Extrait
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die groteske Leibeskonzeption nach Michail Bachtin – Eine Einführung
2.1. Quelle 1: Die Riesenlegenden
2.2. Quelle 2: Die Wunder Indiens
2.3. Quelle 3: Mittelalterliche Mysterienspiele
2.4. Quelle 4: Der (christliche) Reliquienkult
2.5. Quelle 5: Marktplatzkomik und Sprachgebrauch des Mittelalters: Schwüre, Flüche, Schimpfworte
2.6. Quelle 6: Die Hippokratische Schriftensammlung
3. Der göttliche Schelm namens Wakdjunkaga – Eine Einführung
3.1. Analyse der 14ten Episode: Der Schelm versengt sich den After und isst seine eigenen Eingeweide
3.2. Analyse der 15ten Episode: Der Penis wird in einen Kasten verpackt
3.3 Analyse der 23ten Episode: Die Abführzwiebel
4. Ausblick
5. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit den Merkmalen und Motiven der grotesken Leibes- bzw. Körperkonzeption des russischen Literaturwissenschaftlers, Semiologen und Kulturtheoretikers Michail M. Bachtin. Zentral untersucht werden dabei die sechs Quellen des grotesken Leibes: die Riesenlegenden, die Wunder Indiens, die Mysterienspiele, der christliche Reliquienkult, die Marktplatzkomik sowie der Sprachgebrauch des Mittelalters und die hippokratische Schriftensammlung. Diese Quellen benutzt Bachtin in seiner Abhandlung Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur[1] um an François Rabelais Roman Gargantua und Pantagruel[2] die groteske Leibeskonzeption zu manifestieren. Innerhalb dieser Hausarbeit dienen die Rabelaisschen Quellen als Grundlage zur Hervorhebung, Verdeutlichung und Vorstellung von Motiven des grotesken Leibes wie exemplarisch Hyperbolisierung, Offenheit, Zweileibigkeit[3], Verspottung, Überindividualität bzw. Kollektivität, Mischkörperlichkeit, Anatomisierung, Zerstückelung, Reisen zwischen den Welten (Leben und Tod), Lazzi, Ausscheidungen und Ausdünstungen von Körpersäften und Weiteren mehr.
Im Verlauf dieser Hausarbeit soll nachgewiesen werden, dass die Leibeskonzeption mythischer Figuren, spezifischer gesagt die des Tricksters, eine groteske ist. Um diese These zu verifizieren, werden drei Episoden des indianischen Mythenzykluses der Winnebago Indianer mit der Gestalt des Wakdjũnkaga anhand der zuvor erarbeiteten Motiven der Rabelaisschen Quellen des grotesken Leibes hin analysiert. Die Untersuchung der Episoden des indianischen Mythenzyklus zeigt exemplarisch Motive des grotesken Leibes auf: Offenheit des Leibes, die Ablösung von Körperteilen sowie Individualität derer, die Selbstbenennung bzw. eigene Namensgebung, ein überdimensional großes Genital, der sexuelle Vorgang der Masturbation sowie die Zerstörung und Wiederherstellung seiner Welt durch die Winde des Wakdjũnkaga. Diese Analyse soll die Funktion und das Verständnis des grotesken Leibes für Wakdjũnkaga als Trickster aufzeigen.
Abschließend resümiert der Ausblick die dargelegte Argumentation und skizziert daraus resultierend die Thematik des grotesken Leibes als Kunstmittel bzw. Zugang des Erzählers zu den mythischen Erzählstoffen. In jenem Kapitel liegt der Versuch einer Einordnung des grotesken Leibes als Zugang/ Kunstmittel/ Kunstgriff in die Erzählkunst der mythischen Figuren/ Trickster vor. Der groteske Leib wird anhand eines skizzierten Schemas – zur Vermittlung der Funktion der traditionellen Schauspielkunst – systematisiert. Dieses Schema soll die Beziehung des Akteurs, der Kunstfigur und der diversen Rollen verdeutlichen und eine Brücke schlagen in unsere Zeit. Ersichtlich werden dabei (Über-)Reste und Praktiken, welche bis heute überleben (können). Groteske Motive fungieren dabei zwar (nur) noch als Reminiszenz, dies zeigt sich anhand zweier ausgewählter aktueller Beispiele. Diese Beispiele zeigen verkürzt die Überdauerung jenes Kunstvorganges und verweisen auf die aktuelle Präsenz und Existenz auf Bühnen bzw. im öffentlichen Leben.
