Belastungserleben im Schüleralltag

Inwieweit stellt die Qualifikationsphase für Schülerinnen und Schüler der G8-Jahrgänge eine Belastung dar?


Masterarbeit, 2011

105 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Kurzfassung

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

Teil I: Theoretischer Hintergrund

2 Belastungserleben im Schüleralltag
2.1 Relevanz der Thematik
2.2 Darstellung und Begründung der Untersuchung
2.3 Begriffliche Orientierung
2.3.1 Das theoretische Konzept schulischer Belastung
2.3.2 Das Konzept der Salutogenese
2.3.3 Die G8-Qualifikationsphase im Land Niedersachsen
2.4 Zusammenfassung
3 Stand der Forschung
3.1 Vorstellung einer ausgewählten Studie zum Thema schulische Belastung und Beanspruchung

Teil II: Empirische Untersuchung

4 Darstellung relevanter Methoden
4.1 Das qualitative Forschungsparadigma
4.2 Das halbstrukturierte Leitfadeninterview
4.3 Zirkuläres Dekonstruieren

5 Das Untersuchungsdesign
5.1 Vorbereitung der Untersuchung
5.2 Entwicklung des Leitfadens
5.3 Durchführung der Interviews
5.4 Die Auswertungsphase
5.4.1 Sampling
5.4.2 Step by Step

6 Darstellung der Ergebnisse
6.1 Ergebnisdarstellung Leila
6.1.1 Vorstellung meiner Interviewpartnerin
6.1.2 Mottofindung
6.1.3 Zusammenfassende Nacherzählung
6.1.4 Vertiefende Fallinterpretation
6.2 Ergebnisdarstellung Trisha
6.2.1 Vorstellung meiner Interviewpartnerin
6.2.2 Mottofindung
6.2.3 Zusammenfassende Nacherzählung
6.2.4 Vertiefende Fallinterpretation
6.3 Ergebnisdarstellung Michael
6.3.1 Vorstellung meines Interviewpartners
6.3.2 Mottofindung
6.3.3 Zusammenfassende Nacherzählung
6.3.4 Vertiefende Fallinterpretation

7 Vergleich des Belastungserlebens der Interviewten
7.1 Synopsis
7.2 Typenbildung

8 Diskussion
8.1 Diskussion der Ergebnisse im Spiegel der Forschungsfrage und des theoretischen Hintergrundes
8.2 Ausblick und Konsequenzen für die G8-Reform

9 Reflexion der Forschungsprozesses

Anhang : Transkripte
T.1 Leila
T.2 Trisha
T.3 Michael

Transkriptionsregeln

Leitfaden

Literaturverzeichnis

Erklärung

Kurzfassung

Gegenstand der hier vorgestellten Master Thesis ist eine qualitative Forschungsarbeit, die im Rahmen des Masterabschlussmoduls der Universität Bremen entstanden ist. Die Arbeit wurde im Fach Erziehungswissenschaften verfasst und setzt sich forschend mit dem Thema Belastungserleben im Schüleralltag auseinander. Auf Grund der aktuellen Diskussion um eine eventuelle Überbelastung der Schüler durch die G8-Reform erhält eine empirische Untersuchung zu dieser Thematik eine besondere Legitimation. For- schungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist das subjektive Belastungserleben von G8-Schülern innerhalb der Qualifikationsphase. Anhand von Leitfadeninterviews wurde Datenmaterial an einem niedersächsischen Gymnasium erhoben, um zu ermitteln, in- wieweit die Qualifikationsphase für Schülerinnen und Schüler der G8-Jahrgänge eine Belastung darstellt.

Schlagwörter: Erziehungswissenschaften, Master Thesis, Belastungserleben im Schüleralltag, G8-Reform, Qualifikationsphase

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Struktur des theoretischen Konzepts "schulische Belastung" 19

Abbildung 2: Aufbau der gymnasialen Oberstufe an der Schule XY 24

Abbildung 3: Schwerpunktkombinationen der Schule XY 25

Abbildung 4: Zentrale Interviewkategorien im Vergleich 61

Abbildung 5: Zusammensetzung schulischer Belastungsdimensionen 67

Abbildung 6: Belastungsdimensionen des situativen Bedingungsfeldes 67

1 Einleitung

Die folgende empirische Qualifikationsarbeit ist im Rahmen des M.Ed. Abschlussmoduls im Fachbereich Erziehungswissenschaften entstanden und beschäftigt sich mit dem Belastungserleben im Schüleralltag der G8-Qualifikationsphase.

Die jüngsten Neuerungen, vor allem jene im gymnasialen Bereich des deutschen Schul- systems, haben bundesweit für Aufsehen und Kritik gesorgt. Die sogenannte G8- Reform, die nunmehr in fast allen Bundesländern in Kraft getreten ist, stößt bisher auf wenig Gegenliebe. Das Turbo-Abitur findet bislang nur wenig Anhänger und auch die Schüler selbst können dem neuen System nichts abgewinnen. In einer Ausgabe der re- gionalen Nordseezeitung von 2011 äußern sich betroffene Jugendliche vermehrt negativ zur G8-Reform.1 „Wir lernen nur noch oberflächlich“ oder „Freizeit gibt es nicht mehr“, lauten die vernichtenden Urteile der Schüler.2 Die Unzufriedenheit über die zu hohe G8- Belastung geht mittlerweile soweit, dass Bremer Gymnasiasten zusammen mit Buchau- torin und G8-Kritikerin Brigitta vom Lehn einen Forderungskatalog zusammengestellt haben, der eine komplette Umstrukturierung des G8 verlangt. Auch die Kultusminister der anderen Bundesländer räumen zögerlich kleinere Schwächen der Reform ein, sehen jedoch keinen akuten Handlungsbedarf. „Bei jeder Umsetzung eines Konzeptes in die Wirklichkeit gebe es eben Korrekturbedarf“3, so die Reaktion aus dem Bayrischen Kul- tusministerium.

Es ist diese Gegensätzlichkeit der momentanen Standpunkte, die mich letztlich zu einer empirischen Arbeit in diesem Bereich motiviert hat. Ich unterstelle der G8-Reform nicht zwangsläufig einen negativen Effekt auf das Belastungserleben im Schüleralltag. Fakt ist jedoch, dass die öffentliche Diskussion gerade in den letzten Monaten eine sehr kon- krete Haltung eingenommen hat, die besagt schneller ist nicht immer besser. Intention dieser Arbeit ist es daher nicht, einen Sündenbock zu finden. Vielmehr sehe ich diese Untersuchung als eine Chance, genauer hinzusehen und diejenigen zu befragen, die von den politischen Veränderungen direkt betroffen sind: Die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II. Inwieweit stellt das G8-Abitur wirklich eine konkrete Belastung dar? Sind die Ängste vieler Eltern und Kritiker berechtigt oder gibt es vielleicht gar keine G8-spezifischen Belastungen im Schüleralltag? Diese Fragen gilt es im Rahmen dieser Arbeit zu beantworten.

