Das Verstehen verstehen. Linguistische Hermeneutik politischer Alltagskommunikation

Am Beispiel von Online-Leserkommentaren in der Süddeutschen Online zu Stefan Raabs Polittalkshow Absolute Mehrheit – Meinung muss sich wieder lohnen


Seminararbeit, 2012

40 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Hinführung

1. Theoretische Überlegungen

2. Korpus und Methode

3. Eine Beispielanalyse: Die Polittalkshow Absolute Mehrheit

4. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Hinführung

„Nur Mut!" hatte Fritz Hermanns (2003: 159) in seinem programmatischen Text zur Begrün­dung einer linguistischen Hermeneutik ausgerufen; Mut sollen Linguisten[1] dazu haben, in das kantische Sapere Aude! auch Einzeldeutungen von einzelnen Kommunikationsereignissen und Texten einzuschließen. Der Mut scheint insbesondere in der politolinguistischen Forschung (derzeit noch) in zweierlei Hinsicht zu fehlen: Erstens, Sprachwissenschaft auf der methodi­schen Ebene als „verstehende Wissenschaft" (Biere 2008: 263) zu begreifen und zweitens dieje­nigen in den Fokus zu nehmen, von deren Verstehen die Wirkung politischer Kommunikation abhängt: die Rezipienten.

Das Interesse politolinguistischer Untersuchungen liegt vor allem auf der Produzenten- und Produktseite, untersucht also beispielsweise politische Reden, Partei- oder Wahlprogramme. Sie beziehen sich überwiegend auf Sprechweise und Wortschatz derjenigen, die politische Ämter innehaben, d. h. also im Kern die Sprache von Politikern. Wird ein eher weiter Begriff von Poli­tik zugrunde gelegt, so werden auch die Medien einbezogen. Aber „das alltägliche Sprechen der „einfachen' Bürger über Politik" (Burkhardt 1996: 79), sei es im Privaten, aber auch die halb­öffentliche Sprache wie beispielsweise in Online-Leserkommentaren, um die es später gehen soll, wurde bisher kaum in den Blick genommen. Linguistische Untersuchungen zur politischen Alltagskommunikation stellen in der Forschung auch über 15 Jahre nach Burkhardts Appell, Rezipienten mehr in den Fokus zu nehmen, immer noch ein Desiderat dar.[2]

Mitunter ein Grund dafür, dass zum Großteil Texte von Politikern als Texte von Produzenten untersucht werden, ist, dass Rezipienten nicht als handelnd konzipiert werden, sondern als mehr oder weniger passive Adressaten, wenn nicht gar Opfer von Manipulationen (Holly 1996:104). Vor allem die Massenkommunikation hat dazu geführt, dass die Rollen Produzent und Rezipi­ent getrennt und einseitig festgelegt sind: „Eine dadurch eindimensional gewordene „Kommu­nikation' tendiert fast zwangsläufig zum eindimensionalen Denken." (Busse 1996: 352). Holly betont, dass die direkte Wirkung von politischen Medientexten, die in Produktanalysen unter­stellt werden, in der Weise nicht vorliegt: „Glaubt man an unmittelbare und starke Wirkungen von medialen Texten, hat man die Rechnung ohne den Wirt gemacht." (Holly 1996:118)

Der Rezipient ist nicht das passive Opfer oder hilflose Objekt der Medien, „der Rezipient ist aktiv, lebt in instabilen primären Gruppen und wechselnden Situationen, die seine Wirklich- keitskonstruktionen mitformen und ihn zu einem höchst unberechenbaren Gegenspieler in den komplexen Abläufen politischer Kommunikation machen." (Holly 1996: 105) Die Konstruktio­nen der politischen Akteure und Medien interessieren insofern nur insoweit, „wie sie die letzt­lich ausschlaggebenden Konstruktionen der Rezipienten beeinflussen, die sogar geschlossene Texte' noch in ihrem Sinne ,aufbrechen' können." (Holly 1996:110) Daher sollte im Sinne einer „Linguistik von unten" (Burkhardt 1996: 96) neben der Sprache der Gewählten und zu Wählen­den auch die der Wähler zum Gegenstand linguistischer Untersuchungen werden.

