Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Hofmannsthals Neubearbeitung im Unterschied zu den antiken Prätexten
2.1 Formale und inhaltliche Unterschiede
2.2 Hofmannsthals Figurenkonzeption
3. Tod und Wiedergeburt der Tragödie in „Elektra“
3.1 Abschaffung des antiken Chors
3.2 Das komödiantische Moment als Mittel zur Subversion
3.3 Verkörperung des Tragischen in den Frauenfiguren und Wiedergeburt einer neuen Tragödie
4. Psychologisierung des antiken Sujets
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Als Stil schwebte mir vor, etwas gegensätzliches zur Iphigenie zu machen, etwas worauf das Wort nicht passe: >>dieses gräcisierende Product erschien mir beim erneuten Lesen verteufelt human.<< (Goethe an Schiller)“ (v. Hofmannsthal 1997, S.400).
Dieses Zitat ist neben den „Szenischen Vorschriften zu ‚Elektra‘‘‘ nur ein weiterer Beleg für die antiklassizistische Herangehensweise Hofmannsthals an den antiken Atriden – Mythos und die Figur der Elektra, der Protagonistin des vorliegenden Stückes. Im Spiegel seiner Zeit wollte er den „‘Schauer‘ des antiken Mythos“ (Eder 2009, S.127) neu erschaffen, aus einem bildungsbürgerlichen Stück gleichsam ein Werk kreieren, das eher an die Gefühlswelt als an den Intellekt seiner Leser appellieren sollte (vgl. v. Hofmannsthal 1997, S. 309).
Anhand einer psychologischen Neuinterpretation des antiken Sujets gelang es ihm, den Mythos als Gefäß zu nutzen, um dieses mit zeitgenössischen Inhalten zu füllen. Neben der Psychologisierung der Handlung und der Charaktere ist der Einfluss von Friedrich Nietzsches Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872) in der Hofmannsthalschen Version erkennbar.
Auf beide Aspekte soll in nachfolgender Arbeit in Grundzügen eingegangen werden, wobei die Psychologisierung der Charaktere ausschließlich anhand der Protagonistin Elektra dargelegt werden soll.
2. Hofmannsthals Neubearbeitung im Unterschied zu den antiken Prätexten
2.1 Formale Unterschiede
Bereits vor dem offiziellen Beginn der Arbeit an seiner „Elektra“ im Sommer 1903 hat sich Hofmannsthal ab 1892 eingehend mit dem Monolog der Elektra bei Sophokles beschäftigt. (v.Hof. 1997, S.303) Anfangs war das Stück als „seltsame ‚Orestie‘“(v.Hof. (1903) 2001, S.72) mit Fokus auf den mythologischen Protagonisten Orest geplant. (vgl. ebd.). Stattdessen fand eine Konzentration auf die Figur der Elektra statt um sie als instinktgetriebenes Wesen in ihrer ganzen Radikalität darzustellen.
Aus Gründen des Umfangs soll in dieser Arbeit lediglich ein Vergleich zwischen dem sophokleischen Prätext und der Hofmannsthalschen Fassung vorgenommen werden, der die „Choephoren, den mittleren Teil von Aischylos Orestie […], der der Elektrahandlung entspricht“ (Eder 2009, S.129) außen vor lässt.