Bevor nun jedoch das Forschungsvorhaben mit seinen Schwerpunkten und Methoden näher erläutert werden soll, wird zunächst ein kurzer Abriss der politischen und gesellschaftlichen Relevanz der übergeordneten Thematik erfolgen.

Teil I: Theoretischer Hintergrund

Im folgenden Teil dieser Arbeit sollen nun theoretische Konzepte, Prinzipien und Hin- tergründe präsentiert werden, die zusammen mit der Darstellung des konkreten For- schungsanliegens die theoretische Grundlage der empirischen Untersuchung bilden. Ziel der Theorie ist es, die Untersuchung in ein umfassendes theoretisches Bezugsfeld ein- zubinden, um die erarbeiteten Ergebnisse bestmöglich analysieren und diskutieren zu können.

2 Belastungserleben im Schüleralltag

Nachdem ich in der Einleitung bereits in Ansätzen auf Ziel und Konzeption dieser Arbeit eingegangen bin, möchte ich im Folgenden nun auf das konkrete Forschungsanliegen sowie das empirische Design dieser Arbeit eingehen. Zunächst soll jedoch die politische und gesellschaftliche Relevanz der Thematik geklärt werden. Warum ist die Auseinandersetzung mit Belastungen im Schüleralltag besonders im 21. Jahrhundert der Postmoderne eine absolute Notwendigkeit?

2.1 Relevanz der Thematik

Die Diskussion um die Qualität von Schule hat im in den letzten Jahren den politischen Kurs maßgeblich beeinflusst und avancierte binnen kurzer Zeit zur absoluten Priorität im deutschen Bildungsdiskurs. Im Zentrum dieser Diskussion steht vor allem die Frage, wie unsere Schulen den vielfältigen Ansprüchen und gesellschaftlichen Neuerungen der Postmoderne gerecht werden können. Die aktuelle Bildungsdiskussion ist somit weniger eine Diskussion um und über Bildungsinhalte als vielmehr eine Debatte über die Her- ausforderungen der modernen Informationsgesellschaft an den Einzelnen.4 Schule, so will es die Bildungsökonomie, soll ihre Schülerinnen und Schüler entsprechend gut auf diese Herausforderungen vorbereiten, um die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Nation zu sichern.

Was gilt dann aber als gute Bildung? Die bildungsökonomische Antwort auf diese Frage ist so eindeutig wie simpel: Gute Bildung ist „effiziente“, „vermarktbare Bildung“, die jedes Individuum mit den spezifischen Kompetenzen und der „flexiblen Anpassungsbe- reitschaft“ ausstattet, um auf globale Herausforderungen der ökonomischen Gesellschaft entsprechend schnell zu reagieren.5 Bigger, better, faster, more! Das beliebte amerikani- sche Motto scheint mittlerweile auch in der deutschen Schullandschaft gut anzukom- men. Können jedoch Mechanismen der freien Markwirtschaft ohne Einbußen für den Einzelnen auf die sozialen Bereiche Schule und Bildung angewendet werden? Diese Frage scheint vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen durchaus berechtigt:

Nur am Rande berücksichtigt die Diskussion nämlich, dass überlastete Lehrer und Schü- ler heutzutage kaum in der Lage sind, an Maßnahmen der Qualitätsverbesserung mitzu- wirken. Es ist daher auch durchaus kein Zufall, dass Studien zum Thema Lehrergesund- heit derzeit den Markt der Schulqualitätsforschung dominieren. Unsere Lehrer und Leh- rerinnen sind ausgebrannt, so lautet das vernichtende Urteil vieler Langzeitstudien. Was aber ist mit unseren Schülern? Obwohl die Belastung von Schülerinnen und Schülern grundsätzlich als wichtiger Aspekt von Schulqualität gilt, gab es in der Vergangenheit nur wenige Studien, die sich mit dem konkreten Belastungserleben im Schüleralltag auseinandersetzten. Erst die flächendeckende Einführung des sogenannten G8-Abiturs hat das öffentliche und politische Interesse an Schülerbelastungen im Raum der Schule geweckt. Die bundesweite Umstellung vom neunjährigen auf das achtjährige Abitur bietet demnach den idealen Aufhänger für eine qualitative Untersuchung zum Thema Belastungserleben im Schüleralltag.

2.2 Darstellung und Begründung der Untersuchung

Nachdem nun die Relevanz der eigentlichen Thematik hoffentlich einleuchtend dargestellt wurde, möchte ich im nächten Teil meiner Thesis das konkrete Forschungsdesign präsentieren. Diese zusammenfassende Darstellung wird neben dem Forschungsschwerpunkt auch Intention und Methodik der Empirie beinhalten.

Die Diskussion um die Qualität von Schule ist in Deutschland unmittelbar verknüpft mit der Diskussion um die allgemeine Schuldzeitdauer. Aktuelle Studien zur durchschnittli- chen Ausbildungsdauer haben gezeigt, dass deutsche Studierende im internationalen Vergleich deutlich mehr Zeit für ihren Universitätsabschluss brauchen, als in anderen Ländern.6 Die Gründe für diese Entwicklung sind unterschiedlich: Viele angehende Studierende absolvieren vor ihrem Erststudium zunächst eine Berufsausbildung, einen Auslandsaufenthalt oder brauchen schlichtweg länger, um ihre Hochschulreife zu erlan- gen.7 „Das Ergebnis ist, dass deutsche Universitätsabsolventen von weniger als 30 Jah- ren eine Seltenheit sind, während in anderen Ländern, z.B. Großbritannien, fast alle Universitätsabsolventen unter 25 sind.“8 Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken und die akademische Ausbildung in Deutschland zu verkürzen, sind in den letzten Jahren zwei große politische Reformen eingeleitet worden: Die Umstellung auf das internatio- nale Bachelor- und Mastersystem an den Universitäten, sowie die Verkürzung der gym- nasialen Ausbildung von neun auf nunmehr acht Jahre.9 Nachdem das verkürzte Abitur, das sogenannte G8-Abitur, mittlerweile flächendeckend in fast allen Bundesländern eingeführt worden ist, keimt vermehrt Kritik an dem neuen System auf. G8-Gegner, darunter viele Eltern, klagen vor allem über das erhöhte Leistungspensum und die un- verhältnismäßig hohe Stundenzahl, die nun bereits jüngere Schülerinnen und Schüler absolvieren müssen. Weiterhin in die Kritik der G8-Opposition geraten, ist die neu strukturierte Qualifikationsphase, die sich nunmehr über die Jahrgangsstufen elf und zwölf, anstatt wie bisher zwölf und dreizehn, erstreckt. Die verkürzte Vorbereitungszeit auf das Abitur sei angesichts der kaum veränderten Stoffmenge schlichtweg zu kurz argumentieren Befürworter der alten gymnasialen Struktur. "Das G8 setzt die Kinder und Jugendlichen im Gymnasium unter nochmals erhöhten Lerndruck. Die Art des Ler- nens: die Fixierung auf Stoff, die Lehrerfixierung, die geringe Chance für die Schüler, frei zu arbeiten, wird sich nicht ändern, neuere Entwicklungen zu innerer Schulreform werden eher reduziert werden."10 Auch GEW Funktionär Hans Voß bestätigt, was Kriti- ker längst befürchteten und räumt ein „mit Einführung des achtjährigen Gymnasiums hätten sowohl die psychische wie auch die physische Belastung der Schüler zugenom- men.“11