Wie können Rezipienten und ihr Sprechen über Politik und folglich ihr Verstehen politischer Texte in linguistischen Arbeiten untersucht werden? Wie kann man sich aus linguistischer Sicht an das Verstehen, welches zwangsläufig immer nur approximativ geschehen kann, annähern, wie es schaffen, „die ,unendliche Aufgabe', nicht nur Sprache zu verstehen, sondern auch noch ,Verstehen' zu verstehen, zu bewältigen?" (Biere 2007: 264) Um diese Frage soll es in der vorlie­genden Arbeit gehen. Hierfür muss zunächst ein theoretischer Rahmen mit einem Sprachbegriff erarbeitet werden, mit welchem politische Texte als ein „Angebotsspektrum für das Verstehen" (Klein 2006: 23) gedacht werden können [Kapitel 1]. Anschließend werden Überlegungen im Hinblick auf methodische Anforderungen angestellt, um einen Vorschlag zu machen, wie das Verstehen politischer Texte des Normalbürgers linguistisch-empirisch untersucht werden könnte [Kapitel 2]. Diesen Vorschlag gilt es schließlich, an einer (notwendigerweise skizzenhaften) Bei- 2139 spielanalyse zu erproben [Kapitel 3].

1. Theoretische Überlegungen

Die Konstituierung von Wirklichkeit

Als Ausgangslage für die folgenden Ausführungen ist danach zu fragen, wie es möglich ist, dass das Verstehen der Rezipienten desselben politischen Textes ganz unterschiedlich sein kann? Um sich der Frage anzunehmen, sind zunächst zwei Voraussetzungen zu beachten: (a) ein pragmatischer Sprachbegriff und (b) eine konstruktivistische erkenntnis- und sprachtheoreti- sche Auffassung.

Zu (a). Jede sprachliche Äußerung in einem politischen Diskurs ist in ein „Netz größerer sprachlicher Handlungseinheiten eingebettet, die zugleich bedingt sind von außersprachlichen, sozialen und kulturellen Praktiken." (Spieß 2011: 300) Die Politolinguistik geht davon aus, dass Sprachhandeln einen zentralen und konstitutiven Aspekt politischen Handelns darstellt, was mit der Auffassung verbunden ist, dass sich Sprache und Wirklichkeit gegenseitig bedingen (Spieß 2011: 300). Die Analyse von Foucault und anderen hat jene zentralen Aspekte von Spra­che in den Mittelpunkt gerückt, die lange Zeit von der Linguistik vernachlässigt worden sind: Zum einen die gesellschaftlich-historische Einbettung der Sprache und zum anderen die Konsti­tuierung von Gesellschaft und Wirklichkeit durch Sprache (Spitzmüller/Wamke 2011: 77). Das bedeutet, dass auch ein Verstehen damit kulturell, historisch und sozial verankert ist.

Dieser Arbeit ist eine pragmatisch begründete Auffassung von Sprache zugrundegelegt, denn nur eine solche ermöglicht eine sinnvolle Analyse politischer Sprache. Sprache wird hier­bei nicht als ein abstraktes System von gebrauchsunabhängigen Zeichen und Regeln (langue) verstanden, sondern als eine dynamische Form akteursbasierter Handlungen in konkreten Kon­texten, mit denen (beabsichtigte und unbeabsichtigte) Funktionen verbunden sind (Spitzmül­ler/Wamke 2011: 50-51).

Zu (b). Diskursive Konstituierung von Wirklichkeit bedeutet nicht, durch sprachliche Zeichen auf eine außersprachlich existente Welt von Dingen und Sachverhalten zu verweisen und diese dadurch zu repräsentieren, sondern wird Wirklichkeit dabei ausschließlich durch den Zei­chenbenutzer in einer konkreten sprachlichen Handlungssituation innerhalb des Diskurses überhaupt erst konstituiert, auf die wiederum mit Sprache ein referenzieller Zugriff möglich ist.

Damit ist der Ort der „wirklichkeitskonstitutiven Kraft der Sprache" (Busse 1987: 86) die sprachliche Aussage im Diskurs.