2. Die groteske Leibeskonzeption nach Michail M. Bachtin – Eine Einführung
Direkt zu Beginn dieser Hausarbeit muss darauf hingewiesen werden, dass im Folgenden nicht wie in Michail M. Bachtins[4] Buch Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur die deutsche Übersetzung grotesker Körper verwendet wird sondern stets der Begriff grotesker Leib. Grund dafür ist die Begrenzung des Wortes Körper in Vergleich zu Leib. Deutlich wird dies anhand Bachtins Definition des Neuen Körperkanons. Diese Körperkonzeption kann als Gegenstück zum grotesken Leib angesehen werden und zeichnet sich durch seine abgeschlossene, individuelle Ab- bzw. Begrenzung aus. Dabei steht die glatte, abgeschlossene Oberfläche des Körpers im Zentrum, welche eine Überschreitung der Körpergrenzen unterbindet bzw. die Körper voneinander isoliert. Bedeutend ist dabei, dass beide Körperkonzepte sich trotz ihrer Differenz nicht ausschließen sondern parallel bestehen und sich ihre Gegensätzlichkeiten komplementär zueinander verhalten.[5]
Des Weiteren kann in dieser Hausarbeit nicht in großem Umfang auf François Rabelais’ Roman sowie die Wichtigkeit des Karnevals für Bachtin eingegangen sondern nur verwiesen werden. Der Bezug zu Rabelais stellt sich jedoch vertiefend her, da die von Bachtin verwendeten Quellen, anhand deren er die Veranschaulichung des grotesken Leibes beschreibt, aus Rabelais’ Roman stammen.
Essentiell für Bachtins Karnevals Theorie ist jedoch der Festcharakter des Karnevals, die Stabilisierung der Ordnung anhand der (vorübergehenden) Unordnung innerhalb der Hierarchie im Fest. Dies ist die Situierung, in welcher der groteske Leib wirkt und muss bei allen Überlegungen und Argumenten mitgedacht werden. Im Rahmen dieser theaterwissenschafltichen Untersuchung ist darauf hinzuweisen, dass Bachtin literaturwissenschaftlich arbeitet und anhand dieser Fachspezifik nicht immer im heutigen Verständnis von theaterwissenschaftlichen Fachtermini argumentiert.