An genau dieser Stelle möchte ich mit meiner Untersuchung ansetzten und fragen: In- wieweit stellt die Qualifikationsphase eine Belastung für Schülerinnen und Schüler der G8-Jahrgänge dar? Diese Frage ist vor dem Hintergrund der momentanen Debatte durchaus berechtigt und folgt als logische Konsequenz aus den aktuell gegensätzlichen Standpunkten. Inwieweit stellt also die G8-Qualifikationsphase für Schülerinnen und Schüler wirklich als Belastung? Gibt es so etwas wie G8-spezifische Belastungen über- haupt oder überwiegen schulische Belastungen, die nicht primär mit dem verkürzten Abitur verknüpft sind? Desweiteren sollen Einflussgrößen ermittelt werden, die das subjektive Belastungserleben von Schülerinnen und Schülern beeinflussen.

Zu Intention dieser Untersuchung sei an dieser Stelle hinzugefügt, dass es sich bei die- ser Arbeit keinesfalls um einen Vergleich mit den G9-Jahrgängen handelt. Es wurden demzufolge ausschließlich Daten zum Belastungserleben von G8-Schülern erhoben, die in keinem Vergleich zu etwaigen anderen gymnasialen Modellen stehen. Die For- schungsfrage ergab sich daher lediglich aus der befragten Kohorte. Es wurden nur G8- Schülerinnen und Schüler interviewt, folglich musste dies auch in der Forschungsfrage spezifiziert werden.

Die Datenerhebung erfolgte anhand von qualitativen Leitfadeninterviews, die im März 2011 an einer gymnasialen Oberstufe in Niedersachsen in einer mittelgroßen Stadt durchgeführt worden sind. Die befragte Kohorte bestand aus sechzehn- bis siebzehnjährigen Jugendlichen, die zum Zeitpunkt der Befragung alle die 11. Jahrgangstufe der G8- Qualifikationsphase besuchten. Die Teilnahme an der beschriebenen Untersuchung war nicht obligatorisch, d.h. alle Befragten haben sich aus freien Stücken zur Teilnahme an den Leitfadeninterviews entschieden.

Motivation

Die Motivation, die hinter dieser Abschlussarbeit verbirgt, ist vornehmlich persönlicher Natur. Während sich die Lehrerbelastung im Sek II Bereich mittlerweile zu einem be- liebten Forschungsgegenstand entwickelt hat, gibt es hingegen nur wenige Studien, die sich mit dem ganz persönlichen schulischen Belastungserleben von Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe auseinandersetzten. Im qualitativen Paradigma sind die Forschungsbemühungen hinsichtlich der Analyse fallspezifischer Schülerbelastun- gen sogar völlig ungenügend. Bereits aus diesem Grund lohnt es sich, empirische Nach- forschungen auf diesem Gebiet anzustellen. Vor dem Hintergrund der bereits angespro- chenen schulpolitischen Reformen sind aktuelle Ergebnisse im qualitativen Forschungs- paradigma zudem schon lange eine absolute Notwendigkeit. Als Abiturientin des ersten zentralen Abiturjahrgangs im Bundesland Niedersachsen weiß ich, welchen Einfluss schulpolitische Reformen auf das eigene Belastungsempfinden haben können. Der im- mense Leistungsdruck rief damals immer wieder neue Stressreaktionen hervor, die mir das Arbeiten zusätzlich erschwerten. Die Angst zu versagen, sprich nicht zu funktionie- ren bzw. die hohen Erwartungen nicht zu erfüllen, war allgegenwertig und bestimmte mein Arbeitsverhalten während der gesamten Qualifikationsphase. Erst Jahre nach mei- nem eigenen Abitur konnte ich mein teilweise obsessives Verhalten als solches reflek- tieren. Heute kann ich viele der subjektiven Deutungsprozesse, die ich in den zwei Jah- ren der Qualifikationsphase vorgenommen habe, nicht mehr nachvollziehen. Vielmehr haben sich die Ängste von damals rückblickend als absolut unbegründet und haltlos erwiesen.

Diese Abschlussarbeit ist für mich daher auch eine Art Aufarbeitungstherapie vergan- gener Ereignisse. Die konkrete empirische Auseinandersetzung mit dem Thema der schulischen Belastung erlaubt es mir, Situationen meiner ganz persönlichen Qualifikati- onsphase neu zu überdenken und vor einem theoretischen Hintergrund zu analysieren. Zudem ergeben sich durch die empirische Berücksichtigung der verkürzten Qualifikati- onsphase neue Faktoren schulischer Belastung, die in die aktuelle Diskussion eingebun- den werden können.

2.3 Begriffliche Orientierung

Anschließend an die Einführung in die Forschungsarbeit soll nun eine theoretische Orientierung stehen, die grundlegende Elemente der Forschungsfrage aufgreift, sie erläutert und in den größeren Kontext dieser Arbeit einbindet.

Die empirische Auseinandersetzung mit meinem Thema erfordert daher zunächst die Klärung der zwei großen Begrifflichkeiten der eingangs gestellten Forschungsfrage: Belastung und G8-Qualifikationsphase. Beide Elemente bilden den empirischen For- schungsschwerpunkt und bedürfen somit besonderer Erläuterung. Im Folgenden soll daher zunächst eine umfassende Einordnung des Begriffes der schulischen Belastung stehen.

