Hessen)
4.1.1 Ausgangslage
4.1.2 Leistungsvergleich am Ende des 6. Schuljahres
4.1.3 Leistungsvergleich am Ende der Pflichtschulzeit
4.2 Die Schulleistungsstudie in Nordrhein-Westfalen
4.2.1 Ausgangslage
4.2.2 Situation am Ende des 6. Schuljahres
4.2.3 Situation am Ende der Pflichtschulzeit
5. Abschlüsse und Chancengleichheit
C. Aktuelle Zahlen und die derzeitige Gesamtschulsituation
Literaturverzeichnis
A. Von der Gründungsphase bis zur Expansion
„Die Zahl der Benachteiligten aus den Unterschichten, insbesondere mit Migrationshintergrund, ist in keinem anderen OECD-Land so hoch wie bei uns. Der Zusammenhang mit der frühen Selektion nach Klasse 4 ist offensichtlich.“ (vgl. Wunder 2007, S. 25). Diese erschreckende Tatsache ist das Ergebnis von international vergleichenden Studien wie PISA und TIMSSD. Der Bayerische Bildungsbericht 2009 spricht es erneut an: „das hochselektive bayerische Schulsystem kann nicht angemessen auf Herausforderungen der Zukunft reagieren“ (BLLV 2010, S. 1). Das schlechte Abschneiden Deutschlands führt derzeit in Politik und Gesellschaft zu heftigen Diskussionen über die Schulstrukturen in der Bundesrepublik. In diesem Zusammenhang tritt besonders die Gesamtschule in das Blickfeld, da Länder, die in PISA positiv herausstechen, ein solches Schulsystem führen (vgl. Wunder 2007, S. 24). Trotz mittlerweile über 30-jähriger Entwicklungsgeschichte, ist die Gesamtschule ein umstrittenes Thema geblieben. Im Unterschied zu den meisten Ländern der Welt, deren Schulsystem neu strukturiert wurde und fast alle Schüler bis zum Ende der Grundbildungsphase zusammenfasst, hielt Deutschland an seiner Vielgliedrigkeit fest (vgl. Wenzler 2003, S. 65). Die Frage, welche Schulart nun zu einer Verbesserung von sozialer Ungerechtigkeit, schlechten Leistungen und der hohen Quote an Sitzenbleibern führen kann, muss schnellstmöglich beantwortet werden (vgl. ebd., S. 83). Identische Überlegungen zu denselben Problemen gab es schon in den 60er Jahren. Damals startete der Deutsche Bildungsrat als Antwort den Gesamtschulversuch (vgl. Geißler 2004, S. 362). Was sind nun Ergebnisse dieses Versuches, in den Politiker wie auch Eltern große Hoffnungen setzten? Gewährleistet die Gesamtschule bessere Leistungen und eine höhere Chancengleichheit im Vergleich zum traditionellen Schulsystem?
Im Folgenden werden unter anderem Verlauf und Ergebnisse von Untersuchungen in zwei ausgewählten Bundesländern vorgestellt. Als Abschluss erfolgt eine Zusammenfassung zur Beantwortung der Themenfrage und ein Blick auf die derzeitige Gesamtschulsituation.
B. Gewährleistet die Gesamtschule eine höhere Chancengleichheit und bessere Schulleistungen im Vergleich zum traditionellen Schulsystem?