Einführend wird die Konzeption des grotesken Leibes kurz allgemein vorgestellt und im nachfolgenden Kapitel spezifisch auf die Merkmale und weiteren Zusammenhänge eingegangen. Der groteske Leib kann als Verleiblichung des mythischen Denkens verstanden werden, wobei der neue Körperkanon das deskriptive bzw. logische Denken beschreibt, sich beide Konstruktionen jedoch nicht ausschließen, sondern komplementär bestehen. Grundlegend ist für den grotesken Leib eine offene, zweileibige und grenzüberschreitende Leibeskonzeption. Der Wirkungsbereich des grotesken Leibes zeigt sich im Fest bzw. Karneval und in Schaubuden sowie Jahrmärkten. Der groteske Leib impliziert die Degradierung von Ordnung und Hierarchie, ebenso den Prozess des werdenden Leibes, ist nicht individuell sondern überindividuell bzw. kollektiv und kann als Bild des schwangeren Todes verstanden werden, der in sich Gegensätze wie Geburt und Tod vereint. Die Charakteristik von groteske Leibes- bzw. Körperteile zeigt sich anhand ihrer Öffnungen, das Nicht-Glatte bzw. Abgeschlossene sondern das Hervorstehende bzw. Abstehende. Prädestiniert dafür sind Körperteile wie die Nase (synonym für den Phallus), der Mund, der Schlund, der Uterus und letztlich der After. Tierische Komponenten deuten auf seine Nähe zur Natur hin. Alles Abstehende/ Herausbrechende des Leibes zeigt des Weiteren die Neuentstehung weiterer Leiber, die „im Entstehen begriffen“[6] sind sowie das nachfolgende Element: „der groteske Leib verschlingt die Welt und wird von ihr verschlungen“[7] .[8]
Für die Menschen im Mittelalter ist laut Bachtin der groteske Leib eine gemeinhin gebräuchliche Darstellung und wird erst im Laufe der Zeit von dem neuen Körperkanon, welcher wie zuvor beschrieben individuell, abgeschlossen sowie begrenzt ist und alle grotesken Motive negiert, abgelöst:
„Alle Dinge der Welt haben ihren alten Platz in der Hierarchie des Weltalls verlassen und sich auf die horizontale Ebene der werdenden Welt begeben. Sie fangen an, sich auf dieser Ebene neue Plätze zu suchen und untereinander neue Beziehungen und Nachbarschaften herzustellen. Das ZENTRUM, um das sich alle Dinge und Werte neu gruppieren, ist der MENSCHLICHE KÖRPER, der in sich die ganze Vielfalt des Weltalls birgt.“[9]
Die nachfolgend verwendeten Quellen spezifizieren die Definition des grotesken Leibes, zeigen eine historische Kontinuität und Tiefe von grotesken Elementen auf und beschreiben anhand jener sechs Quellen groteske Motive. Diese herausgestellte Motivik der grotesken Körperkonzeption kann folglich als Hilfsmittel zur Untersuchung und Analyse potentieller grotesker Leiber benutzt und gemeinsam auf eine weitere Untersuchungsebene abstrahiert werden.
2.1 Quelle 1: Die Riesenlegenden
Bachtin zeigt anhand des Romans von Rabelais auf, wie bedeutsam die Quelle der mündlich überlieferten Legenden der Riesen für die groteske Leibeskonzeption ist. Das aus jener Quelle resultierende Merkmal des grotesken Leibes ist die Hyperbolisierung, womit eine überdimensionale Größe und Vergrößerung von (grotesken) Körperteilen in unterschiedlichsten Ausprägungsgraden beschrieben wird. Der „grotesk-leibliche Charakter“[10] des Riesen beschreibt ebenso intensivierte Körperfunktionen wie exemplarisch un- bzw. übermenschliche Kräfte oder einen Riesenhunger mit dem Motiv des Schluckens / Verschlingens. Die Korrelation von Riesen und Nahrungsaufnahme ist bezeichnend und verweist auf eine „volkstümliche Vorstellung von materiell-leiblicher Fülle und Überfluß“[11] . Die folkloristische Popularität von Riesen in unmittelbarer Nähe der Menschen begründet sich anhand ihrer alltäglichen Präsenz, exemplarisch auf Marktplätzen, Jahrmärkten und Schaubuden.[12]
Zudem belegt die Geographie des Landes die Riesenlegenden als Quelle der grotesken Leibeskonzeption anhand von „visuelle[n] Stützen im örtlichen Landschaftsbild“[13]. Jene naturgegebenen, überdimensionalen Landschaftsmotive betonen dabei die grotesken Elemente wie Zerlegen, Verschlingen, Verstreuen und Abbildungen von übergroßen Körperteilen. Dies dient darüber hinaus als weiteres Quellmaterial für eine Beschreibung der grotesken Topographie. Diese Quelle zeigt sich kontinuierlich in der Überlieferung von Betitelungen für landschaftliche Phänomene mit groteskem Charakter wie exemplarisch Hügel und Vertiefungen. Die Namensgebung bzw. die Benennung jener Phänomene verweist dabei auf zerstückelte Körperteile sowie auf ein weiteres Motiv: Die Benennung des grotesken Leibes.
