Magersucht (Anorexia nervosa) infolge von Vaterentbehrung


Mémoire de Maîtrise, 2008

62 Pages, Note: 1,8


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Phasen der Vaterforschung und die zunehmende Bedeutung des Vaters für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes
2.1 Vaterschaft und Vaterrolle im Wandel?
2.2 Phasen der Vaterforschung
2.3 Wandlungen im psychoanalytischen Verständnis der frühen Vater-Kind-Beziehung

3. Vaterabwesenheit – Väter rücken zunehmend ins Zentrum des Forschungsinteresses
3.1 Die Mannheimer Kohortenstudie
3.2 Vaterdeprivation und deren Folgen

4. Die Magersucht infolge von Vaterentbehrung
4.1 Geschichte der Magersucht
4.2 Ursachen und Erscheinungsformen
4.3 Präventionsmaßnahmen
4.4 Therapiemöglichkeiten

5. Fazit

6. Appendix A: Tabellen, Graphiken und Statistiken
Abb. 1: Lebensformen 2005
Abb. 2: Gerichtliche Ehelösungen
Abb. 3: Das Sample: Geschlecht und Geburtenjahrgang (n = 600)
Abb. 4: Auflistung der 4stelligen psychosomatischen ICD- Diagnosen nach Häufigkeit des Vorkommens (n = 163)
Abb. 5: Verteilung auslösender Konfliktsituationen auf die sechs häufigsten psychosomatischen Störungen
Abb. 6: Diagnosekriterien der Magersucht
Abb. 7: BMI-Perzentilkurve Jungen
Abb. 8: BMI-Perzentilkurve Mädchen
Abb. 9: Essstörungen – Epidemiologische Risiken
Abb. 10: Multifaktorielles Modell der Essstörung Anorexia nervosa
Abb. 11: Zeitlicher Ablauf der Präventionsveranstaltung „Essen“
Abb. 12: Rollenspiel „Wer hat Angst vor Chrissie?“

7. Appendix B: Literatur- und Quellenverzeichnis

1. Einleitung

Bedingt durch sich verändernde Lebens- und Arbeitswelten sowie der Pluralisierung der Lebensformen in unserer Gesellschaft geraten traditionelle Werte und Normen immer mehr in den Hintergrund. Partnerschaften bedingen nicht mehr zwangsläufig Eheschließungen und diese wiederum nicht immer Elternschaft. Vielmehr ist ein Trend dahingehend zu verzeichnen, dass immer mehr Beziehungen gelöst und Ehen geschieden werden bzw. eine Eheschließung gänzlich vermieden wird. Dennoch gehen aus den gescheiterten Beziehungen recht häufig Kinder hervor, die bedingt durch die Trennung ihrer Eltern von nun an bei einem einzigen Elternteil, vor allem bei den Müttern, aufwachsen (müssen).

Die gewandelten Vorstellungen von Familie allgemein sowie Mutter- und insbesondere Vaterschaft und die damit verbundenen hohen Scheidungs- und Trennungsraten haben eine steigende Anzahl meist vaterlos aufgewachsener Kindergenerationen mit sich gebracht. Diese Vaterlosigkeit wird von den Kindern, umso früher sie dieser ausgesetzt worden sind, nicht selten traumatisch erlebt und hat dementsprechend Konsequenzen. Die Folgen der Vaterentbehrung sind oftmals psychosomatischer Natur, so ist es nicht verwunderlich, wenn die Anzahl, der an Essstörungen erkrankten Kinder- und Jugendlicher zunimmt.

In dieser Arbeit soll der Zusammenhang zwischen der Vaterentbehrung und der Genese der Magersuchtserkrankung dargestellt werden. Allerdings muss ich an dieser Stelle auch erwähnen, dass diese spezifische Thematik bisher recht wenig erforscht und der Zusammenhang zwischen der Vaterlosigkeit eines Kindes in den frühen Entwicklungsjahren und der Ausprägung der Magersucht als Resultat dieses Verlustes empirisch kaum belegt ist.

Um sich diesem Thema anzunähern, beabsichtige ich zunächst den historischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozess des Vaterbildes aufzuzeigen sowie die Erkenntnisse im Laufe der Vaterforschung darzustellen und somit die Bedeutung des Vaters für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes herauszuarbeiten. Erst auf dieser Grundlage, ist es möglich, das Phänomen der Vaterabwesenheit - welches tatsächlich existiert - zu beschreiben und dessen Folgen zu charakterisieren.