Denken und Verstehen müssen aber auch selbst in Abhängigkeit von der Möglichkeit einer sprachlichen Erfassung oder genauer: eines Verstehens gedacht werden. Mit seiner Idee des Sprachspiels hebt Wittgenstein hervor, „daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, 3139 oder einer Lebensform" (Wittgenstein 2006: PU §23). Damit ist gemeint, dass Aussagen immer auch ein Teil der Wirklichkeit sind, über die gesprochen wird. In Bezug auf das Textverstehen bedeutet das konkret, dass ein Text ohne entsprechendes Vorwissen und ein Interesse am Text nicht verstanden werden kann: „Textverstehen ist daher nicht nur epistemisch, d. h. durch das verfügbare Weltwissen der Verstehenden, sondern zugleich volitativ, d. h. durch Absichten und Interessen gesteuert." (Busse 2007:113)

Linguistische Hermeneutik

Unter diesen Prämissen leuchtet unmittelbar ein, dass Texte keine Bedeutung an sich haben kön­nen und auch keine objektiven Bedeutungen, die vom Leser richtig oder falsch verstanden werden könnten (Gardt 2007: 263). Es „gibt niemals den Leser, der, wenn er seinen Text vor Augen hat, einfach liest, was dasteht. [...] Er gehört mit zu dem Text, den er versteht." (Gadamer 1990: 345)

Das führt zu der Frage, auf welcher linguistischen theoretischen Grundlage das Verstehen des Verstehens und damit immer auch unterschiedliches Verstehen politischer Texte gedacht werden könnte? Mir scheint der Vorschlag Kleins (2006), die theoretische und methodische Basis der Politolinguistik im Rahmen einer „empirischen Hermeneutik" (Hermanns 2003) auszuweiten und damit „tatsächliche Verständnisse und Missverständnisse im politischen Diskurs als Daten zu erheben und zu analysieren" (Klein 2006: 23) als ein geeigneter Ansatz.[3] Bevor ich im nächs­ten Kapitel darauf näher eingehe, sind einige grundlegende Gedanken Hermanns in Bezug auf die Begründung einer linguistischen Hermeneutik als einer Teildisziplin der Sprachwissenschaft zu skizzieren, auf die sich Kleins Ansatz stützt.

Hermanns sieht die hauptsächliche Aufgabe der Sprachwissenschaft darin, zu erklären, wie Sprache funktioniert. Seit Wittgenstein wissen wir, dass sie immer wieder anders funktioniert, nämlich in verschiedenen Sprachspielen, die sich durch Regeln, Funktionen und Kontexte un­terscheiden. Letztlich funktioniert die Sprache auch nur durch Zu-verstehen-Geben und das Verstehen selbst; auch wenn sie viele Funktionen hat, so hat sie immer einen Zweck: das Ver- standen-Werden. Hermanns resümiert deshalb: „Das Verstehen ist das A und О von Sprache."

(Hermanns 2003: 126) Eine Linguistik ohne Hermeneutik sei „ein Unding" (Hermanns 2003: 128), weshalb es auch keine Linguistik ohne Hermeneutik geben könne. Wichtig in unserem Zusammenhang ist der Hinweis, dass es keine trennscharfe (oder überhaupt eine?) Grenze zwi­schen Verstehen und Erklären geben kann, weil das Verstehen die Funktion des Erklärens ist, das Erklären dient somit dazu, Verstehen zu bewirken.[4] In diesem Sinne kann das Interpretieren von Texten als Erklären verstanden werden (Hermanns 2003:149) oder für diese Arbeit genauer: als Erklären des Verstehens.

Max Weber hat Soziologie als eine Wissenschaft beschrieben, „welche soziales Handeln deu- 4139 tend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will." (Weber 1976: 1) Wenn alle Gegenstände im sozialen und kulturellen Bereich Ergebnisse und Produkte menschlichen Handelns sind, dann ist es möglich, sie verstehend zu erfassen. Fasst man politische Online-Leserkommentare als kulturelle Sprachhandlungen auf, dann können sie in einer linguistischen Hermeneutik beschrieben werden, in dem man diese Sprachhandlungen versteht und das Verstehen beschreibt - es erklärt. Sie sind dann als Untersuchungsgegenstand der verstehenden Wissenschaft genauso legitim und gleichwertig anzusehen wie Produkte von Politikern. Ist politische Kommunikation vor allem als sprachliches Handeln unter Sinnzu­schreibung zu verstehen, dann sollte auch diese verstehend erfasst werden können, ja sie muss es sogar, weil sie doch selbst explizit auf eines zielt: verstanden zu werden.

