Der Joker "auf der Couch". Zur Faszination des Antihelden in Literatur, Film und Videospiel


Bachelor Thesis, 2011

44 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Psychoanalyse und Literaturwissenschaft – Was Traum, Phantasie und Erzählung gemeinsam haben

3 Der Antiheld in der Literatur - Georg Büchners Woyzeck und J.D. Salingers Der Fänger im Roggen

4 Der Antiheld im Film – Der Joker
4.1 Einleitende Worte zum Inhalt der Filme Batman (1989) und The Dark Knight (2008) und den unterschiedlichen Inszenierungen des Batman- Universums
4.2 Die psychoanalytisch-literaturwissenschaftliche Untersuchung des Jokers

5 Der Antiheld im Videospiel – Adam „Kane“ Marcus
5.1 Einleitende Worte zur Interaktivität in und Analyse von Computer- und Videospielen
5.2 Eine kurze inhaltliche Zusammenfassung des Videospiel Kane & Lynch: Dead Men
5.3 Die psychoanalytisch-literaturwissenschaftliche Untersuchung Kanes

6 Schlussbemerkungen

7 Abbildungsverzeichnis

8 Literatur- und Quellenverzeichnis

1 Einleitung

Daher ist die Dichtung etwas

Philosophischeres und Ernsthafteres

als Geschichtsschreibung; denn die

Dichtung teilt mehr das Allgemeine,

die Geschichtsschreibung hingegen

das Besondere mit.

Aristoteles – Die Poetik[1]

Erzählungen[2] umgeben uns ständig, in unterschiedlichsten Medien, auf verschiedensten Übertragungswegen und seit Menschengedenken. Sie belehren und geben Wissen weiter, doch vorrangig unterhalten sie ihre Rezipienten. Ausschlaggebend für das Interesse des Lesers und den Unterhaltungswert der Erzählung sind neben einer spannenden, fesselnden Handlung insbesondere die handelnden Figuren. Was uns als Rezipienten an ihnen so gefällt und interessiert, erläutern Lahn und Meister in ihrer Einführung in die Erzähltextanalyse zu Beginn des Kapitels, welches sich mit dem Interesse des Lesers an den literarischen Figuren befasst, sehr verständlich und nachvollziehbar:

Eines der größten Vergnügen bei der Lektüre von Romanen ist für viele Leser, dass man einen detaillierten Einblick in die Persönlichkeit eines anderen Menschen erhält. Das Gefühl, den literarischen Figuren »nahe zu sein« oder »sogar eine Beziehung zu ihnen zu haben« verdankt sich dabei verschiedenen Faktoren. Dazu gehört, dass wir gemäß der literarischen Konvention in die Psyche der Figuren eindringen können und ihre innersten Gedanken erfahren: [...][3]

Der Genuss des Lesers oder vielmehr jedes Rezipienten einer Erzählung besteht also zu einem großen Teil in der Auseinandersetzung mit ihren handelnden Figuren. Dass dies bei Helden, die in ihrem Wesen und Verhalten der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes ἥρως, hḗrōs (zu deutsch: Tapferer, Held, Halbgott)[4] entsprechen und dementsprechend positiv mit heroischen Idealvorstellungen konnotiert sind[5], unterhaltsam und genussvoll möglich ist, lässt sich einfach nachvollziehen. Zur Freude des Rezipienten tun diese Helden Gutes und Redliches, bekämpfen Schurken, retten die Welt, erobern (zumeist auch) die Frauenwelt, genießen in ihrem narrativen Kosmos hohes Ansehen und besitzen meist auch große Mengen weltlicher Güter. Auf diese Weise bieten sie eine Projektionsfläche für Wünsche und Begierden der Rezipienten, die mittels dieses Stellvertreters im erzählenden Medium eigene Unzulänglichkeiten einmal beiseite lassen können und die Möglichkeit haben, sich genussvoll der Lektüre des Romans, dem Anschauen des Films oder Spielen des Videospiels hingeben können.