Da auch die Magersucht (Anorexia nervosa) aus den traumatischen frühkindlichen Erlebnissen resultieren kann, soll diese und deren Historie, weitere Ursachen und Ausprägungen im weiteren Verlauf der Arbeit beschrieben werden. Abschließend werde ich insbesondere Heilungschancen dieser schwerwiegenden Erkrankung, die tödlich enden kann, sowie präventive Maßnahmen, um einer solchen Störung erst entgegenzuwirken, aufführen.

2. Phasen der Vaterforschung und die zunehmende Bedeutung des Vaters für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes

Was ist ein Vater? Welche Bedeutung hat er? Was macht einen Mann zu eben jenem? Diese und andere Fragen sind seit nun mehr als fünfzig Jahren ins Zentrum des Forschungsinteresses der unterschiedlichen Theorie- und Fachrichtungen gerückt und werden unter dem Begriff der Vater- oder auch Väterforschung analysiert. Als Vaterforschung wird der interdisziplinäre Forschungszweig beschrieben, welcher sich mit dem Thema Vater, seiner Rolle innerhalb unterschiedlicher Familienformen und dessen Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern auseinandersetzt (vgl. Matzner 1998, S. 17).

Eine Vielzahl an Studien und insbesondere die Medien haben den Vater und dessen Funktionen in den vergangenen Jahren zunehmend für sich (wieder-)entdeckt. Die Grundlage der meisten Arbeiten stellt dabei die Thematisierung des abwesenden, aber auch verstärkt die des präsenten bzw. anwesenden Vaters dar. Jede der Theorierichtungen, ganz gleich, ob es sich um Sozialwissenschaften, Psychologie oder Pädagogik handelt, betrachtet die Vaterrolle aus einer historischen Perspektive und zieht dadurch Rückschlüsse auf väterliche Funktionen und Pflichten. Die Analysen der Vaterforschung haben ergeben, dass davon ausgegangen werden muss, dass es ein beständiges Vaterbild nicht gibt, sondern vielmehr eine Vielfalt von Vaterbildern anzunehmen sei (vgl. Drinck 2005, S. 7f.), welche historisch betrachtet das Resultat eines Wandlungsprozesses ist.

2.1 Vaterschaft und Vaterrolle im Wandel?

Durch gesellschaftliche Umstrukturierungen fand eine Veränderung von einer patriarchalisch geprägten Vaterrolle hin zu einem modernen Vaterbild statt. Gegenwärtig ist in der Vaterforschung überwiegend von den so genannten „neuen“, „engagierten“ oder „präsenten Vätern“ die Rede und somit die Diskussion bezüglich der Aufgaben und Funktionen eines Vaters eröffnet.

Bis Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die Familie durch das Vatermodell des so genannten „strengen“ oder auch „traditionellen Vater“ (Le Camus 2006, S. 17) vertreten, welches auf dem altrömischen Recht des Pater familias basiert und dem Vater eine absolute Herrschaftsmacht über seine Familie und insbesondere seiner Kinder zusprach (vgl. Walter, W. 2002, S. 87). Althergebrachte Denkweisen und Erziehungspraktiken wurden über Generationen hinweg übermittelt, so dass der Vater als Repräsentant des Gesetzes fungierte und derjenige, „der für Trennung, Entzug, Verbot, Frustration zuständig“ (Le Camus 2006, S. 18) war. Außerdem besaß er als Oberhaupt der Familie und somit als Herr des „Ganzen Hauses“[1] uneingeschränkte Entscheidungs- und Handlungskompetenzen, aber auch Pflichten:

„Er repräsentierte das Haus nach außen und war verantwortlich für die Erziehung der Kinder. Er musste den Mitgliedern seiner häuslichen Gemeinschaft Schutz gewähren und für ausreichende Nahrung sorgen. Im Gegenzug dazu waren alle, auch die Kinder, verpflichtet, nach seinen Anweisungen ihre Arbeit zu verrichten.“ (Drinck 2005, S. 12)

Durch die fortschreitende Industrialisierung und den Prozess der Verstädterung im 18./19. Jahrhundert wandelte sich das Vaterbild erstmals. Es vollzog sich eine Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit, d.h. Familienhaushalt und Betrieb waren von nun an separate Bereiche. Somit wurde die Vaterrolle der traditionellen bürgerlichen Familie konzipiert, die sich als „zweigenerationelle Verwandtschaftsgruppe aus Vater, Mutter und Kind(ern) zum dominierenden Haushaltstypus“ (Walter, W. 2002, S. 89) etablierte.

