Wilhelm Lehmbruck als Marmorbildhauer?


Etude Scientifique, 2012

20 Pages


Extrait


Am 19. Oktober 1967 schrieb der Direktor des Wilhelm Lehmbruck-Museums in Duisburg, Gerhard Händler, an seinen Vorgänger, August Hoff: „Sehr interessant und wichtig erscheint es mir, darüber Klarheit zu gewinnen, wie weit Lehmbruck selbst in Stein (Marmor) gearbeitet hat.“[1] Hoff antwortete ihm am 1. November 1967: „Ja, Lehmbruck hat selbst in Marmor gearbeitet, besonders in der Düsseldorfer Zeit. Große Werke wie die ‚Duisburgerin‘ oder den letzten Torso ließ er vorarbeiten und bearbeitete die Oberfläche selbst.“[2]

Dokumente, die diese Auskunft bezüglich der Großskulpturen stützen würden, sind bislang nicht bekannt. Ebenso wenig gibt es Untersuchungen, die ausschließlich Lehmbrucks Marmorarbeiten gewidmet sind. Veronika Wiegartz hat sich 2000 eingehender mit diesem Aspekt beschäftigt, doch kam auch sie zu folgendem Ergebnis: „Ungeklärt ist […] bis heute, ob Lehmbruck den Stein selbst bearbeitete oder das Aushauen der Figur in Auftrag gab, wie es den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts entsprach.“[3] Insofern ist Händlers Ansinnen aktuell geblieben. Mit letzterem engstens verknüpft sind außerdem zwei weitere virulente Fragen, die eine Annäherung an Händlers Ausgangsfrage erlauben könnten und im Folgenden zu prüfen sind: Welche Plastiken aus seinem Œuvre hat Lehmbruck in Marmor übertragen (lassen)? Und was könnte ihn motiviert haben, neben dem gleichermaßen avantgardistischen wie günstigen Material des Kunststeins auch das des Marmors einzusetzen, der sicherlich ebenso teuer wie die für Lehmbruck zu Lebzeiten nicht finanzierbare Bronze[4] und überdies schwerer zu beschaffen war?

Im Hinblick auf die Ausführung kleinerer Marmorarbeiten ist ein Brief von Lehmbruck aus dem Jahre 1904 an Else Woisin in Mülheim an der Ruhr aufschlussreich, in dem es heißt: „Ich möchte zu Studienzwecken die Züge ihrer jüngeren Schwester in Wandsbeck plastisch festhalten und später wohl in Marmor verewigen.“[5] Demnach dürfte Lehmbruck tatsächlich selbst in Marmor gearbeitet haben, wie er hier im Hinblick auf ein geplantes Porträt erwähnt, das als Gattung aufgrund der anzustrebenden Wirklichkeitstreue ein entsprechendes künstlerisches Geschick erforderte. Festzuhalten ist außerdem, dass Lehmbruck die Marmorausführung zu diesem Zeitpunkt „zu Studienzwecken“ plante, d.h. aus eigenem Antrieb und auf eigene Kosten, nicht aufgrund eines Auftrags. Folglich ist zunächst zu fragen: Wann und wo könnte Lehmbruck das Meißeln in Marmor gelernt haben?

Im Jahr 1904, in dem er den zitierten Brief geschrieben hat, studierte Lehmbruck bereits bei Carl Janssen an der Düsseldorfer Akademie. Entsprechend erklärte Siegfried Salzmann 1981, der Gerhard Händler als Direktor des Wilhelm Lehmbruck-Museums nachfolgte: „Dass er [Lehmbruck] an der Akademie und speziell bei Janssen das Schlagen von Marmor erlernte, kann als sicher angenommen werden.“[6] Salzmann stützte seine These u.a. durch Forschungsergebnisse von Hoff, der 1936 Lehmbrucks Geschick beim Arbeiten aus dem Block hervorgehoben hatte: „Schon überraschend früh trat die ungewöhnliche bildnerische Begabung des Knaben [Lehmbruck] in Erscheinung. [...] Mit dem Taschenmesser schnitzte er aus Kreide- oder Gipsblöcken allerlei Figuren [...]. Er schnitzte wirklich aus dem Block, er modellierte nicht.“[7]

Konträr zu Salzmann kam Jutta Dresch in ihrer Untersuchung zur Düsseldorfer Bildhauerschule (1989) bezüglich des Unterrichts im Marmorschlagen zu folgendem Ergebnis: „Karl Janssen konzentrierte sich auf die Ausbildung seiner Schüler im plastischen Modellieren. [...] Für die Einrichtung eines Marmorateliers an der Düsseldorfer Akademie, von deren Planung Wilhelm Schäfer 1901 berichtete, gibt es keinen Hinweis. Aufgrund ihrer technischen und künstlerischen Bedingungen hätte die Meißelarbeit am Block die Düsseldorfer Bildhauer zwangsläufig zu skulpturalen Formen leiten müssen. Die Janssen-Schule hätte sich dann auch von ihrer Anlehnung an die Malerschule lösen müssen und können: sie wäre bildhauerischer und damit künstlerisch selbständiger geworden. Aber eine vereinzelte Konzentration von Form und Inhalt gab es in der Düsseldorfer Bildhauerschule erst spät, wie Janssens Trauernde von 1907 zeigt, die logischerweise in Marmor gehauen ist.“[8] Konkret für Lehmbruck konstatierte Dresch: „Das Ende seiner Studienzeit bei Karl Janssen im Jahr 1906 signalisierte Lehmbrucks beginnende Loslösung von der akademischen Kunst und seine Hinwendung zur Modernität. Diese Phase seines Schaffens wurde durch die 1907 entstandene Gruppe Mutter und Kind eingeleitet. Sie wurde im Jahr ihrer Entstehung in verschiedenen Fassungen (Gips, Marmor, Bronze) in Düsseldorf, München und Paris ausgestellt.“[9]