2.3.1 Das theoretische Konzept schulischer Belastung

Um die Nachvollziehbarkeit dieser Forschungsarbeit zu gewährleisten, ist die Erläute- rung des der Arbeit zugrundeliegenden theoretischen Arbeitsmodells unumgänglich. Die Darstellung eines konkreten theoretischen Konzeptes, das den Belastungsbegriff definiert und eingrenzt ist desweiteren notwendig, um den größeren Rahmen dieser For- schungsarbeit abzustecken. Überscheidungen, Unklarheiten und Verwechselungen mit anderen Belastungsbegriffen werden auf diese Weise vermieden. Das theoretische Konzept schulischer Belastung von Landwehr, Fries & Hubler (1983)12 empfiehlt sich hier besonders als theoretische Grundlage, da es explizit auf die Belastung von Schüle- rinnen und Schülern Bezug nimmt.

Bevor ich nun aber ausführlich auf die Bedeutung des Theorieentwurfs schulischer Belastung von Landwehr et. al. eingehe, möchte ich ebenfalls die allgemeine Definition von „Belastung“ ansprechen und dabei auch einige wichtige Termini aus der Belastungsforschung erläutern.

Unter dem Begriff „Belastung“ versteht man im Allgemeinen, die kontinuierliche Ein- wirkung verschiedener Faktoren auf eine Person. Wirken diese belastenden Faktoren über einen längeren Zeitraum auf eine Person ein, dann führt dies zu einer erheblichen Beanspruchung des betroffenen Menschen. Verschiedene Belastungen können individu- ell unterschiedliche Auswirkungen auf den Empfänger haben. Nimmt die konstante Be- lastung jedoch einen überdurchschnittlich großen Einfluss auf Psyche und Gesundheit eines Menschen, so sprechen wir in der Regel von Stress. Die Begriffe Stress und Belas- tung sind hier jedoch keinesfalls synonym zu verwenden, da Stress in der Regel nur als Reaktion auf eine direkte Belastung zu werten ist. Das heißt, nicht jede Belastung muss im Stress resultieren, jede Stressreaktion ist jedoch auf eine kontinuierliche Belastung zurückzuführen. An dieser Stelle möchte ich auf den Psychologen Richard Lazarus verweisen, der 1974 das transaktionale Stressmodell vorstellte. Lazarus definierte Stress darin erstmalig in der Geschichte der Belastungsforschung als Wechselwirkung zwi- schen den spezifischen Anforderungen einer Situation und den subjektiven Deutungs- prozessen der betroffenen Person. Ausschlaggebend für die Stressreaktion ist demnach nicht die Art der Belastung, sondern vielmehr die subjektive Bewertung dieser Belas- tung durch die handelnde Person.

Die Bedeutsamkeit der subjektiven Einschätzung potenziell belastender Situationen spielt auch im theoretischen Entwurf schulischer Belastung von Landwehr et. al. eine entscheidende Rolle. Die Autoren unterscheiden in ihrem Modell zunächst zwischen faktischer und potenzieller Belastung, wobei die potenzielle Belastung vornehmlich aus den subjektiven Deutungsprozessen der betroffenen Person resultiert.13 Im Vordergrund dieser subjektiven Deutungen stehen dabei die persönlichen Ansprüche, Interessen, Be- dürfnisse etc. „Sofern die Erfüllung der jeweils aktuellen, subjektiv bedeutsamen An- sprüche als bedroht erscheint, entsteht für das Individuum eine potentielle Belastung, d.h., die subjektiv strukturierte Situation wird zu einer potentiellen Belastungssituati- on.“14 Ob eine potenzielle Belastung zu einer faktischen Belastung wird, hängt von der Interpretation bzw. Einschätzung der jeweiligen Belastungssituation durch das Individuum ab.15 „Eine potentielle Belastung kann je nach Ergebnis dieser Einschätzung im positiven Sinne als Herausforderung oder im negativen Sinne als Fehlanforderung erlebt werden.“16 Das reelle, konkrete Belastungserleben ergibt sich folglich zu großen Teilen aus den subjektiven Deutungsprozessen des Individuums.

Auch wenn die subjektive Deutung des Einzelnen einen großen Teil des Belastungser- lebens von Schülerinnen und Schülern ausmacht, gibt es noch weitere Einflussfaktoren schulischer Belastung.17 Das theoretische Modell von Landwehr et. al. fasst diese Ein- flussgrößen unter der Überschrift „situatives Bedingungsfeld“ zusammen.18 Neben der Qualität der materiellen Sachbeziehung ist hierbei vor allem die Qualität der vorhande- nen Sozialbeziehungen als wichtige Einflussgröße zu nennen. Schülerinnen und Schü- ler sind in der Regel in unterschiedlich strukturierte soziale Netzwerke eingebunden, die ebenfalls Einfluss auf ihr konkretes Belastungserleben nehmen können. Ausschlagge- bend für die Art des Einflusses ist dabei jedoch immer die Qualität bzw. die Beschaf- fenheit der jeweiligen Beziehung. Nicht jede Sozialbeziehung hat automatisch einen positiven Einfluss auf das Belastungserleben von Schülerinnen und Schülern. Auf die konkrete Bedeutung von vorhandenen Sozialbeziehungen werde ich im späteren Verlauf dieser Arbeit noch im Detail eingehen.

An dieser Stelle möchte ich jedoch zunächst auf die Beschaffenheit der bereits erwähnten subjektiv bedeutsamen Ansprüche und Bedürfnisse zurückkommen, da die Wahrnehmung und Interpretation dieser einen wichtigen Teil des individuellen Belastungserlebens ausmacht. Landwehr et. al. unterteilen die „unterrichtsrelevanten“ Grundbedürfnisse in einen „sozialen“ und einen „sachlich-inhaltlichen“ Bereich.19 Der soziale Bereich umfasst gemäß Landwehr et. al. u.a. den Wusch nach:

- sozialer Anerkennung,
- einer harmonischen Interaktion mit wichtigen Bezugspersonen,
- sozialer Unterstützung.20

Auf der sachliche-inhaltlichen Ebene nennen Landwehr et. al. u.a. das Bedürfnis:

- nach einer sinnvollen Beschäftigung,
- nach einer optimalen (motivierenden und überwindbaren) Diskrepanz zwischen Leistungsanspruch und Leistungsvermögen,
- dem eigenen inneren Zeitschema zu folgen,
- nach Handlungserfolg.21

In ihrem Unterrichtsalltag streben Schülerinnen und Schüler ständig nach der Erfüllung dieser elementaren Grundbedürfnisse. Jedoch sind im Kontext Schule Situationen mög- lich, in denen die Erfüllung dieser Bedürfnisse nicht gewährleistet werden kann.22 Ein beliebtes Beispiel für eine solche potenzielle Belastungssituation ist das vergebliche Streben nach Handlungserfolg. Die scheinbar unüberwindbare Diskrepanz zwischen dem eigenen Leistungsanspruch und dem persönlichen Leistungsvermögen gehört zu den Standardbelastungen im Raum Schule. Jedoch, erst wenn die handelnde Person die Nichterfüllung des Grundbedürfnisses nach Erfolg als Versagen wertet, wird aus der potenziellen eine reelle Belastungserfahrung.