Mit der Trennung von Berufs- und Lebenswelt veränderte sich nicht nur die Vorstellung von der Vaterrolle, auch die differente Charakterisierung der Geschlechter wurde deutlich hervorgehoben und die Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau festgelegt (vgl. Drinck 2005, S. 17). Der Vater wird zur zentralen Figur der traditionellen bürgerlichen Familie, er grenzt sie nach außen hin ab und ist durch die Zuschreibung einer „aktiven und rationalen ... Identität ... auf Autorität, Erwerbstätigkeit und Öffentlichkeit ... spezialisiert“ (Walter, W. 2002, S. 90).

Als Ergebnis der Verlagerung von Öffentlichkeit und Privatheit ist auch die Institutionalisierung der Kernfamilie zu erwähnen (vgl. Walter, W. 2002, S. 81). Der Vater war - bedingt durch seine Berufstätigkeit - gezwungen, einige seiner bisherigen Aufgaben sowohl an seine Frau als auch an öffentliche Bildungsinstitutionen zu übertragen, wodurch seine patriarchalische Position zwar etwas gemildert wurde, aber dennoch zu seiner Entlastung beitrug. Dadurch wurden der Ehefrau und Mutter der Weg zur Gleichstellung geebnet (vgl. Drinck 2005, S. 14), ihr kam eine „passive und emotionale Identität“ (Walter, W. 2002, S. 90) zu. Von nun an war sie für Haus und Kinder verantwortlich und somit auf „Emotionalität, Haus- und Familientätigkeit und Privatheit spezialisiert“ (Walter, W. 2002, S. 90).

In der Nachkriegszeit und insbesondere Mitte der 1960er Jahre begann, bedingt durch den massiven Anstieg vaterlos aufgewachsener Kinder und Familien als Ergebnis zweier Weltkriege, eine schrittweise Umstrukturierung der traditionellen bürgerlichen Familie. Gesellschaftlich bindende Traditionen wurden aufgegeben, so dass einige Vertreter der Vaterforschung ganz und gar von einer Auflösung der traditionellen bürgerlichen Familie sprechen, während andere diesen Prozess auf eine Pluralisierung der Familien- und Lebensformen rückführen (vgl. Walter, W. 2002, S. 96).[2]

Insbesondere die 1968er-Bewegung übte Kritik an der absoluten Herrschaft des Vaters und der festgeschriebenen Rollenverteilung innerhalb der Familie:

„Die alten patriarchalischen Verhältnisse, die zur Unterdrückung von Frauen und Kindern führen, dürfen nicht beibehalten werden. Auch die Traditionsgebundenheit und die Werte, die Normen und die Moralvorstellungen, die sich aus ihr ableiten, seien auf die Erhaltung der 'etablierten' Gesellschaft angelegt und ließen keine Entwicklung – weder des Einzelnen noch der gesellschaftlichen Zustände – zu“ (Drinck 2005, S. 121).

Dies führte dazu, dass nun auch auf juristischer Ebene das bisherige Vaterbild infrage gestellt und weitestgehend Reformen und Gesetze verabschiedet wurden. In den 1970er Jahren begann dies mit einer Reformierung des Ehe- und Familienrechts, wodurch allmählich die Vorstellungen von der traditionellen Allmacht der Vaterrolle und somit auch die Ideale, die mit seiner Rolle in Verbindung gebracht worden sind, schwanden. Am 1.1.1980 wurde die elterliche Sorge rechtlich neu geregelt und dadurch die Gleichstellung der Eheleute bezüglich ihrer Rolle als Eltern gewährleistet. Die wahrscheinlich bedeutsamste Veränderung für die Vaterrolle brachte das Kindschaftsreformgesetz, welches am 1.7.1998 in Kraft trat, mit sich und hat die traditionelle bürgerliche Vaterrolle zunehmend in den Hintergrund gedrängt:

„Elterliche Sorge für Kinder, deren Eltern nicht verheiratet sind, ist nun durch eine 'gemeinsame Erklärung' (Walter, W. 2002, S. 104, zit. nach § 1626a I Nr. 1 BGB) möglich, während die gemeinsame elterliche Sorge ehelicher Kinder weiterhin 'kraft Gesetz' besteht (Walter, W. 2002, S. 104, zit. nach Schwab 1999 RN 527ff.; Lipp 1998). 'Das gemeinsame Sorgerecht besteht auch nach einer Scheidung weiter, wenn nicht durch Antrag und Gerichtsbeschluß [!] etwas anderes bestimmt wird' (Walter, W. 2002, S. 104, zit. nach Schwab 1999 RN 661ff.; 1998). 'Das Umgangsrecht sowohl der Eltern als auch Kinder ist neu geregelt worden und umfaßt [!] nun auch die Eltern nichtehelicher Kinder' (Walter, W. 2002, S. 104, zit. nach Schwab 1999 RN 686ff, 1998)“ (Walter, W. 2002, S. 104).

Das Bild des Vaters als Leitfigur der traditionellen bürgerlichen Familie schwindet, nicht aber der reale Vater. Vielmehr findet eine Anpassung der Vaterrolle an die feminin geprägte Elternrolle statt, d.h. die der Mutter, und das Kind stellen die zentrale Figur bzw. den Legitimationsgrund der modernen Familie dar. Die strikte Rollenverteilung von Mutter und Vater bzw. Mann und Frau wurde zugunsten einer Gleichberechtigung beider aufgegeben und die patriarchalisch geprägte Vaterrolle an den Rand gedrängt.

Durch diesen historischen Überblick wird deutlich, dass sich das Bild des Vaters bzw. das Verständnis von Vaterschaft im Laufe der Jahrhunderte verändert hat und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen wie der Industrialisierung sowie Umbrüchen innerhalb der Familienstruktur bzw. dem Aufkommen vielfältiger Lebens- und Familienformen nebeneinander unterlegen ist. Es hat ein Definitionswandel stattgefunden, der sich in der Diskussion um die Neubestimmung der Vaterrolle widerspiegelt. Einige Autoren führen dies so weit, dass sie eine Typisierung des Vaters vornehmen bzw. diesen in verschiedenen Modellen kategorisieren (vgl. Le Camus 2006, S. 14f.; vgl. Bambey/Gumbinger 2006, S. 219ff.).[3]

Mittlerweile sind sich die Fachleute - ganz unabhängig von der Theorie- und Forschungstradition - darüber einig, dass ein Vater ganz allgemein den männlichen Elternteil darstellt, welchem drei Bedeutungen zukommen: biologischer, juristischer sowie erziehender oder auch sozialer Vater. Der französische Psychologe Jean Le Camus beschreibt diese drei Zuschreibungen aus bindungstheoretischer, entwicklungspsychologischer sowie psychoanalytischer Perspektive folgendermaßen:

„Der biologische Vater (oft Erzeuger genannt) ist der, der seine Keimzellen (sein Sperma) und damit seine Chromosomen weitergibt, und die Mutter befruchtet. Der gesetzliche Vater ist der, der das Kind gesetzlich als das seine anerkennt. Der soziale Vater erzieht das Kind in seinem Haus und ist daher unmittelbar gegenwärtig und identifizierbar.“ (Le Camus 2003, S. 130)

In der traditionellen Familie werden diese drei Aufgaben durch den Lebenspartner der Mutter wahrgenommen (vgl. o.V. 2008c).

Der Vater bleibt demzufolge nach wie vor ein wesentlicher Faktor für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und die Forderungen nach partnerschaftlicher Beteiligung an Erziehung und Betreuung der Kinder von beiden Seiten nimmt zu (vgl. Walter, W. 2002, S. 109). In der Fachliteratur wird nun auch vermehrt seine Bedeutung, welche er bereits vor der Geburt bzw. in den ersten Lebensmonaten auf die Entwicklung des Kindes hat, hervorgehoben, was jahrelang eher vernachlässigt worden ist. Auch die Bedeutung des Vaters für die individuelle Entwicklung seiner Kinder ist historisch gewachsen und ich möchte diesen Wandlungsprozess im Folgenden darstellen.