Hermeneutik als Lehre vom Textverstehen bezieht den Rezipienten als eigenständige Größe in ein Modell der Textoffenheit ein. Hierbei besteht die Vorstellung, dass Texte nichts Abge­schlossenes, einseitig vom Produzenten Hergestelltes sind. Dieses alternative Konzept zum Stimulus-Response-Modell sieht Bedeutungen als etwas an, das in wechselseitigem Prozess zwischen Produzent und Rezipient konstituiert wird (Holly 1996:106). Da politische Texte eine komplexe Handlungsstruktur haben, enthalten sie vielfach ein breites „Angebotsspektrum für das Verstehen." (Klein 2006: 23) Rezipienten haben neben unterschiedlichem Wissen auch un­terschiedliche Relevanzsetzungen, aus welchen sich unterschiedliches korrektes Verstehen oder Teilverstehen ergibt. Was bedeutet hierbei Verstehen? „Prototypisch ist Verstehen wohl vor allem ein Erkennen von Zusammenhängen und deshalb speziell auch von Ursachen und von Gründen, von Funktionen, von Motiven und Absichten." (Hermanns 2003: 135) [Herv. i. O.] Gerade politi­sche Texte lassen oftmals zahlreiche Anschlussmöglichkeiten, d. h. Einordnungen in unter­schiedliche Zusammenhänge zu.

Das Erklären eines korrekten Verstehens kann dementsprechend nur eines sein, das das Verste­hen des Rezipienten, aber ebenso das eigene Verstehen des Forschers, in diskursive Zusammen­hänge einordnet und das Einzelne (also z. B. den Leserkommentar) als Teil eines bestimmten Ganzen „durch Ahndungsvermögen und Verknüpfungsgabe" (Humboldt 1968: 36) erahnen und konstruieren kann. Wie das in einer linguistischen Untersuchung methodisch gemacht werden könnte, das soll Gegenstand des folgenden Kapitels sein.

2. Korpus und Methode

Methodische Anforderungen

Ein Missverständnis ist direkt zu Anfang auszuräumen: Mit der Konzentration auf den Rezipi­enten soll keine umgekehrte Dichotomie angestrebt werden; es geht nicht darum, den Produzen­ten zu vernachlässigen. In den bisherigen Ausführungen konnte plausibel gemacht werden, dass eine solche Dichotomie nicht aufrechtzuerhalten ist und gerade in einer empirischen Her­meneutik ist es unerlässlich, sich von der Tradition zu lösen, „Texte isoliert von der Dynamik ihrer Kontexte zu analysieren" (Klein 2007: 202), wenn man das Verstehen verstehen möchte.

Hermanns (2003: 129) hat für eine linguistische Hermeneutik vier Teilbereiche vorgeschla­gen: eine theoretische, empirische, didaktische und praktische Hermeneutik. Für diese Arbeit sind vor allem die empirische („Darstellungen von empirisch (inklusive philologisch) erschließ­barem Sprach- und Textverstehen") und praktische Hermeneutik („das Verstehen und Interpre­tieren selber") bzw. ihre Verknüpfung von Interesse, was auch den methodischen Ansatz Kleins (2007) darstellt, wobei dieser in seiner Untersuchung die Medien als Rezipienten in den Blick nimmt.

Politische Texte, das wurde bereits ausgeführt, können nur dann angemessen gedeutet und analysiert werden (praktische Hermeneutik), wenn die Verstehensvoraussetzungen der Adres­saten geklärt werden (Adressaten abholen), d. h. das Verstehen in diskursiven Zusammenhän­gen betrachtet wird (empirische Hermeneutik). Deshalb schlägt Klein vor, „vorgängige Dis­kursstränge und Prätexte" (Klein 2007: 205) in die Untersuchung einzuschließen. Die Beachtung der konstitutiven Bedeutung von Prätexten und vorgängigen Diskurssträngen ist nicht nur für das Medienereignis oder den Text usw. selbst wichtig, sondern auch für die Reaktionen darauf.