Doch in der Literatur- und Mediengeschichte sind ebenso oft Heldentypen anzutreffen, die sich stark vom Typus des heroischen Helden unterscheiden. In mindestens einer Hinsicht weichen diese Antihelden psychisch, physisch, sozial oder moralisch von der Norm ab, deren Ideal der heroische Held verkörpert.[6] Diese Antihelden sind Gedemütigte, soziale und berufliche Versager, Außenseiter oder schlichtweg Kriminelle, die sich zur Durchsetzung eigener Interessen über existierende Gebote und Verbote hinwegsetzen. Abseits der Literatur in Film, Comics und neuerdings in Videospielen[7] scheinen solche Antihelden vermehrt aufzutreten. In Comics hat der Antiheld schon eine relativ lange Tradition[8]. Inzwischen erscheinen allerdings auch mehr und mehr Videospieltitel, in denen die spielbaren Hauptcharaktere die Züge von Antihelden tragen (z.B. die GTA- Reihe oder die God of War -Trilogie) oder zumindest die Möglichkeit bieten, sie im Spieluniversum auch unmoralisch agieren zu lassen. Diese Möglichkeit ist inzwischen häufig im Genre der Rollenspiele zu finden (z.B. Fallout 3).

Dies wirft in Hinblick auf den Rezipienten, sein Interesse an diesen Figuren und dem Genuss ihrer Rezeption einige Fragen auf. Denn wenn heroische Helden Unterhaltung und Genuss bei der Rezeption bieten, indem sie eine Stellvertreterposition in der Erzählung einnehmen und an unserer statt Erstrebenswertes vollbringen, wie können dann Antihelden genussvoll rezipiert werden? Schließlich tun sie moralisch und gesellschaftlich Verwerfliches und Nicht-Wünschenswertes. Diese Frage bildet die Grundlage dieser Arbeit. Für ihre Beantwortung werde ich mithilfe der psychoanalytischen Theorien Sigmund Freuds (1856 – 1939) einen tiefgehenden Blick in die Persönlichkeiten ausgewählter Antihelden werfen und von da aus auch auf das Rezeptionsverhalten schließen.

Im ersten Moment wirken Psychoanalyse, bekannt als eine Therapieform, und Literaturwissenschaft wenig vereinbar. Allerdings konzipierte Freud die Psychoanalyse von vorn herein nicht als eine rein klinische Therapieform, sondern auch als eine Kulturtheorie, die sich allgemein auf Kultur und Gesellschaft und speziell auf Kunst und Literatur anwenden lässt. „Für Freud selber war die Einheit von psychoanalytischer Klinik und psychoanalytischer Kulturtheorie so selbstverständlich, daß sie in seinem Werk als gesonderte Felder gar nicht auftauchen […].“[9] Freuds Theorien an sich haben seit Beginn einen engen Bezug zur Literatur. Schon die Namensgebung und die Herleitung einer von Freuds bekanntesten Erkenntnissen, dem Ödipus-Komplex, benannt nach der antiken Tragödie von Sophokles, zeigt, wie nah sich Psychoanalyse und Literatur sein können.

Die psychoanalytischen Theorien sind für die Untersuchung des Phänomens des Antihelden, der sich auch oder besonders durch ein gewisses Maß an Gewalttätigkeit auszeichnet, besonders attraktiv, da laut Freud jedem Menschen ein gewisses Gewaltpotential innewohnt, wie folgendes Zitat deutlich macht: „Denn der »urzeitliche Kinderwunsch«, den Inzest mit dem einen Elternteil zu vollziehen und den anderen Teil, der diesem Wunsch hinderlich im Wege steht, zu töten, lasse sich in den unbewußten Phantasien eines jeden [meine Hervorhebung] nachweisen.“[10] Die Grundlage des methodischen und theoretischen Teils dieser Arbeit zur Psychoanalyse bilden Freuds Triebmodell, seine Gedanken zur Ersatzbefriedigung dieser Triebe und in besonderem Maße sein Vortrag Der Dichter und das Phantasieren (1907). Dabei wird nicht die hermeneutische Perspektive in Bezug auf Werk – Autor im Vordergrund stehen, wie sie in der Forschungsliteratur häufiger anzutreffen ist. Stattdessen werde ich Freuds Ideen weiterdenken und sie vermehrt auf den Rezipienten beziehen.