Der Untertitel „Frei nach Sophokles“ der „Elektra“ von Hofmannsthal belegt die Nähe und Vertrautheit Hofmannsthals zum sophokleischen Original und verweist auf Ähnlichkeiten zwischen der modernen Fassung und dem antiken Prätext (vgl. Gründig 2004, S. 47 f.). Diese lassen sich jedoch lediglich – und auch nur in Teilen - an der formalen Gestaltung des Hofmannsthalschen Stückes fest machen: die grobe äußere Handlung, die entscheidenden Zwiegespräche zwischen den Protagonisten und das Ende - jedoch zugespitzt, denn während in Sophokles Fassung Elektra alleine auf der Bühne zurückbleibt, stirbt sie bei Hofmannsthal – hat Hofmannsthal beibehalten (vgl. Esselborn 1969, S.135). Die Exposition, die Orest und seinen Gefährten Pylades einführt, der dramatische Bericht über Orests Tod sowie der antike Chor (vgl. Worbs 1999, S. 5) sind einer „Vergrößerung der Gestalt der Elektra […] zum Opfer gefallen“ (ebd.). Die äußere Handlung bei Hofmannsthal ist auf ein Minimum reduziert, um die komplexe Seelenwelt und inneren Vorgänge der Figuren ausreichend ausleuchten zu können. So beschließt auch Orest ‚aus sich heraus‘ den Mord an Klytämnestra zu verüben; „die Götter“ (v.Hof. (1903) 2001, S.51) beauftragte ihn zwar mit dem Mord, doch Elektras Aussage, sie „hab[e] die Götter nie gesehen“(ebd.) relativiert Orests Auftrag und zeigt, dass in einer Welt ohne Götter eben diese nicht als Legitimation für die Mordtaten Orests angesehen werden können. (vgl. Eder 2009, S.131). Dies ist ein deutliches Zeichen für die in den Prätexten beginnende Fokussierung auf die Seelenwelt der Charaktere, die in einer völligen Verlagerung von äußerlichen Einflüssen zu inneren Motiven kulminiert (vgl. Worbs 1999, S.15) und in der Beseitigung der Göttersphäre im Stück sichtbar wird, wenn Elektra ausruft: „Es sind keine Götter im Himmel!“ (v. Hof. (1903) 2001, S. 54) – eine Metapher für das metaphysische Defizit der Moderne und die Isolation des Ichs in einer chaotischen Welt ohne Ordnung. In einer Welt ohne jegliche absolute Rechtsprechung lässt sich auch keine Schuldfrage stellen, es fehlt jegliche Diskussion um Schuld und Unschuld in der modernen Fassung, wohingegen bei Sophokles die Bluttat noch durch den Mord an Iphigenie gerechtfertigt wurde (vgl. Eder 2009, S.133).Das Wegfallen des Chors, auf das später noch eingegangen werden soll, ist jedoch wohl die signifikanteste Neuerung Hofmannsthals. Er kann nicht mehr für die nun mehr isolierten Charaktere sprechen, denn „die Spannung zwischen postulierter Einheit des Chors und seine Unmöglichkeit in einer von Innerlichkeit und Individualität geprägten Moderne“ (Eder 2009, S. 135) ist unüberbrückbar. Eine weitere Erfindung Hofmannsthals ist der finale Mänadentanz (vgl. Worbs 1969, S.5), ebenso die Verlegung von Handlungszeit und - ort: das Stück beginnt am Abend statt morgens und Ort des Geschehens ist die „Enge [und] Unentfliehbarkeit“ (v.Hof., Szenische Vorschriften zu „Elektra“ (1903) 2001, S. 65) des Königshofes (Eder 2009, S. 131) – eine weitere Allegorie auf Elektras Gefangenschaft in der Isolation.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Hofmannsthal die Handlungsabfolge seines antiken Vorgängers Sophokles einhält, jedoch das Substrat grundlegend verändert hat.
2.2 Hofmannsthals Figurenkonzeption
Nicht nur formal hat sich Hofmannsthal von den Prätexten entfernt, auch seine Figurenkonzeption ist differenzierter und radikaler. Hofmannsthal hat das antike Personenregister übernommen, dieses jedoch einer deutlichen „Akzentverschiebung“ (Gründig 2009, S. 57) unterzogen.