Tatsächlich ist Lehmbrucks Gruppe Mutter und Kind (Abb. 1) von vergleichbar „bildhauerischer“ – weil blockhafter – „und damit künstlerisch selbständiger“ Komposition wie Janssens Trauernde (Abb. 2). Demnach könnte Lehmbruck den Marmor selbst ausgeführt haben,[10] zumal der junge Künstler 1907 finanziell kaum in der Lage gewesen sein dürfte, für die von Dresch benannten Ausstellungen parallel Werkstätten mit Bronze- und Marmorarbeiten zu beauftragen.[11] Ebenso wie Lehmbruck in der Akademie Bronzen herstellen konnte, wo Janssen für solche Zwecke eigens eine Gießerei hatte einrichten lassen,[12] könnte er dort mit Hilfestellungen seines Lehrers, der zeitgleich an seiner marmornen Trauernden arbeitete, auch die Marmorversion von Mutter und Kind angefertigt haben. 1902 hatte Janssen bereits ein ähnlich großes und berühmt gewordenes Werk in Marmor gehauen, die Steinklopferin (Abb. 3), welche ebenfalls eine Mutter-Kind-Gruppe darstellt.[13] Die Annahme, dass Lehmbruck das Handwerk des Meißelns größtenteils autodidaktisch erlernt hat, in der Akademie als Meisterschüler aber sowohl ein ausreichend großes Atelier als auch den gelegentlichen Rat Janssens in Anspruch nehmen konnte,[14] führt überdies die scheinbar divergenten Ergebnisse von Dresch (Meißeln zählte nicht zu den regulären Bestandteilen der akademischen Bildhauerausbildung) und Salzmann (Lehmbruck sei im Bearbeiten des Marmors von Janssen angeleitet worden) zur Synthese.

[...]


[1] Brief im LehmbruckArchiv Duisburg.

[2] Wie Anm. 1.

[3] Veronika Wiegartz: Auf der Suche nach Vollkommenheit. Frühe Torsi und Material im Werk von Wilhelm Lehmbruck, in: Ausst.-Kat. Wilhelm Lehmbruck, hrsg. von Martina Rudloff und Dietrich Schubert, [Gerhard Marcks-Haus Bremen, Georg-Kolbe-Museum Berlin, Wilhelm-Lehmbruck-Museum Duisburg, Städtische Kunsthalle Mannheim], Bremen 2000, S. 87-105, hier S. 100.

[4] Vgl. Siegfried Salzman: Wilhelm Lehmbruck 1881-1919, in: Wilhelm Lehmbruck. Katalog der Sammlung des Wilhelm-Lehmbruck-Museums der Stadt Duisburg. Beiträge von Siegfried Salzmann, Recklinghausen 1981, S. 23-32, hier S. 32, Anm. 30.

[5] Vgl. Siegfried Salzmann (wie Anm. 4), S. 27.

[6] Vgl. Siegfried Salzmann (wie Anm. 4), S. 27.

[7] August Hoff: Wilhelm Lehmbruck. Seine Sendung und sein Werk, Berlin 1936, S. 16.

[8] Jutta Dresch: Karl Janssen und die Düsseldorfer Bildhauerschule, Düsseldorf 1989, S. 58-59, Abb. auf S. 130, Nr. 64.

[9] Vgl. Jutta Dresch (wie Anm.8), S. 71.

[10] Vgl. Dietrich Schubert: Die Kunst Lehmbrucks, Dresden 1990² [Worms 1981], S. 131.

[11] In München war allerdings nicht die Bronzeversion von Lehmbrucks Vollplastik Mutter und Kind ausgestellt, wie Jutta Dresch vermutet hat (wie Anm. 8), sondern die des ebenfalls 1907 entstandenen Reliefs In Gedanken (Mutter und Kind); vgl. Dietrich Schubert: Wilhelm Lehmbruck. Catalogue Raisonné der Skulpturen 1898-1919, S. 176, Nr. 32, und S. 177, Nr. 32.B.3. Bezüglich der Kosten für den Bronzeguss von Mutter und Kind schrieb Lehmbruck am 18.1.1907 an seine Schwester Elisabeth: „Bis die Arbeit Mutter und Kind ganz fertig ist, kostet sie mir auch noch Geld für Abformen und Abgießen.“ Vgl. Dietrich Schubert 1990² (wie Anm. 10), S. 285.

[12] Vgl. Jutta Dresch (wie Anm. 8), S. 58.

[13] Heute befindet sich Janssens Steinklopferin im Museum Kunstpalast in Düsseldorf. Vgl. dazu Jutta Dresch (wie Anm. 8), S. 122, Nr. 48 und 40, und Dietrich Schubert 1990² (wie Anm. 10), S. 75.

[14] Vgl. Paul Westheim: Wilhelm Lehmbruck, Potsdam-Berlin 1919, S. 27.

Fin de l'extrait de 20 pages

Résumé des informations

Titre
Wilhelm Lehmbruck als Marmorbildhauer?
Auteur
Année
2012
Pages
20
N° de catalogue
V205576
ISBN (ebook)
9783656319566
ISBN (Livre)
9783656322344
Taille d'un fichier
3068 KB
Langue
allemand
Mots clés
Lehmbruck;, Bildhauer;, Klassische Moderne;, Paris;, Armory Show;, Mamor;, Erster Weltkrieg;, Hoetger;, Janssen;, Material;
Citation du texte
Dr. Marion Bornscheuer (Auteur), 2012, Wilhelm Lehmbruck als Marmorbildhauer?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205576

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