Den Einstieg in die Analyse mit den im vorherigen Kapitel dargelegten Theorien und Ideen bilden daraufhin zunächst zwei Antihelden aus der Literatur - Georg Büchners Woyzeck (um 1836) und J.D. Salingers Holden Caulfield aus seinem Roman Der Fänger im Roggen (1951). An ihnen werde ich exemplarisch festmachen, was eine literarische Figur zu einem Antihelden macht. Im Vordergrund werden dabei die psychoanalytisch-literaturwissenschaftliche Ansicht der Triebe, ihre Darstellung und lustvolle Rezeption stehen. Die Auswahl dieser Werke ist nicht willkürlich. Der Annahme Freuds folgend, dass seine Theorie allgemeingültig sei, habe ich bewusst zwei Werke ausgewählt, welche in ihrer Entstehungszeit und auch geographisch sehr weit auseinander liegen, um so die weite Verbreitung des Phänomens verdeutlichen zu können.

Bewusst habe ich zwei Werke gewählt, die in ihrer Entstehungszeit und auch geographisch sehr weit auseinander liegen, um die weite Verbreitung des Phänomens zu kennzeichnen.

Diesem Gedanken folgend werde ich die Erkenntnisse der beiden vorhergehenden Kapitel über die Grenzen der Germanistik und Literaturwissenschaft hinaustragen und mit ihr zwei Figuren, je eine aus der Domäne des Films und eine aus der des Videospiels, untersuchen. Der Grund für diesen Schritt über die literaturwissenschaftlichen Grenzen hinaus liegt darin, dass ein ursprünglich literarisches Phänomen offensichtlich großen Anklang in neueren und sehr populären Medien gefunden hat und damit verstärkt einer (literatur)wissenschaftlichen Auseinandersetzung bedarf.

Dies mag erstens daran liegen, dass der Umgang mit Gewalt- und Sexualitätsdarstellung in Medien heutzutage liberaler sind als früher (was jedoch keineswegs die Kontroversen darüber beilegte). Die damit einhergehenden Möglichkeiten ihrer Darstellungen mögen zwar das häufigere Auftreten solcher Darstellungen erklären, jedoch nicht die Popularität der Charaktere, die innerhalb der Erzählung für sie verantwortlich sind. Zweitens bezieht auch Freud seine Ausführungen zum Dichter und dem Phantasieren „nicht gerade [auf] jene Dichter […], die von der Kritik am höchsten geschätzt werden, sondern die anspruchsloseren Erzähler von Romanen, Novellen und Geschichten, die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und Leserinnen finden.“[11] Analog zu dieser Unterscheidung werde ich nicht nur gehobene Literatur genau in Augenschein nehmen, sondern auch massenwirksame Medienprodukte.

Zunächst werde ich mich daher dem Joker aus dem Batman-Universum widmen. Dafür werde ich diese Figur in den beiden Hollywood-Filmen (Batman (1989) von Tim Burton und The Dark Knight (2008) von Christopher Nolan), vergleichen und an der Entwicklung festmachen, wie sich ein Super-Schurke und Gegner Batmans in der neueren Adaption des Batmanstoffes von Nolan zu einer abgründigen und sehr komplexen Persönlichkeit gewandelt hat. Da ich die Kenntnis der Filminhalte und des Inhalts des Comics The Killing Joke (1988), der mindestens für Burtons Joker eine große Inspirationsquelle war, nicht voraussetzen kann, werde ich der Untersuchung des Jokers kurze Inhaltsangaben voranstellen.

Direkt daran anschließend folgt die Analyse des Antihelden Adam 'Kane' Marcus aus dem Videospiel Kane & Lynch: Dead Men (2007). Da die literaturwissenschaftliche Untersuchung von Erzählungen in interaktiven Medien wie Videospielen noch recht jung ist, werde ich neben einer inhaltlichen Zusammenfassung einen kurzen Abriss über die Analyse von Erzählungen in Videospielen und ihrer Interaktivität geben.