Neben den subjektiven Deutungsprozessen und dem situativen Bedingungsfeld existieren gemäß Landwehr et. al. noch weitere Faktoren, die das Erleben schulischer Belastung determinieren. Unter dem situationsübergreifenden Bedingungsfeld fassen die Autoren drei Gruppen von Voraussetzungen zusammen, die den übergreifenden Rahmen des gesamten Modells bilden.23 Als erste Gruppe von Voraussetzungen sind hier zunächst jene Aspekte und Eigenschaften zu nennen, die die betroffenen Schülerinnen und Schüler selbst in die aktuelle Situation mit einbringen.24 Als solche Eigenschaften definieren Landwehr et. al. folgende Faktoren:

- die Qualität und das Niveau der eigenen Ansprüche,
- die Fähigkeit zur Realisierung der eigenen Ansprüche,
- die Strategien zur Bewältigung von auftretenden Schwierigkeiten,
- die Neigung zu einer optimistischen oder pessimistischen Interpretation des subjektiven Umfelds und der eigenen Identität.25

Die individuellen Ansprüche an sich selbst sowie die Qualität der vorhandenen Fähig- keiten und Strategien zur Belastungsbewältigung sind demnach maßgeblich für eine positive oder negative Belastungsreaktion verantwortlich. Gleichermaßen sind es, laut dem Autorenteam, schulische Voraussetzungen, die relevant für das schulische Belas- tungserleben sein können.26 Landwehr et. al. verweisen hier auf Faktoren wie:

- Lehrplananforderungen,
- Klassengröße,
- Obligatorische Lehrmittel,
- Zeugnisse,
- Selektionsvorschriften etc.27

Diese institutionellen Vorgaben können das persönliche Belastungserleben von Schüle- rinnen und Schülern beeinflussen, wenn sie für die jeweilige potenzielle Belastungssitu- ation relevant sind bzw. den subjektiven Deutungsprozess der Schüler determinieren.28

Als dritte und letzte Kategorie situationsübergreifender Bedingungen nennen Landwehr et. al. die gesellschaftlichen Voraussetzungen, also die „normativen Orientierungen, welche das Selbstverständnis einer Kultur bzw. einer Gesellschaft prägen.“29 Die „nor- mativen Orientierungen“ sind eng mit den Inhalten des situativen Bedingungsfeld sowie den subjektiven Deutungsprozessen der handelnden Personen verknüpft.30 Als Beispiel für den Zusammenhang von „gesellschaftlich-kulturellen Voraussetzungen“ und der Qualität von Sozialbeziehungen im Raum der Schule, nennen Landwehr et. al. das oft zu beobachtende Konkurrenzverhalten zwischen Schülern einer Klasse. Dieses sei di- rekt auf das sogenannte Leistungsprinzip zurückzuführen, welches vor allem in der Postmoderne zum Grundprinzip der deutschen Leistungsgesellschaft avancierte.31

Schlussendlich verweisen die Autoren auf den letzten wichtigen Aspekt ihres Theorie- modells, die sogenannten Belastungsreaktionen.32 Landwehr et. al. nehmen hier eine inhaltliche Unterteilung der Belastungsreaktionen in unwillkürliche und willkürliche Reaktionen vor.33 In den Bereich der unwillkürlichen Belastungsreaktionen fallen „phy- siologische Stressreaktionen“, wie Müdigkeit, Migräne, Veränderung des Stoffwech- sels, Insomnie etc.34 Ebenfalls zählen jedoch auch emotionale Reaktionen wie Zorn, Angst, Ärger und Unlust in diese Gruppe.35 Unter den willkürlichen Belastungsreaktio- nen werden hingegen politische und gesellschaftliche Veränderungsmaßnahmen zu- sammengefasst, die das Ziel haben, „die materielle und soziale Wirklichkeit humaner zu gestalten, indem ungerechtfertigte Belastungen entdeckt und diese sukzessive eliminiert werden.“36 Diese Veränderungsmaßnahmen umfassen hier vor allem gesellschaftliche oder bildungspolitische Reformen zur Veränderung des situationsübergreifenden Be- dingungsfeldes.37

Insgesamt liefern Landwehr et. al. mit ihrem theoretischen Konzept schulischer Belastung ein ideales Grundlagenmodell, da sie in ihre Überlegungen sowohl „kognitionspsychologische“ als auch „sozioökologische“ Elemente mit einbeziehen.38 Auch wenn sich die vier Ebenen schulischer Belastung in dem Modell klar voneinander abgrenzen lassen, werden gleichzeitig die Kausalbeziehungen zwischen den einzelnen Faktoren plausibel dargestellt und Zusammenhänge zufriedenstellend erklärt. Das situationsübergreifende Bedingungsfeld, das situative Bedingungsfeld, der subjektive Deutungsprozess und die daraus resultierenden Belastungsreaktionen bilden somit den perfekten theoretischen Rahmen für mein Forschungsanliegen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Struktur des theoretischen Konzepts "schulische Belastung"39

2.3.2 Das Konzept der Salutogenese

Das Konzept der Salutogenese geht auf den amerikanischen Soziologen Aaron Anto- novsky40 zurück, der als „Vater der Salutogenese“ den ersten, ernstzunehmenden Ge- genentwurf zum traditionell pathogenetisch ausgerichteten medizinischen Gesundheits- begriff lieferte.41 Antonovsky löst sich mit seiner Theorie der „Entstehung von Unver- sehrtheit“ vom klassischen medizinischen Verständnis der Pathogenese, fragt also nicht nach den Ursachen und Bedingungen von Krankheit, sondern nach den primären Ursa- chen von Gesundheit.42 Warum bleiben wir gesund? Vor dem Hintergrund dieser For- schungsarbeit ist es durchaus sinnvoll, das Konzept der Salutogenese heranzuziehen, um den eigenen Analysehorizont zu erweitern. Auch wenn diese Arbeit zunächst nach Be- lastungen im Raum der Schule und ihren Ursprüngen fragt, muss ebenfalls analysiert werden, wie Schülerinnen und Schüler bei extremen Belastungen körperlich und see- lisch gesund bleiben.