1.) Bildungspolitische Motive für die Entstehung der Gesamtschule
In der Artikelserie von Georg Picht Mitte der 60er Jahre war von einer Bildungskatastrophe die Rede. Als Analogie zum PISA Schock hat diese damals aber wohl einen noch größeren Effekt ausgeübt. Darin wurde offen gelegt, dass Deutschlands Bildungssystem im internationalen Vergleich rückständig sei, bezogen auf Planung, materielle Investitionen und Leistungsergebnisse in der Bildung (vgl. Wenzler 2003, S. 71). Man ging davon aus, dass die Schule der 50er Jahre modernisierungsrückständig sei und dieser Zustand mit neuen sozialtechnologischen Erfahrungen beheben werden müsse (vgl. Tillmann 1996, S. 65). International vergleichende bildungsökonomische Arbeiten befürchteten das Ausbleiben der Hochqualifizierten, was die Konkurrenzfähigkeit der Bundesrepublik gefährden könnte (vgl. Köller 2008, S. 439). Als Reaktion veröffentlichte die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats 1969 die Empfehlung „zur Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen“ (vgl. BLK[1] 1982, S. 30). In der Formulierung folgender Zielvorstellungen wird der pädagogisch-soziale Bezug deutlich sowie die Kritik am gegliederten Schulsystem (vgl. Tillmann 1996, S. 64):
- „Chancengleichheit für alle“
- „Förderung des Einzelnen gemäß Neigung und Fähigkeit“
-„Vermeidung verfrühter Schullaufbahnentscheidungen und deren ständige Korrigierbarkeit
- breites Fächerangebot entsprechend der Vielfalt der Begabungen und der Erfordernisse der Gesellschaft (vgl. Deutscher Bildungsrat 1969, S. 9)
- „gemeinsame soziale Erfahrungen von Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten“
(vgl. ebd., S. 30)
In diesem Zusammenhang sollten die Jahrgangsstufen fünf bis zehn in einer gemeinsamen Schule für alle zusammengefasst werden (vgl. Tillmann 1996 S. 64). Der Gesamtschulversuch ist als Experiment aufzufassen, über dessen Bewährung an Hand begleitender empirischer Untersuchungen entschieden werden sollte. Diese waren geplant für einen Zeitraum von zehn Jahren und umfassten 40 Schulen in allen Bundesländern. Die Gesamtschule sollte das traditionelle Schulsystem einmal ersetzen, nicht ergänzen (vgl. ebd., S. 66). In diesem Kontext war es also ein Motiv dieser Bewegung, die Bildungseinrichtungen zu modernisieren und effektiver zu gestalten. Eine zweite Absicht drückt sich in der herrschenden sozialen
Ungerechtigkeit aus: die Erschwernis des Bildungszugangs sollte erleichtert werden um damit den benachteiligten Schichten, insbesondere den Kinder der Arbeiterklasse, bessere Chancen der Entwicklung einzuräumen (vgl. ebd., S. 65). Die Kultusminister beschlossen im selben Jahr, zwei Gesamtschulvarianten einzuführen, die kooperative und die integrierte. Im Folgenden werden die wichtigsten Kennzeichen des neuen Schulmodells dem bisherigen System gegenüber gestellt.
2) Charakteristiken des neuen Schulsystems im Vergleich zum traditionellen
Bei diesem Vergleich wird nur auf die integrierte Gesamtschule Bezug genommen, da die
[1] BLK: Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung
kooperative Form nicht viel gemeinsam hat mit der eigentlichen Reformidee. Letztere lässt nämlich lediglich die klassischen drei Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium aus schulorganisatorischen Gründen in einer Einrichtung nebeneinander bestehen (vgl. Köller 2008, S. 437). Im Gegensatz dazu und zum gegliederten System ersetzt die integrierte Gesamtschule alle drei Schultypen durch einen Neuentwurf der Sekundarstufe 1. Oftmals beinhaltet sie auch eine eigene gymnasiale Oberstufe (vgl. ebd., S. 441). Zentrales Merkmal ist also „eine heterogene Zusammensetzung der Schülerschaft.“ (Wenzler 2003, S. 78) und eine spätere Selektion (Steingaßner 2008, S. 467) als im gegliederten Schulwesen, in welchem sie bereits am Ende der vierten Klasse stattfindet. Als Hauptunterschied bezogen auf den Unterricht ist dessen Organisation vielfältig und flexibel, nicht starr vorgegeben. So enthält er die Jahrgangsklasse, Fachleistungskurse, Wahlpflichtveranstaltungen sowie Wahlangebote (vgl. Köller 2008, S. 441). Zweck des Wahlpflicht- und Wahlbereichs ist es, im Sinne einer Differenzierung nach Neigungen „Profilbildungen“ der Schüler zu ermöglichen und deren individuelle Entfaltung zu unterstützen (vgl. ebd., S. 449). Aber auch in Realschulen und Gymnasien werden Formen der Wahldifferenzierung betrieben. Nur haben sie dort keine so weitreichende Bedeutung. Denn zum einen gehen die in den Pflichtwahlkursen der Gesamtschulen erzielten Noten in die Bewertung des Schulabschlusses mit ein. Zum anderen entscheidet in der siebten Klasse die Wahl des Faches schon über den Schulabschluss mit (vgl. ebd., S. 453). Daneben ist die Fachleistungsdifferenzierung eigentliches Charakteristikum der Organisation des Unterrichts an integrierten Gesamtschulen. Dies betrifft die erste Fremdsprache, Deutsch, Mathematik und oft die Naturwissenschaften. Hier lernen die Schüler in einem Teil der Fächer in festen gemischten Stammgruppen, in dem anderen befinden sie sich in nach Fachleistung zusammengesetzten Gruppen. In letzteren wird im Allgemeinen zwischen Grund- und Erweiterungskurs unterschieden. Zur bestmöglichen Förderung der Schüler werden diese in dem untersten Niveaukurs bewusst in kleinen Gruppen unterrichtet oder bezogen auf die vom Abstieg Gefährdeten in temporär geschaffenen Stützkursen. Zusätzlich bietet sich zumeist halbjährlich die Möglichkeit, seinen aktuellen Kurs zu wechseln (vgl. ebd., S. 450). Im gegliederten Schulwesen hingegen muss die Klasse wiederholt werden, wenn die erforderlichen Leistungen nicht erbracht worden sind. Ein weiterer Aspekt ist die Tatsache, dass eingeschlagene Bildungswege nicht mehr so leicht revidierbar zu machen sind und Abschlüsse zu eng von ihnen abhängen. Der Grad, in dem solche Entscheidungen wieder rückgängig gemacht werden können, und zwar ohne unzumutbare persönliche oder gesellschaftliche Aufwendungen, definiert die Offenheit eines Bildungssystems. Als ihr Maß für das gegliederten Schulwesens wird die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen verwendet (vgl. ebd., S. 458). Ob sich Schulsysteme überhaupt sinnvoll und erfolgreich evaluieren lassen, soll im nächsten Kapitel beantwortet werden.