In den Schlussbemerkungen werden die Erkenntnisse aller vorhergehenden Kapitel gesammelt und eine abschließende These formuliert, die dazu beiträgt, Licht in die Gründe für die Begeisterung für Antihelden und den Genuss, mit dem sie rezipiert werden, bringen kann. Dabei handelt es sich allerdings um einen rein theoretischen Gedankengang, denn im Unterschied zu pragmatischen Texten ist „[i]n Bezug auf die Wirkung literarischer Texte [ich schließe darin auch Erzählungen in nicht papiergebundenen Medien ein] […] der Forschungsstand durch ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen theoretischer Breite und empirischer (Schmalheit der) Fundierung gekennzeichnet.“[12] Es fehlt in der Forschung schlichtweg an empirischem Material zur Wirkung literarischer Texte. Allerdings werden meine Ausführungen einen Denkansatz zum Verständnis der Rezipienten und der Figurendarstellung von Antihelden liefern, der in deutlich größerem Umfang, als es diese Arbeit ermöglicht, in der Literaturwissenschaft und auch Psychologie weiter verfolgt werden kann. Denn wie das Eingangszitat von Aristoteles bereits andeutet: Obwohl oder gerade weil diese Antihelden und die Erzählungen, in denen sie eingebettet sind, rein fiktiv sind, steckt in ihnen doch ein großer allgemeingültiger Wahrheitsgehalt, der uns Aufschluss sowohl über den Verfasser als auch über den genießenden Rezipienten der Erzählungen geben kann.

2 Psychoanalyse und Literaturwissenschaft – Was Traum, Phantasie und Erzählung gemeinsam haben

Dieses Kapitel befasst sich mit den Grundlagen der Psychoanalyse und wird aufzeigen, wie sie für die Literatur und auch darüber hinaus für Erzählungen in den neueren Medien Film und Videospiel erkenntnisreich sein können. Wichtig ist an dieser Stelle, dass mit allen folgenden Ausführungen keineswegs nur der Seelenzustand und die Entwicklung psychisch Kranker beschrieben wird, sondern die jedes Menschen.[13]

Für das Verständnis von Freuds Theorien und Denkansätzen ist es vor allen Dingen wichtig zu akzeptieren, dass nach Freud die Kindheit keineswegs so unschuldig ist, wie es der Volksmund behauptet. Schon in den frühesten Monaten nach der Geburt entwickeln sich im Kind Triebe und Wünsche, die nach Befriedigung streben. Stimuliert durch die infantilen Lustzentren des Mundes sowie weiterer berührungsempfindlicher, nicht-genitaler Körperteile entwickelt das Kind die inzestuöse Liebe und infantil-sexuelle Lust zum gegengeschlechtlichen Elternteil. Dabei muss das Kind erkennen, dass der andere Elternteil mit seiner innigen Beziehung zur Mutter/zum Vater seinen auf sie gerichteten Trieben im Wege steht. Da das Streben der Triebbefriedigung grundsätzlich egoistisch ist[14], entwickelt das Kind einen Gewalt- und Todeswunsch gegenüber dem hindernden Elternteil.[15] Aufgrund mangelnder Möglichkeiten der Befriedigung dieses Wunsches und der Angst vor Bestrafung (Kastrationsangst, Penisneid[16] ) werden sowohl der sexuelle als auch der aggressive Trieb unterdrückt. Da Triebe jedoch nicht vollkommen unter Verschluss gehalten werden können, sondern allenfalls „gehemmt, gestaut, umgelenkt [...] werden [können] [...]“[17], manifestieren sie sich im Unbewussten, dem nach Befriedigung strebenden Es. Dort existieren sie weiterhin, gefördert durch die Angst vor Bestrafung und stetig unterdrückt von den internalisierten Normen der Gesellschaft. Nach Erfüllung strebend manifestieren sie sich unter anderem im Traum:

Im Zustand des Schlafens, in welchen die Bewegungsmöglichkeit des Organismus weitestgehend ausgeschaltet und die Gefahr für den Schläfer, mit den Anforderungen des Realitätsprinzips, der bewußten und kontrollierten Lebensäußerung zu kollidieren, entsprechend gering ist, dürfen die unterdrückten Triebwünsche in Gestalt von Träumen sich melden: »Der Traum ist selbst eine Äußerung dieses Unterdrückten.«[18]

Die internalisierten Normen, verortet im Über-Ich, sind jedoch derart übermächtig, dass selbst während der verminderten Bewusstseinstätigkeit im Schlaf die explizite Triebdarstellung und Wunschbefriedigung eingeschränkt ist. Daher können die Wünsche nur in entstellter Form in Erscheinung treten. Das Unbewusste sucht in seiner Darstellung einen Kompromiss, in dem es sich zeigen darf. Diese Kompromissbildung gelingt durch die psychischen Mechanismen der Traumarbeit, deren Ergebnis die Traumentstellung ist.[19] Der eigentliche Wunsch ist durch sie daher nicht unmittelbar erkennbar.