Antonovsky geht davon aus, dass Gesundheit keine Homöostase, d.h. kein gleichblei- bender Gleichgewichtszustand ist, sondern ein aktiver, selbstregulierender Prozess: eine Heterostase.43 Das klassische Bild, das Antonovsky gebraucht, um diesen fliesenden, aktiven Zustand zu beschreiben, ist das eines Flusses: „Meine fundamentale philosophi- sche Annahme ist, dass der Fluss der Strom der Lebens ist. Niemand geht sicher am Ufer entlang. Darüber hinaus ist für mich klar, dass der Großteil des Flusses sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne verschmutzt ist. Es gibt Gabelungen im Fluss, die zu leichten Strömungen oder in gefährliche Stromschnellen und Strudel füh- ren.“44 Gesundheit und Krankheit sind somit Teil eines dynamischen Prozesses, der sich stetig verändert und den Menschen immer wieder vor neue Herausforderungen stellt. Wir bewegen uns nicht am sicheren Ufer, sind also nie nur gesund oder nur krank. An- tonovskys Theorie vom „schwimmenden Menschen“ mündet in einer weiteren Frage: Wie wird man, wo immer man sich in dem Fluss befindet, dessen Natur von histori- schen, soziokulturellen, physikalischen Umweltbestimmungen bestimmt wird, ein guter

Schwimmer?“45 Das salutogenetische Konzept geht, anders als die Pathogenese davon aus, dass es ein angeborenes Potenzial gibt, das den Menschen gesund hält. Diese indi- viduell unterschiedlich ausgeprägten Eigenschaften sind „Ressourcen“, „Schutzfakto- ren“, oder „Grundeinstellungen“, die letztlich darüber entscheiden, wie gut wir schwimmen.46 Die Gesamtheit der vorhandenen Ressourcen nennt Antonovsky sense of coherence (z.D.: Kohärenzgefühl). Die jeweilige Ausprägung des Kohärenzgefühls ist wiederum abhängig von verschiedenen Faktoren wie z.B. der angesammelten Lebenser- fahrung eines Menschen, oder seiner Rolle in der Gesellschaft.47 Das Konzept der Salu- togenese arbeitet folglich mit einer extrem positiven Hypothese, indem es davon aus- geht, dass jeder Mensch Ressourcen und Eigenschaften besitzt, um Belastungen zu er- tragen bzw. bei extremer Belastung gesund zu bleiben. Interessant für Thema und For- schungsfrage dieser Arbeit ist es nun, herauszufinden, wie genau diese Ressourcen aus- sehen können.

Während der Raum Schule für viele Schülerinnen und Schüler eine extrem feindliche Umgebung darstellt, in der sie sich oftmals überfordert fühlen, gibt es ebenso viele Schüler, die schulische Belastungen gekonnt spielerisch bewältigen. Die Vermutung liegt nahe, dass es einen Unterschied gibt, der Schüler unterschiedlich mit schulischen Belastungen umgehen lässt. Gemäß den Prinzipien des salutogenetischen Konzepts ist dieser Unterschied das individuell ausgeprägte Kohärenzgefühl. Schülerinnen und Schü- ler verfügen demnach über differierende Ressourcen zur Bewältigung von auftretenden Belastungen. Die Intensität einer Belastungssituation ist daher immer abhängig von der Qualität der vorhandenen Bewältigungs- bzw. Coping-Strategien eines Individuums. Schülerinnen und Schüler können sich daher in exakt gleichen Belastungssituationen unterschiedlich belastet fühlen. Die konkreten Bewältigungsstrategien können in der Regel „persönlicher“ oder „kollektiver“ Natur sein.48 Unter persönlichen Bewältigungs- strategien verstehen wir beispielsweise die adäquate Anwendung von Problemlösestra- tegien. Auch Charaktermerkmale wie „Selbstbewusstsein“ oder ein ausgeprägter „Op- timismus“ zählen zu den persönlichen Bewältigungsstrategien.49 Spricht man von kol- lektiven Bewältigungsstrategien, so meint man die Form und Qualität der sozialen Un- terstützung, die man in konkreten Problemsituationen erhält. Soziale Stützsysteme ste- hen im direkten Zusammenhang mit dem Belastungserleben und können dieses sowohl positiv als auch negativ beeinflussen. „Wenn eine Reduzierung von belastenden Fakto- ren, die in einer direkten Kausalität zur Beeinträchtigung des psycho-physischen Wohl- befindens stehen, nur bedingt möglich ist, kann auf der anderen Seite eine Stärkung der Ressourcen im Raum der Schule, die Social Support vermitteln können, dazu beitragen, eine Beeinträchtigung von well-being zu verhindern.“50 Social Support bzw. soziale Un- terstützung kann demnach dort als Hilfsmittel wirken, wo eine direkte Reduzierung von Belastung nicht möglich ist. Im Raum der Schule geht soziale Unterstützung primär von Familie, Freunden, Mitschülern oder Lehrern aus. Je nach Bedürfnis liefern die sozialen Netzwerke hier emotionale Unterstützung oder „direkte praktische Hilfe zur Bewälti- gung des schulischen Alltags […].“51 Der amerikanische Psychologe Gore (1978) geht ebenfalls davon aus, „dass jeder akute Stress soziale Bedürfnisse hervorruft und das Ausmaß von benötigtem Support vergrößert.“52 Bereits im vorangegangenen Teil dieser Arbeit wurde herausgearbeitet, dass eine langfristige Diskrepanz zwischen den Umwelt- anforderungen und dem persönlichen Leistungsvermögen zu schwerwiegenden Beein- trächtigen der Gesundheit führen kann. Belastungssituationen, die im negativen Sinne als Überforderung oder Versagen wahrgenommen werden, können im Falle einer kon- stanten Belastung psychosomatische Erkrankungen hervorrufen, wenn keine sozialen Stützsysteme oder Coping-Strategien vorhanden sind. Depressionen im Schüleralter sind somit lange schon keine Seltenheit mehr. „Nach einer neuen DAK-Studie (2011) leidet fast jeder dritte Schüler unter depressiven Stimmungen.“53 Rund dreiundvierzig Prozent der befragten Jugendlichen geben außerdem an, dass sie unzufrieden mit den eigenen Leistungen sind und fürchten den hohen Ansprüchen der freien Wirtschaft nicht gerecht zu werden.54 Vor allem in Übergangs- oder Qualifikationsphasen sowie in Klau- sur- oder Examensphasen steigt die schulische Belastung enorm an. Speziell in diesen Situationen „sollte für Schüler die Möglichkeit bestehen, im schulischen Lebensraum soziale Unterstützung in Anspruch zu nehmen.“55

Alles in allem, lehrt uns Antonovsky mit seinem Konzept der Salutogenese, den traditi- onellen Pfad der Pathogenese zu verlassen und darauf zu vertrauen, dass jedes Indivi- duum in der Lage ist, Belastungssituationen gesund zu bewältigen. Jeder Mensch ist demnach mit speziellen persönlichen und auch kollektiven Strategien zur Bewältigung enormer Belastungen ausgestattet. Dieses Kohärenzgefühl, also die Gesamtheit von persönlichen Eigenschaften und Strategien zur Bewältigung schulischer Belastungen, muss jedoch von außen unterstützt werden. Dazu zählt zum einem die Nutzung und Be- reitstellung gesunder sozialer Netzwerke innerhalb der Schullandschaft, zum anderen müssen Programme zur Verbesserung des Coping-Verhaltens initiiert werden. Nur wenn Schülerinnen und Schüler verschiedene Bewältigungsstrategien kennen und be- herrschen, kann der optimale Einsatz der verschiedenen Ressourcen erfolgen. Nur so bleiben wir also bei extremen physischen und psychischen Beanspruchungen gesund.