2.2. Quelle 2: Die Wunder Indiens
Die Legenden der Wunder Indiens, primär erfasst von dem griechischen Geschichtenschreiber und Arzt Ktesias von Knidos, beeinflussen essentiell die Weltanschauungen und -betrachtungen (Kosmographie[14] ) der Menschen im Mittelalter. Dabei offenbart sich die zuvor beschriebene Vorstellung von grotesken Leibern als ästhetische Gewohnheit der Menschen, nicht nur im Alltag sondern ebenso in der Literatur und Bildenden Kunst.
Die Wunder Indiens beinhalten:
„[…] phantastische Nachrichten über absonderliche Völker (Menschen mit Hundeköpfen, Bergbewohner mit jeweils acht Fingern und Zehen und riesigen, den Rücken bedeckenden Ohren) und merkwürdige Tiere (z. B. ein Raubtier mit dreireihigem Gebiß und einem großen Giftstachel am Schwanzende).“[15]
[...]
[1] Vgl. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main, 1995.
[2] Vgl. Rabelais, François: Gargantua und Pantagruel. Frankfurt am Main, Leipzig, 1974.
[3] Zweileibigkeit bedeutet nicht nur die Verbindung / Anknüpfung zweier Leiber sondern ist in unbegrenzter Anzahl möglich.
[4] Michail Michailowitsch Bachtin lebte vom Jahr 1895 bis 1975 und ist ein anerkannter, russischer Sprach-, Literatur- sowie Kunsttheoretiker. Seine Theorie der Volkskultur als Gegenkultur ist eine (verdeckt) geäußerte Kritik an der stalinistischen Ideologie seiner Zeit und kann als Gegenmodell definiert werden. Diese Lachkultur – (an)lachen gegen die kosmische Angst – beinhaltet eine Rückbesinnung auf die Volkskultur und birgt des Weiteren die Gefahr der Romantisierung seiner Kritik als Ideologie. Bachtins Arbeitsbereich betitelt als „Gegen das monologische denken und die Lachfeindlichkeit in Russland“ führte nicht nur zu seinem Konzept der Karnevalisierung sondern ebenso zu seiner persönlichen Verbannung nach Kasachstan im Jahr 1929. Aufgrund der politischen Lage ergab sich keine Publikationsmöglichkeit für Bachtin. Nach seiner politischen Rehabilitation und weiteren Veröffentlichungen erfolgte in den 1960iger Jahren eine Transformation hin zum populär Theoretiker und jener starke Rezeptionanstieg reichte (zwar Zeitverzögert) bis über die Grenzen der Sowjetunion hinaus. Das Buch Rabellais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur wurde im Jahre 1995 erstmalig ins deutsche übersetzt und demgemäß in der Bundesrepublik Deutschland publiziert. Vgl. Sasse, Sylvia: Michail Bachtin zur Einführung. Hamburg, 2010.
[5] Vgl. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main, 1995. S.361-363.
[6] Ebd. S.358.
[7] Ebd. S. 358.
[8] Vgl. Bachtin, Michail: Literatur und Karneval: zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt am Main, 1990. S.15-23.
[9] Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main, 1995. S. 410.
[10] Ebd. S. 384.
[11] Ebd. S. 386.
[12] Vgl. Ebd. S. 384-386.
[13] Vgl. Ebd. S. 383f.
[14] Die mittelalterliche Kosmografie umfasste die Bereiche Geologie, Geographie und Astronomie. Vgl. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main, 1995. S. 388.
[15] Vgl. URL: http://www.artemisundwinkler.de/lexikonderantike_mobil/i/Indika.html (letzter Zugriff am 12. August 2011)
- Citation du texte
- Kerstin Schmitt (Auteur), 2011, Die Motivik des grotesken Leibes nach Michail M. Bachtin , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206751
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