Ein bewussteres, wenn auch nicht offensichtlicheres Ventil als nächtliche Träume findet das Kind im kindlichen Spiel, in dem es ohne Angst vor Strafe Triebwünsche ausleben kann. Denn

[d]ie liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir sagen: Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann Unrecht zu meinen, es nähme diese Welt nicht ernst; im Gegenteil, es nimmt sein Spiel sehr ernst, es verwendet große Affektbeträge darauf. Das Gegenteil zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit. Das Kind unterscheidet seine Spielwelt sehr wohl, trotz aller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit und lehnt seine imaginierten Objekte und Verhältnisse gerne an greifbare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an.[20]

Während das Kind heranwächst entsteht allerdings ein gravierendes Problem: Das kindliche Spiel ist für Heranwachsende und Erwachsene nicht gesellschaftsfähig und kann daher nicht mehr als Möglichkeit der Trieb- und Wunschauslebung genutzt werden. Er oder sie muss folglich auf diese Quelle des Lustgewinns verzichten. Da aber „[dem Menschen] kaum etwas anderes so schwer wird wie der Verzicht auf eine einmal gekannte Lust“[21], muss er sich anderweitig behelfen. Einen Ausweg findet der Heranwachsende in einem Phänomen, dass die Sprache sehr treffend beschreibt: Im Tagtraum. Im bewussten (oder manchmal verträumt unbewussten) Tagträumen und Phantasieren kann auch der erwachsene Mensch völlig ohne Angst vor Bestrafung seine Triebe und Wünsche verfolgen. Dabei gibt er nur „nichts anderes auf als die Anlehnung an reale Objekte“[22], wie es noch im kindlichen Spiel der Fall war. Der Lustgewinn bleibt erhalten. Was er sich dabei ausmalt, würde der tagträumende/phantasierende Mensch jedoch niemals einem Mitmenschen gegenüber eröffnen. Denn „[d]er Erwachsene […] schämt sich seiner Phantasien und versteckt sie vor anderen, er hegt sie als seine eigensten Intimitäten, er würde in der Regel lieber seine Vergehungen eingestehen, als seine Phantasien mit[zu]teilen.“[23] Freud fügt noch hinzu, dass selbst wenn der Phantasierende und Tagträumer uns seine Phantasien mitteilte, er uns damit keine Lust bereiten könnte: „Wir werden von solchen Phantasien, wenn wir sie erfahren, abgestoßen oder bleiben höchstens kühl gegen sie.“[24]

Es gibt allerdings einen Menschenschlag, der seine Wünsche und Triebe durchaus öffentlich in Phantasien verarbeitet (verarbeiten kann). Er bewahrt sich eine gewisse Infantilität[25] und findet für diese Darstellungen sogar ein (meistens) genießendes Publikum – der Dichter, oder allgemeiner gesagt, der Künstler in all seinen Erscheinungsformen, sei es der Maler, Poet, Regisseur, Bildhauer, Grafikdesigner oder Schriftsteller. Die Liste der möglichen künstlerischen Ausdrucksformen ließe sich beliebig lang fortsetzen. Auf eine Weise, die auch Freud nicht vollkommen erklärbar ist[26], gelingt es ihnen, eigene unbewusste Wünsche und Triebe in ihren Werken zu verarbeiten und deren Rezipienten damit nicht nur nicht abzustoßen, sondern im Gegenteil sogar zu faszinieren und zu fesseln. Womöglich ist dieser unerklärliche Teil des künstlerischen Schaffensprozesses das, was wir als Talent für eine künstlerische Ausdrucksform bezeichnen.