Die Reaktionen der Rezipienten können nur in diskursivem Zusammenhang verstanden wer­den. Deshalb müssen die Texte, die im oberen Sinne relevant sind, konsequent in die Betrach­tungen einbezogen werden. Die Diskurslage muss also geklärt sein. Methodisch muss man sich auf diejenigen Diskursstränge fokussieren, die für den zu untersuchenden Text nachweislich beeinflussend sind, d. h. „für die Erwartungen an diesen und für die Reaktionen auf ihn be­stimmend war[en]." (Klein 2007: 205) Hierbei sind dann einzelne Prätexte herauszufiltern, die „eine unmittelbare intertextuelle Referenz, ein Verhältnis von Textbaustein und Gesamttext [...]" (Klein 2007: 206) aufweisen.

Eine methodische Herausforderung, die stets mit der Interpretation von Texten einhergeht, ist das „doppelte Verstehen" (Hermanns 2003: 149). Damit ist gemeint, dass das Interpretieren von Texten immer auch ein Interpretieren durch den Forscher bedeutet. Das Verstehen des Ver­stehens kann also nur über einen Umweg untersucht werden, weil der Forscher sowohl die dis­kursiven Zusammenhänge des Rezipienten als auch seine eigenen reflektieren muss, um das Verstehen des Verstehens erklären zu können. Dieses Verfahren bedeutet zwangsläufig Selekti­on und das Treffen von Vorannahmen seitens des Forschers. Jedoch sollte andererseits folgen­des im Sinn behalten werden: Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg, für keinen For- 6139 scher, denn sowohl Verstehen, als auch das Sprechen bzw. Schreiben über Verstehen und somit das Erklären des Verstehens setzt immer Interpretationsentscheidungen voraus, weil ein Text oder auch alles andere keine Bedeutung an sich hat. So gilt auch an dieser Stelle Hermanns Auf­ruf, mutig zu sein, Einzeldeutungen zu wagen und sich ein Stück weit aus dem Korsett der on­tologischen Wahrheitssuche zu lösen - eine Suche, die müßig ist und keinen Ausweg aus dem er­kenntnistheoretischen Dilemma findet.

Verstehen ist immer etwas Inneres und kann deshalb nie beobachtet werden. Demgemäß gibt es keine andere Möglichkeit, als den Weg der Interpretation zu gehen, denn wie sonst soll Ver­stehen überhaupt beschrieben werden können? Analysen und Beschreibungen von Interpretati­onen sind somit auch selbst Interpretation, genauer: Metainterpretationen oder Interpretationen zweiten Grades (weshalb auch Forscher niemals objektive Beobachter sein können). Deshalb ist empirische Hermeneutik auch immer praktische Hermeneutik, denn sie stützt sich stets auf ei­genes Sprachverstehen (Hermanns 2003:154-155). Hat diese Herausforderung ein methodisches anything goes zur Folge? Nein, das hat sie sicherlich nicht, jedoch erfordert sie im Hinblick auf den Wahrheitsbegriff ein Umdenken.

Wahrheit kann in einer linguistischen Hermeneutik nicht als eine absolute Wahrheit (die oh­nehin nur mit einem naiven Verständnis von Sprache angenommen werden kann) begriffen, sondern sollte vielmehr als „Plausibilität in Argumentationszusammenhängen" (Fraas/Pentzold 2008: 295) verstanden werden. Linguistisch auf der Ebene der parole zu arbei- ten bedeutet: Arbeit mit und an Texten. Konkreter heißt das, „mögliche Verständnisse eines Textes oder bestimmter Züge in einer Kommunikation aufzuzeigen und diese argumentativ zu plausibilisieren." (Biere 2007:14) Plausibilität ist intersubjektiv, was ein wissenschaftliches Gü­tekriterium darstellt und sie beruht auf Schlüssigkeit von Argumenten. Hierfür ist es unerläss­lich, die Arbeit des Forschers am Text, d. h. die diskursiven Zusammenhänge seines Verstehens, freizulegen und intersubjektiv nachvollziehbar zu machen.

Qualitätskriterien für Analysen des Verstehens können nicht Objektivität, Reliabilität und Validität in sozialwissenschaftlichen Sinne sein, denn sie können in einer linguistischen Herme­neutik als verstehende Wissenschaft nicht erreicht werden (Knapp 2008: 35); vielmehr könnten Plausibilität (Schlüssigkeit von Argumentationszusammenhängen), Explizitheit (Offenlegung der Arbeit am Text) und Reflexivität (Reflexion des doppelten Verstehens) sinnvolle Qualitäts­kriterien sein.