3) Problematiken bei der Evaluation von Schulsystemen
Wie schon in Kapitel eins erwähnt, begleiteten wissenschaftliche Untersuchungen den Gesamtschulversuch. Doch es gibt eine Reihe von Faktoren, die einen Systemvergleich erschweren und fehlerbehaftet erscheinen lassen. Zunächst einmal waren die eingesetzten Methoden im Bereich Schulleistung mangelhaft, angefangen bei der falschen Beurteilung der Definition von Schulleistung, bis hin zu erheblichen Nachlässigkeiten bei der Analyse der Testergebnisse. Außerdem lagen am Ende der Experimentalphase 1980 noch keine Längsschnittuntersuchungen vor, die Auskunft geben konnten über die Beständigkeit von Leistungsunterschieden. Zusätzlich störend für die wirklichkeitsgetreue Ermittlung von Systemunterschieden war die „ideologiebefrachtete und an politische Positionen gebundene Diskussion“ (vgl. Haenisch & Lukesch 1980, S. 261). Während die einen große Hoffnungen in die Gesamtschule hatten, betrachteten sie andere als etwas Verwerfliches. Hinzu kommt, dass insbesondere Schüler, die der Mittelschicht an Gesamtschulen entstammen, Vorbelastungen in ihrer bisherigen Schullaufbahn aufweisen, wie schlechte Noten oder mehrmaliges Sitzenbleiben. Demzufolge sind die Schüler der beiden unterschiedlichen Schulsysteme nicht zwingend vergleichbar, selbst wenn eine Gleichverteilung von Schichtanteilen gegeben ist. Darüber hinaus ist es schwierig, Ergebnisse aus einem Entwicklungsstadium auf die Regelsituation der Gesamtschule, sprich nach fester Integration als neue Schulform, zu übertragen. Es kann nämlich über einflussnehmende Faktoren spekuliert werden, die sowohl einen positiven Effekt auf neue Schulsysteme haben, wie motivierte Lehrer, als auch einen negativen durch z.B. noch unklare Organisation von innerschulischen Vorgängen (vgl. ebd., S. 262 f.). Zu guter Letzt müsste die Verschiedenartigkeit der Gesamtschularten stärker beachtet werden, da ja Modelle ohne, mit teilweiser und fester Differenzierung eingeführt wurden.
Die eine Gesamtschule existiert also gar nicht, stattdessen aber viele Varianten, die von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich umgesetzt worden sind und deren Ergebnisse deshalb kaum in der Lage sind, Urteile über die Gesamtschule insgesamt zu treffen (vgl. ebd., S. 263). Wie die Untersuchungen nun abliefen und was sie für Resultate erbrachten, wird im nächsten Kapitel an Hand zweier Studien dargestellt.
4) Systemvergleichende Schulleistungsstudien in der Bundesrepublik
Im Folgenden sollen zwei intersystemspezifische Vergleichsuntersuchungen betrachtet werden, womit der Vergleich von Gesamtschule gegenüber dem dreigliedrigen System gemeint ist. (vgl. Haenisch & Lukesch 1980, S. 52). Daten hierfür wurden 1978 in den Bundesländer Hessen und Nordrhein-Westfalen erhoben (vgl. BLK 1982, S. 531). Beide hatten zum Ziel, Gründe zu finden, die Unterschiede in den schulischen Leistungen zwischen Schülern, Schulen und Schulsystemen erklären können. Aber auch die Frage, ob schwache Schüler an Gesamtschulen besser gefördert werden bzw. leistungsstärkere weniger als in traditionellen Schulformen, sollte beantwortet werden (vgl. Haenisch & Lukesch 1980, S. 117).
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