Diese Verschiebung des Triebobjekts vom ursprünglichen, unbewussten Trieb auf eine gesellschaftlich akzeptable, sogar beachtete Ausdrucksform nennt Freud Sublimierung. Freuds Ausführungen dazu sind jedoch fragmentarisch geblieben und die Konstruktion eines „konsistente[n] Theorielement[s]“[27] ist nur bedingt möglich. Aufgrund der Komplexität des Phänomens der Sublimierung werde ich es lediglich soweit umreißen, wie es im Rahmen dieser Arbeit sinnvoll und notwendig ist. Es soll lediglich festgehalten werden, dass das Schaffen von Kultur und Kunst ein Produkt eigentlich verwerflicher sexueller und aggressiver Triebe ist. Dies geschieht nicht nur vereinzelt, sondern in schlichtweg allen kulturellen, künstlerischen Ausdrucksformen. Die Sublimierung ist laut Freud in ihrer Allgemeingültigkeit und Allgegenwärtigkeit das Fundament unserer gesamten Kultur[28]. In kulturellem und künstlerischem Schaffen (wie etwa der Erzählung) steckt also ursprünglich, wie auch im nächtlichen Traum, der unbewusste Triebwunsch. Viel mehr noch ist der Trieb erst ihr Auslöser. Und wie auch der Traumdeuter den Traum so zu deuten weiß, dass er den ihm zu Grunde liegenden Traumgedanken, den Triebwunsch, erkennen kann, kann jeder Rezipient einer Erzählung vom ihr innewohnenden Trieb unbewusst berührt werden. Denn „[d]ie Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben.“[29] In Analogie zum Traum und dessen Deuter kann der Leser, Zuschauer oder Spieler der fiktionalen Erzählung von dem in ihr verarbeiteten Triebwunsch angesprochen werden. Dies geschieht jedoch nicht auf der Rezeptions- oder Interpretationsebene, sondern auf einer unbewussten Ebene, die die psychoanalytische Literaturwissenschaft den beiden sonst üblichen Deutungsebenen hinzufügt.[30] Die Faszinationskraft ist für den Rezipienten wohl in den meisten Fällen nicht klar benennbar, schließlich entsteht diese Faszination im Unbewussten.

Laut Freud haben also Traum, Phantasie und Erzählung gemein, dass in ihnen „realer Triebverzicht […] durch die fiktionale Form der Wunscherfüllung kompensiert [wird].“[31] Diese Erkenntnis wurde schon häufig für hermeneutische Literaturanalysen angewandt, indem mit ihr das Verhältnis von Werk und Autor untersucht worden ist.[32] Welche Rolle diese erzählungsinhärenten, entstellten Wünsche bei der Rezeption des Werkes spielen, wurde jedoch selten, bzw. nicht untersucht. Diese Perspektive ist auch äußerst fruchtbar. Sie kann Aufschluss darüber geben, warum Charaktere, die im normalen Alltagsleben als unangenehm empfunden würden, genuss- und lustvoll wahrgenommen werden können. Ein weiterer Punkt der psychoanalytischen Literaturwissenschaft, der sehr aufschlussreich für das Rezipientenverhalten ist, ist die Suche des Menschen nach Ersatz für die persönliche Triebbefriedigung, wie folgendes Zitat Freuds zeigt: „Es kann nicht anders kommen, als daß wir in der Welt der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen für die Einbuße des Lebens. Dort finden wir noch Menschen, die zu sterben verstehen, ja, die es auch zustande bringen, einen anderen zu töten.“[33] Der Genuss entsteht also nicht bloß durch das Ansprechen der unbewussten Triebwünsche des Rezipienten durch den sublimierten Triebwunsch, sondern bereits durch die beobachtete, stellvertretend stattfindende Triebauslebung. Wichtig ist an dieser Stelle aber zu erwähnen, dass in dieser Arbeit nicht das 'ins Reine' Sublimierte untersucht werden soll, sondern Figuren, die in ihrer Darstellung und ihrem Handeln viel näher und offensichtlicher am eigentlichen sexuellen und aggressiven Triebwunsch sind. Denn es ist nur logisch, dass der Effekt der genussvollen Beobachtung offensiver und offensichtlicher Triebauslebung größer ist als bei entstellter. Moralisch und gesellschaftlich defizitäre Antihelden sprechen diese unbewussten Triebwünsche viel unmittelbarer an als heroische Helden.

[...]


[1] Aristoteles: Die Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: 2006. S. 29.

[2] In der gesamten Arbeit werde ich den Begriff der Erzählung als Überbegriff aller Formen von Narrationen in den untersuchten Medien verwenden.

[3] Lahn, Silke / Meister, Jan Christoph: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart, Weimar: 2008. S. 232.

[4] s. Burdorf, Dieter / Fasbender, Christoph et al. (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. 3. völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar: 2007. Eintrag zu Held.

[5] s. ebd.