Warum die Polittalkshow Absolute Mehrheit?

Im nächsten Kapitel wird eine Beispielanalyse durchgeführt, die sich mit den Leserkommenta­ren und der Rezension in der Süddeutschen Online zur Polittalkshow Absolute Mehrheit - Mei­nung muss sich wieder lohnen beschäftigt. Hierfür sollen in den folgenden beiden Abschnitten zunächst einige methodische und das Korpus betreffende Aspekte besprochen und die Aus­wahl des Untersuchungs gegenstan des erklärt werden.

Die Polittalkshow Absolute Mehrheit wurde zum ersten und bisher einzigen Mal am 11.11.2012 auf ProSieben ausgestrahlt. Moderiert wird die Sendung von Stefan Raab, der selbst die Idee zu diesem Format hatte. Auf der Homepage[5] wird die Show als „erster Politik-Talk mit einem echten Ergebnis" beschrieben und dabei handelt es sich gleichzeitig auch um das Kon­zept der Show: „Fünf Gäste diskutieren über drei Themen und die Zuschauer entscheiden, wer die besten Argumente hat. Schafft es ein Talkgast, die absolute Mehrheit hinter sich zu ver­sammeln, gewinnt er 100.000 Euro!" Abstimmen konnten Fernsehzuschauer für 50 Cent pro Anruf oder SMS. Zu den Gästen zählten die vier Berufspolitiker Michael Fuchs (CDU, stellver­tretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion), Thomas Oppermann (SPD, Erster parlamenta­rischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion), Wolfgang Kubicki (FDP, Fraktionsvorsitzen­der Schleswig-Holstein), Jan van Aken (DIE LINKE, stellvertretender Parteivorsitzender) und Verena Delius (Unternehmerin aus Berlin, die die Rolle der Normalbürgerin hatte). Mit dem Format sollen junge Menschen und diejenigen für Politik begeistert werden, die sich kaum oder überhaupt nicht für politische Themen interessieren.

Der Ablauf der Polittalkshow kann folgendermaßen skizziert werden: Mit einem kurzen Ein­spieler wurde in die drei Diskussionsthemen Steuergerechtigkeit, Energiewende und Soziale Netzwerke eingeleitet und anschließend stellte Raab Fragen an die Gäste. Zwischendrin wurde neben einer Autoverlosung für die Zuschauer immer wieder von Peter Limbourg, stellvertre­tender Nachrichtenchef der ProSieben-Satl-MediaAG, anhand von Wahlbalken gezeigt, wer ak­tuell auf welchem Platz der Zuschauergunst liegt. Jede Runde wurde derjenige mit den wenigs­ten Stimmen aus der bewerteten Diskussion herausgewählt, durfte aber weiterhin unbewertet teilnehmen. Die Zuschauer haben sich mit 42,6% für Kubicki entschieden, van Aken belegte den zweiten Platz. Die Absolute Mehrheit hat Kubicki jedoch nicht erreicht, hierfür hätte er mindes­tens 50% der Stimmen benötigt.

Am darauffolgenden Tag erschienen in allen Online-Leitmedien Rezensionen zur Sendung, die auch im Vorfeld über das umstrittene Format berichtet hatten. Fast alle sprechen sich gegen die Show aus, vordergründig deshalb, weil die Umsetzung des Formats im Hinblick auf Poli­tikvermittlung und politische Kultur als unangemessen erachtet wird; die politische Diskussion über wichtige gesellschaftliche Themen werde auf das Niveau einer Gameshow herabgestuft.