2.2 Phasen der Vaterforschung

Obschon die patriarchalisch geprägte Vaterrolle an den Rand gedrängt wurde sowie Haushalt und Erziehung der Kinder zu den Wirkungsbereichen der Frau und Mutter deklariert worden sind, ist ein Zuwachs hinsichtlich der Beteiligung der Väter an Betreuung und Erziehung ihrer Kinder zu verzeichnen. Der so genannte „partnerschaftliche Vater“ (Bambey/Gumbinger 2006, S. 219) gewinnt, nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch in der Vaterforschung, zunehmend an Bedeutung.

Dies war jedoch nicht immer so; bis in die 1970er Jahre konzentrierte sich das wissenschaftliche Interesse vornehmlich auf die Mutter-Kind-Beziehung und die daraus resultierende Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, da die Mutter oder eine andere weibliche Bezugsperson primär für das Kind zuständig bzw. nur sie allein zur Versorgung und Pflege imstande war. Der Einfluss des Vaters auf die kindliche Entwicklung wurde bis dahin außer Acht gelassen bzw. gänzlich ignoriert.

Die Entwicklungspsychologin Inge Seiffge-Krenke kategorisiert den Fortschritt der Vaterforschung in drei Phasen: „1) der periphere Status von Vätern; 2) der Vergleich mit der Mutter sowie 3) distinktive Charakteristiken des Vaters“ (Seiffge-Krenke 2001b, S. 391f.).

In der ersten Phase wurde der Vater als distant und peripher für die Kindererziehung sowie familiale Belange dargestellt. Studien zeigten, wie minimal seine Partizipation diesbezüglich ausfiel. Grundlage dieser Phase war das Modell der traditionellen Rollenaufteilung: der Vater war über die Ernährerfunktion in die Familienstruktur eingebunden und sicherte somit die Familie finanziell ab und trug Sorge für deren Sicherheit. Durch seine außerhäusige Berufstätigkeit war er für die Familie demnach nicht oder nur in geringem Maße verfügbar.

Durch gesellschaftliche Umbrüche und Wandlungen innerhalb der Familienstrukturen, wie beispielsweise die vermehrte Frauenerwerbstätigkeit, veränderten sich die Vorstellungen von der Vater- und Mutterfigur[4] und die Vaterforschung ging in die zweite Phase über, die sich mit der vermeintlichen Ähnlichkeit beider Elternteilen bezüglich ihrer Bedeutung für die kindliche Entwicklung befasste. Die Väter wurden dahingehend mit den Müttern verglichen, inwiefern sich ihr Verhalten hinsichtlich Pflege und emotionalem Umgang mit dem Kind ähnelt bzw. inwiefern sie ähnlich „funktionierten“.

Als Grundlage für diese Phase der Vaterforschung dienten im Wesentlichen die Analysen und Ergebnisse der Bindungstheorie. Diese mütterlich orientierte Theorie des britischen Psychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby, die auf ethnologischen, entwicklungspsychologischen und evolutionstheoretischen Erkenntnissen basiert, hebt die reale Beziehung zwischen Mutter und Kind hervor (vgl. Kindler et al. 2002, S. 687).

Zunächst wendet sich das Kind in einem ersten Schritt - der Bindungsphase - nur der Mutter zu, um bei ihr Schutz und Geborgenheit zu finden und in einem zweiten Schritt - der Erkundungsphase - macht sich das Kind mit seiner Umwelt vertraut. Der Vater als Bindungsperson spielt dabei eine nachgeordnete Rolle bzw. wird zur zweitwichtigsten Bindungsperson deklariert (vgl. Le Camus 2006, S. 48f.; vgl. Seiffge-Krenke 2001a, S. 55).

Die Studien zum Bindungsverhalten konnten ebenfalls diese wahrgenommenen Ähnlichkeiten belegen; die Väter schnitten jedoch meist schlechter ab als die Mütter, da ihnen „die biologischen Voraussetzungen fehlten“ (Matzner 1998, S. 18).