[6] Burdorf (2007), Eintrag zu Antiheld.

[7] Der Begriff Videospiel bezieht sich in dieser Arbeit auf Narrationen, die in virtuellen Räumen angesiedelt sind und mittels Spielkonsolen, PC und Ähnlichem interaktiv erlebt werden können. Dies schließt MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games wie das populäre World of Warcraft, reine Wettbewerbsspiele wie Sportspiele und Multiplayer-Spiele wie Counter-Strike sowie die meisten Jump'n'Run-Spiele wie Super Mario aus, da diese keine oder nur eine rudimentäre erlebbare Erzählung beim Spielen vermitteln.

[8] vgl. Burdorf (2007), Eintrag zu Antiheld.

[9] Lohmann, Hans-Martin: Sigmund Freud zur Einführung. 6. Auflage. Hamburg: 2006. S. 8f.

[10] Lohmann (2006), S. 18.

[11] Freud, Sigmund: Der Dichter und das Phantasieren. In: Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Band VII. Frankfurt am Main: 1999. S. 219.

[12] Christmann, Ursula / Groeben, Norbert: Psychologie des Lesens. In: Franzmann, Bodo et al.: Handbuch Lesen. München: 1999. S. 177.

[13] s. Lohmann (2006), S. 18: „Aber, fügt Freud hinzu, er glaube nicht, »daß die Psychoneurotiker sich hierin [der Verliebtheit gegen den einen, Haß gegen des andern Teil des Elternpaares] von anderen normal verbleibenden Menschenkindern scharf sondern«.“

[14] s. Lohmann (2006), S. 21 zum unbewussten Wunsch, „der für Freud immer aus der Kindheit und deren ungezügeltem Wunsch-Egoismus [meine Hervorhebung] stammt [...]“.

[15] vgl. Lohmann (2006), S. 8.

[16] Die Konzepte der Kastrationsangst und des Penisneids sind sehr komplex und spielen eine wichtige Rolle in der Freudschen Theorie der frühkindlichen Entwicklung. Für diese Arbeit sind sie jedoch nur bedingt von Bedeutung. Daher wird auf nähere Ausführungen verzichtet. Für weitere Ausführung zu diesem Teil der Freudschen Theorie s. Klawitter, Arne / Ostheimer, Michael: Literaturtheorie – Ansätze und Anwendungen. Göttingen: 2008. S. 146.

[17] Goebel, Eckart: Jenseits des Unbehagens. »Sublimierung« von Goethe bis Lacan. Bielefeld: 2009. S. 142.

[18] Lohmann (2006), S. 20f.

[19] s. Lohmann (2006) S. 23f für einen kurzen Überblick des Phänomens, s. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Hamburg: 2010. S. 298 – 371 für dessen ausführliche Darlegung.

[20] Freud (1999), S. 214.

[21] Freud (1999), S. 215.

[22] Ebd.

[23] Ebd.

[24] Freud (1999), S. 223.

[25] s. Freud (1999), S. 214.

[26] s. Freud (1999), S. 223.

[27] Goebel (2009), S. 123.

[28] s. Goebel (2009), S. 129ff.

[29] Klawitter (2008), S. 145.

[30] s. Schönau, Walter / Pfeiffer, Joachim: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart / Weimar: 2003. S. 36f.

[31] Klawitter (2008), S. 145.

[32] siehe das Kapitel Psychoanalytische Literaturwissenschaft in Klawitter (2008).

[33] Freud, Sigmund: Zeitgemässes über Krieg und Tod. In: Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Band X. Frankfurt am Main: 1967. S. 343.

Excerpt out of 44 pages

Details

Title
Der Joker "auf der Couch". Zur Faszination des Antihelden in Literatur, Film und Videospiel
College
Ruhr-University of Bochum  (Germanistisches Institut)
Grade
2,0
Author
Year
2011
Pages
44
Catalog Number
V205401
ISBN (eBook)
9783656329848
ISBN (Book)
9783656335214
File size
1779 KB
Language
German
Keywords
Psychoanalyse, Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Antiheld, Batman, Joker, Videospiel, Comic, Woyzeck, Georg Büchner
Quote paper
Tim Stobbe (Author), 2011, Der Joker "auf der Couch". Zur Faszination des Antihelden in Literatur, Film und Videospiel, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205401

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