Lediglich eine Rezension sticht wahrlich dadurch hervor, und das ist durchaus bemerkenswert, dass sie fast durchgehend positiv über die Show schreibt: diejenige der Süddeutschen Online. Um diese Rezension und ihre Leserkommentare soll es in der Beispielanalyse später gehen. Sie wurde deshalb ausgewählt, weil an ihr unter anderem aufgezeigt werden kann, wie sehr das Verstehen politischer Texte (hiermit sind auch Texte der Polittalkshow gemeint) von Hinter- 8139 grundannahmen und Relevanzsetzungen des Rezipienten abhängt. Während die Journalistin, die die Rezension verfasst hat, Raabs Sendung und Leistung lobt, weil sie der Ansicht ist, Poli­tik und Unterhaltung gehörten zusammen, sind die Rezipienten, die Kommentare verfasst ha­ben, (abgesehen von wenigen Ausnahmen) gegen eine solche Verknüpfung, wie sie in Raabs Sendung in der Weise zum ersten Mal im deutschen Fernsehen versucht worden ist.

Nun kann man sich fragen, warum eine solche Show wie die Absolute Mehrheit zum Untersu­chungsgegenstand einer linguistischen Arbeit wird, in der das Verstehen der Rezipienten ana­lysiert werden soll? Inwiefern handelt es sich sowohl bei der Show als auch der Rezension um politische Texte oder auch politische Sprache? Zunächst zur zweiten Frage: Ich möchte mich der Definition Burkhardts (1996) anschließen, der vorschlägt, politische Sprache als Oberbegriff zu verwenden, der alle Arten öffentlichen, institutionellen und privaten Spre­chens über politische Fragen, alle politiktypischen Textsorten sowie jede für das Sprechen über politische Zusammenhänge charakteristische Weise der Verwendung lexikalischer und stilisti­scher Sprachmittel umfassen soll (Burkhardt 1996: 79).

Hierbei ist vor allem der Aspekt wichtig, dass alle Arten des politischen Sprechens als gleich­wertig angesehen werden, d. h., dass die Rezension einer etablierten Online-Zeitung zu einem Polittalk im Fernsehen auf gleicher Ebene zu sehen ist wie die Leserkommentare der Normalbür­ger; das Verstehen beider ist in der Hinsicht gleichermaßen korrekt, als dass dieses in gleichwerti­gen, wenngleich unterschiedlichen, diskursiven Zusammenhängen zu begreifen ist. In dieser Arbeit wird die Meinung der „Bürger online" (Emmer/Vowe/Wolling 2011), die im Internet sowohl Rezipienten als auch Produzenten politischer Sprache sind, emstgenommen. Das bildet die Voraussetzung dafür, einen sinnvollen Fokus auf die Rezipientenseite legen zu können. Zu beachten sind dabei die komplexen Rollenverhältnisse aller in die Untersuchung einbezogenen Akteure: Sowohl die Kommentierenden als auch die Journalistin sind Rezipienten und Produ­zenten zugleich. Die Kommentierenden sind in diesem Falle sogar gewissermaßen doppelte Re­zipienten, weil vermutet werden kann, dass sie die Rezension gelesen und auch die Show ange­schaut haben. Ebenso sind Raab und die Talkgäste Produzenten, sie sind aber im Rahmen einer Talkshow auch gleichzeitig Rezipienten. An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass die Dicho­tomie zwischen Produzent und Rezipient nicht aufrechterhalten werden kann; aus analytischen Gründen muss jedoch diese Trennung vollzogen werden. Die beiden Akteurperspektiven kön­nen immer nur zueinander relational gedacht und aus der wechselseitigen Dynamik lediglich temporär herausgelöst werden.[6]

Was die Polittalkshow Absolute Mehrheit in diesem Zusammenhang anbelangt, und damit schließe ich die Beantwortung der ersten Frage ein, so ist diese unter anderem deshalb interes­sant für eine linguistische Untersuchung, weil sie erstens mit ihrem Format suggeriert, es gebe Möglichkeiten (Telefonabstimmung), seine Meinung als Bürger direkt und hörbar zu politischen Themen zu äußern, sie ermuntert sozusagen dazu, das eigene Verstehen sichtbar zu machen und mit anderem Verstehen abzugleichen (am Ende der Sendung gewinnt die Meinung oder genauer: 9139 das Verstehen der Mehrheit). Sie hat zweitens - und das ist hochgradig politisch - eine (Online- )Diskussion darüber ausgelöst, wie in unserer Gesellschaft über Politik gedacht und gesprochen werden soll. So werden also Politik und das Sprechen über Politik gewissermaßen in einem Me­tadiskurs verhandelt. Durch die Analyse von Leserkommentaren wird dabei auch die Rezipientenseite aufgenommen, das Denken, Verstehen und Sprechen der Rezipienten über Po­litik - auch das sind politische Meinungen, politische Meinungen von Normalbürgern, deren Stel­lenwert jedoch immer mehr an Bedeutung zu verlieren scheint, wohingegen die Meinungen so­genannter Experten durch und in Massenmedien immer wirkungsvoller durchgesetzt werden (Busse 1996: 350; vgl. zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit" Habermas 1962). Die Leser­kommentare werden als sprachliches und folglich soziales Handeln angesehen. Sie sind eine soziale Aktivität und konstituieren soziale Wirklichkeit, denn wird über Politik gesprochen, so werden gesellschaftlich relevante Themen verhandelt. Die Beschreibung des unterschiedlichen Verstehens beschreibt letztlich keine Textverständnisse, sondern soziale Wirklichkeiten.