2.3.3 Die G8-Qualifikationsphase im Land Niedersachsen

Um potenzielle Belastungen im Schüleralltag der G8-Qualifikationsphase so transparent wie möglich zu machen, möchte ich im folgenden Teil dieser Arbeit genauer auf Funk- tion, Aufbau und Anforderungsprofil der neuen niedersächsischen Qualifikationsphase eingehen. Insbesondere werde ich dabei das gymnasiale Profil der Schule XY vorstel- len, an der das gesamte Forschungspraktikum durchgeführt wurde. Alle aufgeführten Daten, Informationen und Abbildungen sind dem Anforderungsprofil des Gymnasiums XY entnommen und können folglich unter den angegebenen Quellen auf der Internet- seite der Schule nachgelesen werden. Da eine umfassende Erläuterung aller Aspekte der neuen Qualifikationsphase schlichtweg zu aufwendig wäre, soll der neue Charakter der Qualifikationsphase beispielhaft an einigen strukturellen Merkmalen herausgearbeitet werden.

Die neu strukturierte niedersächsische Oberstufe umfasst die Jahrgangsstufen zehn bis dreizehn, wobei die Klasse zehn lediglich als Einführungs- bzw. Hinführungsphase an- zusehen ist. Die Einführungsphase, die im Klassenverband organisiert ist, erstreckt sich über ein gesamtes Schuljahr und bildet die Grundlage für den Übergang in die nachfol- gende Qualifikationsphase (Q-Phase). Die sogenannte Q-Phase ist im Gegensatz zu der Einführungsphase im Kurssystem organisiert und endet nach zwei Jahren mit den abschließenden Abiturprüfungen in den fünf Schwerpunktfächern.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Aufbau der gymnasialen Oberstufe an der Schule XY56

Eine weitere Besonderheit der neuen Qualifikationsphase ist die Gliederung der Unterrichtsfächer in sogenannte Schwerpunkte, auch Profile genannt. Die Schule XY bietet in der Qualifikationsphase insgesamt vier Schwerpunkte an, in denen unterschiedliche Fächer eines Themenkomplexes miteinander kombiniert werden können.

(1) der sprachliche Schwerpunkt (kurz S-Profil) mit den Kombinationen Deutsch- fortgeführte Fremdsprache oder fortgeführte Fremdsprache-fortgeführte Fremdsprache als Schwerpunktfächern.
(2) der mathematisch-naturwissenschaftliche Schwerpunkt (kurz NW-Profil) mit den Kombinationen Mathematik-Naturwissenschaft oder Naturwissenschaft- Naturwissenschaft als Schwerpunktfächern.
(3) der gesellschaftswissenschaftliche Schwerpunkt (kurz G-Profil) mit den Kombinatio- nen Geschichte-Politik/Wirtschaft oder Geschichte/Erdkunde als Schwerpunktfächern. im Raum der Schule, S.9.
(4) der musisch-künstlerische Schwerpunkt (kurz K-Profil) mit den Kombinationen Kunst- Deutsch oder Kunst-Mathematik als Schwerpunktfächern.57

Die Profilwahlen finden jeweils vor Eintritt in die Qualifikationsphase im zweiten Halb- jahr der Einführungsphase statt. Die Schülerinnen und Schüler wählen dabei zunächst ihren Schwerpunkt mit den zwei Schwerpunktfächern und dazu ein zusätzliches Fach, das ebenfalls auf erhöhtem Niveau, d.h. vierstündig unterrichtet wird. Im nächsten Schritt werden dann die weiteren zwei Prüfungsfächer sowie weitere vierstündig zu belegende und weitere zweistündig zu belegende Fächer gewählt. Die schriftlichen Abi- turprüfungen erfolgen in den zwei Schwerpunktfächern (P1, P2) und einem weiteren Fach der erhöhten Niveaustufe (P3). Eine weitere schriftliche und eine mündliche Prü- fung werden in zwei Fächern auf Grundniveau absolviert (P4, P5).58

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Schwerpunktkombinationen der Schule XY

Unabhängig von der Profilwahl ergeben sich weitere Belegungsverpflichtungen für die gesamte Qualifikationsphase. So müssen die Schüler beispielsweise alle Kernfächer (De, Ma, eine Fremdsprache, eine Naturwissenschaft) vierstündig betreiben und die Fächer Sport, Religion59, sowie das Seminarfach60 zweistündig.

Insgesamt können drei signifikante Charakteristika der neu strukturierten Qualifikati- onsphase festgehalten werden. Durch die Profilstruktur und die verbindliche Bele- gungsverpflichtung erfahren die Schüler eine extrem hohe Stundenbelastung. Im Durch- schnitt absolviert somit jeder Schüler mindestens 34 Schulwochenstunden, viele sogar noch mehr. Auch die neue Profilstruktur ist Merkmal der aktuellen Qualifikationsphase. Schüler müssen sich jedoch verhältnismäßig früh, nämlich vor Beginn der eigentlichen Q-Phase, auf einen fachlichen Schwerpunkt festlegen und können diesen im Laufe der zwei Jahre nicht mehr ändern. Das dritte und letzte Charakteristikum ist die einge- schränkte Wahlmöglichkeit der Schwerpunktfächer. So dürfen Schüler der Einfüh- rungsphase ihre Schwerpunktfächer nur innerhalb eines Profils wählen und können demnach keine Fächer unterschiedlicher Themenbereiche kombinieren.

2.4 Zusammenfassung

Im Folgenden soll nun eine kurze Zusammenfassung der theoretischen Bezugspunkte dieser Arbeit erfolgen.