Protagonisten sind nun drei Frauen – Elektra, Chrysothemis, Klytämnestra -, den Männern des Stücks – Orest und Aegisth – kommt eine untergeordnete Rolle zu. Dies geht sogar so weit, dass Aegisth lediglich einen kurzen Auftritt am Ende des Stückes hat und durch Elektras Charakterisierung letztendlich sogar seiner Männlichkeit beraubt wird: „und jenes andere Weib, die Memme, ei Aegisth, […], der Heldentaten nur im Bett vollführt.“ (v. Hof.(1903) 2001, S. 13). Orest, die ehemals lenkende Instanz der antiken Stücke, besetzt lediglich die Rolle des Muttermörders, der ‚unmännliche‘ Schwäche zeigt („Orest schließt einen Augenblick, schwindelnd, die Augen“ a.a.O., S. 54; „Du zitterst ja am ganzen Leib!“ a.a.O., S. 50). In einer orientierungslosen Welt ohne göttlichen Beistand („Ich weiß nicht, wie die Götter sind. Ich weiß nur, sie haben mir diese Tat auferlegt“, v. Hof. (1903) 2001,S. 51) muss Orest verzweifeln und eine Kontrastfigur zum erfolgreichen sophokleischen Helden bilden.
Da auf die drei weiblichen Hauptpersonen unter dem Punkt „3.3 Verkörperung des Tragischen in den Frauenfiguren“ nochmals ausführlicher eingegangen wird, soll nun lediglich eine kurze Skizze derselben folgen.
Chrysothemis, die Schwester Elektras, bedient die klassische, weibliche Geschlechterrolle im Stück. Sie will den Mord an Agamemnon vergessen und sehnt sich nach einem traditionellen Leben als ‚mulier‘ („Nein, ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal.“ (v.Hof (1903)2001,S. 15). Sie sieht sich durch Elektras Rache – und Hassvisionen bedroht und eingeengt („Du bist es, die mit Eisenklammern mich an den Boden schmiedet.“ a.a.O., S. 14) und symbolisiert damit das Gegenstück zu Elektra, die ihren Hass auf alles Weibliche („hab‘ langes Haar und fühle doch nichts von dem, was Weiber, heißt es, fühlen“ a.a.O., S.44). und ihren Unwillen zu vergessen („ich bin kein Vieh, ich kann nicht vergessen!“, a.a.O., S. 16) maßlos auslebt. Sowohl durch ihre konträre Zeichnung zur klassischen Geschlechterrolle als auch durch ihre abnorme Treue und Liebe ihrem toten Vater und ihren abnormen Hass ihrer Mutter gegenüber tritt sie als radikalste Figur im Stück hervor. Diese Radikalität kommen sowohl in ihrer stark metaphorischen, gewaltigen Sprache („Und ich bin wie ein Hund an ihrer Ferse: will sie in eine Höhle, spring‘ ich sie von seitwärts an“ a.a.O., S.19; „hab‘ geschrieen […] und gewinselt mit den Hunden“ a.a.O., S. 52) als auch in ihrer animalischen Körperlichkeit („Elektra in wildester Trunkenheit“ a.a.O., S.33;) zum Ausdruck. Klytämenstra tritt als Figur auf, die den größten ‚Schein‘ von allen vorführt: im Kern ihres Wesens ist sie abergläubisch ([…] über und über bedeckt mit […] Talismanen“ (a.a.O., S. 20), ihr Verstand schwindet („Was sie ins Ohr dir zischen, trennt dein Denken fort“ a.a.O., S.21) und sie wird in ihren Träumen von Gewissensbissen ob des Mordes an Agamemnon geplagt („Ich habe keine guten Nächte“, a.a.O, S. 24). Nach außen jedoch tritt sie als selbstsichere Königin auf, denn „[sie] leb[t] hier und [ist] die Herrin“ (a.a.O, S. 30). Ihre grausame Verzweiflung ob ihrer schlechten psychischen Kondition tritt dennoch immer wieder zutage („Ich finde mir heraus, was bluten muss, damit ich wieder schlafe“ (a.a.O., S. 31)
[...]