Die Väter werden in den ersten beiden Phasen demnach als defizitär betrachtet, da sie weder quantitativ noch qualitativ denselben Beitrag leisten (können) wie die Mütter. In den Untersuchungen wurde das Verhalten der Väter in Bezug auf Grundversorgung und Pflege ihrer Kinder gewissermaßen nicht nur als mangelhaft beschrieben, sondern zudem die Beobachtung gemacht, dass Väter im Umgang mit ihren Kindern anders (re-)agieren. Daher stehen in der dritten und gegenwärtigen Phase der Vaterforschung die distinktiven Merkmale des Vaters im Vordergrund. Die Kinder machen demzufolge im Vergleich ihrer Mütter und Väter von Anfang an unterschiedliche Beziehungserfahrungen (vgl. Steinhardt et al. 2006, S. 8). Glücklicherweise wurde sich weitestgehend vom Standpunkt des defizitären bzw. nicht wie die Mutter funktionierenden Vaters distanziert und dessen Fähigkeiten, ebenfalls pflegerische, betreuende und erzieherische Aufgaben zu übernehmen, mit Ausnahmen wie z.B. dem Stillen, hervorgehoben (vgl. Matzner 1998, S. 23). Väter leisten somit einen quantitativ als auch qualitativ anderen Beitrag zur Entwicklung ihrer Kinder, auf den ich im Folgenden eingehen werde.

2.3 Wandlungen im psychoanalytischen Verständnis der frühen Vater-Kind-Beziehung

Die Medizinerin und Psychoanalytikerin Britta Heberle hat in ihrem zusammenfassenden Beitrag zum Stand der Vaterforschung gezeigt, dass sich nicht nur das Vaterbild im Laufe der Zeit verändert hat, sondern auch dass das psychoanalytische Verständnis der Vater-Kind-Beziehung nun ein anderes ist und der frühe bzw. präödipale Vater die Fachliteratur erobert hat. Während der ödipale Vater, welcher sinngemäß erst ab der ödipalen Entwicklung des Kindes eine Rolle zu spielen schien, bisher in den meisten Theorien der Vaterforschung analysiert wurde, rückt nun auch zunehmend der präödipale Vater ins Zentrum des psychoanalytischen Forschungsinteresses.

Nach Heberle existieren vier Modelle des präödipalen Vaters, welche dieser nach Möglichkeit alle in sich vereinen sollte. Es kommen ihm damit Funktionen zu, die für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes von enormer Bedeutung sind: „1) der Vater als Befreier und Förderer der Individuation; 2) der 'Vater in der Mutter', d.h. der symbolische, in der Mutter repräsentierte Vater; 3) der dyadische Vater [und, A.R.] 4) der triadische Vater oder der Vater der Mentalisierung“ (Heberle 2006, S. 22).

Der Vater der Progression, also der als Befreier und Förderer der Individuation des Kindes verstandene Vater, ist psychoanalytisch konzeptualisiert. Er hilft dem Kind, sich aus der bestehenden Dyade mit der Mutter zu lösen, ebnet dadurch den Weg zur Triade - der Dreierbeziehung Mutter-Vater-Kind - und fördert die individuelle Entwicklung des Kindes.

Für Freud schien der präödipale Vater unbedeutend, da sich ihm zufolge Dreierbeziehungen erst ab der ödipalen Phase entwickeln können, d.h. etwa ab dem vierten Lebensjahr und mit der Überwindung des Ödipuskomplexes[5]. In der ödipalen Triade wird der Vater wichtiger Repräsentant der Realität, dem die Aufgabe zukommt, die enge Symbiose zwischen Mutter und Kind aufzubrechen.

Die Psychoanalytiker Hans Loewald, Margrit Mahler und Bertram Gosliner haben bereits 1955 eine förderliche Vater-Funktion für die Entwicklung des Kindes betont. Loewald postuliert eine frühe, präödipale positive Beziehung zwischen Vater und Sohn, welche zur Ich-Entwicklung beiträgt, um den späteren Ödipuskomplex zu überwinden. Eine Identifikation der Tochter mit dem Vater wird nicht erwähnt. Mahler und Gosliner weiten diesen Standpunkt für beide Geschlechter aus. Der Vater wird ab dem zweiten Lebensjahr, ab der Übungs-Subphase, für den Ablösungs- und Individuationsprozess für das Kind als wichtig erachtet. Die väterliche Beziehung zum Kind ist weniger stark verflochten wie die Mutter-Kind-Symbiose, so dass der Vater bei der Separation von der Mutter behilflich sein kann (vgl. Heberle 2006, S. 22ff.).