Die neu strukturierte G8-Qualifikationsphase wird derzeit extrem kontrovers diskutiert und erzeugt in Gesellschaft und Politik der Gegenwart völlig gegensätzliche Meinungs- bilder. Hauptargument der G8-Gegener für eine Abschaffung bzw. Umstrukturierung der neuen Schulreform ist die unverhältnismäßig hohe physische und psychische Belas- tung, die Schülerinnen und Schüler der neuen verkürzten Oberstufe erfahren. Trotz der aktuellen Brisanz der Thematik gibt es bislang nur wenige empirische Untersuchungen, die sich mit dem Belastungserleben im Schüleralltag der G8-Qualifikationsphase ausei- nandersetzen und die genannten Kritiken entschärfen bzw. bestätigen können. Obwohl besonders deskriptive Daten qualitativer Untersuchungen dringend in die Diskussion mit eingebracht werden sollten, sind die Forschungsbemühungen auf diesem Gebiet bislang als völlig ungenügend einzustufen. Die Theorie lehrt uns jedoch, dass das kon- krete Belastungserleben von Schülern von ganz unterschiedlichen Faktoren abhängt, die nur in qualitativen Untersuchungen entsprechend berücksichtigt werden können. Land- wehr et. al. (1983) definieren diese Einflussfaktoren als situationsübergreifende und situative Bedingungen.

[...]


1 Dorbratz, N. (2011): Turbo-Abi ist Schwachsinn. In: Nordsee-Zeitung 2011, 8. Juni.

2 Vgl. Ebd.

3 Scherf, M. (2011): Erster G8-Jahrgang. Aus "nicht bestanden" wird "bestanden". sueddeutsche.de.

4 Jakobi, S. (2006): Bildung und Ökonomie: Zwischen Wirtschaftlichkeit und Humanismus. 1. Aufl.: Vdm Verlag Dr. Müller.

5 Vgl. Ebd.

6 Bird, K.: Abitur nach 12 Jahren - wie, wo und warum? Hrsg. v. Bundeselternrat. Bremerhaven.

7 Vgl. Ebd.

8 Ebd.

9 Vgl. Ebd.

10 Christ, S. (2007): G8-Reform. Erfahrungen lassen schlimmes befürchten.

11 Vgl. Ebd.

12 Landwehr, N.; Fried, O.; Hubler, P. (1983): Schulische Belastung. Problemstellung und theoretisches Konzept. In: Bildungsforschung und Bildungspraxis 5 (2), S. 125-146.

13 Vgl. Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?: Belastung und Beanspruchung von Leh- rern und Schülern am Gymnasium, S. 20.

14 Landwehr et. al. (1983): Schulische Belastung, S.133 zitiert nach: Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?, S.20.

15 Vgl. Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?: Belastung und Beanspruchung von Leh- rern und Schülern am Gymnasium , S. 20.

16 Ebd.

17 Vgl. Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?: Belastung und Beanspruchung von Leh- rern und Schülern am Gymnasium, S. 20.

18 Vgl. Abbildung 1.

19 Vgl. Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?: Belastung und Beanspruchung von Leh- rern und Schülern am Gymnasium , S. 22.

20 Ebd.

21 Ebd.

22 Vgl. ebd.

23 Vgl. Abbildung 1.

24 Vgl. Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?: Belastung und Beanspruchung von Leh- rern und Schülern am Gymnasium , S. 22.

25 Landwehr et. al. (1983): Schulische Belastung, S.140 zitiert nach: Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?, S.22.

26 Vgl. Ebd.

27 Vgl. Abbildung 1.

28 Vgl. Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?: Belastung und Beanspruchung von Leh- rern und Schülern am Gymnasium , S. 23.

29 Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?: Belastung und Beanspruchung von Lehrern und Schülern am Gymnasium , S. 23.

30 Vgl. Ebd.

31 Vgl. Ebd.

32 Vgl. Abbildung 1.

33 Vgl. Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?: Belastung und Beanspruchung von Leh- rern und Schülern am Gymnasium , S. 24.

34 Vgl. Ebd.

35 Vgl. Ebd.

36 Landwehr et. al.(1983): Schulische Belastung , S.144 zitiert nach: Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?, S.24

37 Vgl. Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?: Belastung und Beanspruchung von Leh- rern und Schülern am Gymnasium , S. 24.

38 Vgl. Ebd. S 25.

39 Böhm-Kasper, O. (2001): Sind 12 Schuljahre stressiger?: Belastung und Beanspruchung von Lehrern und Schülern am Gymnasium , S. 21.

40 Amerikanischer Soziologe * 1923 in Brooklyn, New York, USA; † 7. Juli 1994 in Beerscheba, Israel

41 Wydler, H. (2006): Salutogenese und Kohärenzgefühl: Grundlagen, Empirie und Praxis eines gesund- heitswissenschaftlichen Konzept, S.12.

42 Vgl. Malteser Trägergesellschaft. (2007): Stichwort Salutogenese.

43 Vgl. Ebd.

44 Antonovsky, A. (1997): Salutogenese: zur Entmystifizierung der Gesundheit: Dgvt Verlag. Tübingen, S.91

45 Vgl. Ebd., S.92

46 Vgl. Malteser Trägergesellschaft. (2007): Stichwort Salutogenese.

47 Vgl. Ebd.

48 Anonym (2007): Konzept der Salutogenese nach Aaron Antonovsky, S.9.

49 Vgl. Ebd.

50 Franz, H.J. (1984): Herkömmliche Strategien zur Bewältigung gesundheitsgefährdender Belastungen im Raum der Schule, S.8.

51 Vgl. Ebd., S.9

52 Gore (1978) zitiert nach Franz, H.J. (1984): Herkömmliche Strategien zur Bewältigung gesundheitsge- fährdender Belastungen im Raum der Schule, S.9.

53 http://www.curado.de/Depressionen-Schueler-18976/

54 Vgl. Ebd.

55 Franz, H.J. (1984): Herkömmliche Strategien zur Bewältigung gesundheitsgefährdender Belastungen

56 Kreisgymnasium Wesermünde (2010): Aufbau der gymnasialen Oberstufe

57 Kreisgymnasium Wesermünde (2010): Infos zur Qualifikationsphase

58 Vgl. Ebd.

59 Das Fach Religion kann auch durch das Fach Werte und Normen ersetzt werden.

60 Das Seminarfach erfolgt zweistündig und verlangt die Anfertigung einer Facharbeit.

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Belastungserleben im Schüleralltag
Untertitel
Inwieweit stellt die Qualifikationsphase für Schülerinnen und Schüler der G8-Jahrgänge eine Belastung dar?
Hochschule
Universität Bremen
Note
1,7
Autor
Jahr
2011
Seiten
105
Katalognummer
V201637
ISBN (eBook)
9783656276487
ISBN (Buch)
9783656350101
Dateigröße
1436 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schülerbelastung, G8, Qualifikationsphase, Schüleralltag, Belastungserleben, Salutogenese, Turbo-Abitur, G8-Abitur
Arbeit zitieren
Sandra Schülke (Autor:in), 2011, Belastungserleben im Schüleralltag, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/201637

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