[...]


[1] Zur besseren Lesbarkeit wird auf geschlechterdifferenzierende Schreibweise verzichtet. Es sind stets alle (sozialen) Geschlechter gemeint.

[2] Es sind die folgenden wenigen zu nennen, die sich allerdings vor allem mit dem Fernsehzuschauer beschäftigen: Diekmannshenke (2006), (2002a), (2002b); Holly/Püschel/Bergmann (2001). Diese Einseitigkeit in der Forschung zeigt sich auch in der bisher einzigen Auswahlbibliographie zur Sprache und Politik, die Diekmannshen­ke/Zorbach 2001 vorgelegt haben sowie darin, dass in den Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes aus dem Jahr 2011, die „aktuelle Ansätze und Entwicklungen der politolinguistischen Forschung" (Domke/Kilian 2011: 226) versammeln, kein einziger Beitrag zu finden ist, der sich mit der Rezipientenperspektive beschäftigt.

[3] Vielleicht könnte das eine politolinguistische Hermeneutik genannt werden. Eine so betriebene Linguistik untersucht sprachliche Zeichen in ihrem politischen Sprachgebrauch. Und da sprachliche Zeichen etwas sozial Gelerntes sind, ist „die Linguistik eine Kulturwissenschaft" (Hermanns 2003:126).

[4] Zu dem ewigen Thema „Verstehen vs. Erklären" (das immer auch mit der Betonung zweier unterschiedlicher Ver­ständnisse von Wissenschaft in den Geistes- und Naturwissenschaften einhergeht) siehe beispielhaft die Auseinan­dersetzung zwischen Jäger (1993), Bierwisch (1993) und Grewendorf (1993).

[5] Auf www.prosieben.de/tv/absolute-mehrheit/ finden sich neben allgemeinen Informationen auch frei zugängliche Videos der Polittalkshow sowie eine Presseschau, die eine Liste von Online-Rezensionen zur Show bietet.

[6] Um umständliche Formulierungen und Verwirrung zu vermeiden, sind im Folgenden, wenn nicht anders deutlich gemacht, mit Rezipienten die Kommentierenden der Rezension gemeint.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Das Verstehen verstehen. Linguistische Hermeneutik politischer Alltagskommunikation
Untertitel
Am Beispiel von Online-Leserkommentaren in der Süddeutschen Online zu Stefan Raabs Polittalkshow Absolute Mehrheit – Meinung muss sich wieder lohnen
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Germanistik I: Germanistische Sprachwissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
40
Katalognummer
V207902
ISBN (eBook)
9783656351627
ISBN (Buch)
9783656353195
Dateigröße
3092 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Diskurslinguistik, Politolinguistik, Hermeneutik, Linguistische Hermeneutik, Sprache und Politik, Sprache, Politik, Stefan Raab, Absolute Mehrheit, politolinguistisch, Politolinguistische Hermeneutik, Diskurs, Süddeutsche Zeitung, Verstehen, politische Alltagskommunikation, Online-Leserkommentare, Leserkommentare, Polittalkshow, Polittalk, Verstehen verstehen, Rezipient, Rezipienten, politische Sprache, Diskursstränge, Prätexte
Arbeit zitieren
Aljona Merk (Autor:in), 2012, Das Verstehen verstehen. Linguistische Hermeneutik politischer Alltagskommunikation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/207902

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