Ernst Abelin, ein Schüler Mahlers, führt diese Beobachtungen weiter und verfasste 1971 sein Konzept zur frühen Triangulierung, welches von unermesslicher Bedeutung für die Vaterforschung ist. Die Beobachtungen der Arbeitsgruppe um Margrit Mahler machen deutlich, dass Kinder bereits in den ersten Lebensmonaten Vater und Mutter unterschiedlich erleben. Der Übergang von der präverbalen zur verbalen Verständigung wird dabei als krisenhaft bezeichnet, da das Kind in einen Konflikt zwischen dem Wunsch nach Autonomie und einem Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit - die es bei der Mutter findet - gerät. Einerseits strebt es nach Selbstständigkeit und will sich aus der engen Beziehung zur Mutter lösen, doch andererseits kann es sich nur schwer vom sicheren „Heimathafen“ (Metzger 2006, S. 316), den die Mutter darstellt, loseisen. Hier kommt nun der Vater ins Spiel; es ist seine Aufgabe das Kind aus diesem Konflikt herauszuführen und ihm die Welt jenseits des „mütterlichen Universums“ (Metzger 2006, S. 316) schmackhaft zu machen und das Kind aus der Mutter-Kind-Dyade in die Mutter-Vater-Kind-Triade zu überführen. Der Vater ist demnach von zentraler Bedeutung für die Ambivalenz während der Wiederannäherungsphase mit der Mutter und

„dieses existentielle Dilemma am Beginn der individuellen Menschwerdung kann die Mutter allein kaum jemals befriedigend lösen, so weit ihre Fähigkeit zur Einfühlung und guten Bemutterung auch ausgebildet sein mag“ (Petri 2006, S. 31).

Dem Kind eröffnen sich mit der Triade neue Perspektiven. Es kann bereits sehr früh die Paarbeziehung der Eltern wahrnehmen, sich jeweils mit den Wünschen eines Elternteils identifizieren und damit ein Bündnis gegenüber dem anderen Elternteil eingehen und es nimmt vor allem sich - ausgeschlossen von der Elternbeziehung - wahr. Durch diese Selbstbezogenheit lernt sich das Kind gewissermaßen selbst zu erkennen und realisiert, dass ihm nun zwei Individuen zur Verfügung stehen, ein männlicher sowie ein weiblicher Elternteil. Das Kind kann somit zwei dyadische, voneinander unabhängige Beziehungen zu den jeweiligen Elternteilen aufbauen und eine triadische mit den Eltern zusammen gestalten (vgl. Matzner 1998, S. 35). Dadurch wird die Entwicklung der Selbstrepräsentanz entscheidend geprägt und das Kind kann ein männlich-weibliches Selbst konstruieren (vgl. Petri 2006, S. 32; vgl. Heberle 2006, S. 24).

[...]


[1] Das „Ganze Haus“ stellt eine Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft dar, in welcher der Begriff der Familie nicht nur die Eltern und Kinder umfasst, sondern auch sämtliches Personal (vgl. Walter, W. 2002, S. 82).

[2] Der letztgenannte Standpunkt ist m.E. vertretbar, allerdings werde ich nicht näher darauf eingehen.

[3] Derartige Kategorisierungen sind für den weiteren Verlauf dieser Arbeit jedoch nicht weiter von Belang.

[4] Die gesellschaftlichen Umbrüche und Wandlungsprozesse habe ich bereits in Kapitel 2.1 in dieser Arbeit geschildert.

[5] Der Freud’sche Ödipuskomplex, welcher in groben Zügen die Begehrung des gegengeschlechtlichen Elternteils durch das Kind sowie die Betrachtung des gleichgeschlechtlichen Elternteils als Rivalen darstellt, soll hier jedoch nicht weiter von Interesse sein, da der Schwerpunkt der Vaterforschung sowie dieser Arbeit auf dem präödipalen Vater liegt.

Fin de l'extrait de 62 pages

Résumé des informations

Titre
Magersucht (Anorexia nervosa) infolge von Vaterentbehrung
Université
University of Hannover  (Institut für Soziologie und Sozialpsychologie)
Note
1,8
Auteur
Année
2008
Pages
62
N° de catalogue
V208716
ISBN (ebook)
9783656376613
ISBN (Livre)
9783656377092
Taille d'un fichier
648 KB
Langue
allemand
Mots clés
Magersucht, Vater, Deprivation, Vaterrolle, Essstörungen
Citation du texte
Antje Heubel (Auteur), 2008, Magersucht (Anorexia nervosa) infolge von Vaterentbehrung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/208716

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