Eins teilt sich in zwei - Zur Dialektik in Lenins Oktoberrevolution


Essay, 2013

45 Pages


Excerpt


Heinz Ahlreip

EINS TEILT SICH IN ZWEI
ZUR DIALEKTIK IN LENINS OKTOBERREVOLUTION

Die Oktoberrevolution war die Vollendung des Lebenswerks Lenins. Ein Komplex von öconomischen und militärischen, von politischen und historischen, von nationalen und internationalen Umständen, worunter wieder die öconomischen die entscheidenden waren, dann auch die durch den ersten Weltkrieg 1. aufgerüttelten Volksmassen, gaben ihm die Gelegenheit, die vorwiegend von ihm ausgearbeitete Theorie des Bolschewismus in die gesellschaftliche Praxis seines Geburtslandes umzusetzen. Russland brach im Krieg als erste Nation zusammen, erwies sich nach einem geflügeltem Wort Lenins als "schwächstes Glied in der Kette" des Imperialismus. Man kann daher getrost von einer "Leninschen Oktoberrevolution" sprechen und schreiben. Der Anspruch dieser Revolution war in der Bahn der marxistischen Theorie kein geringer, sie, laut Lenin die tiefste der Weltgeschichte, sollte die "Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft" beenden, wie Karl Marx es im Vorwort zur "Kritik der politischen Ökonomie" aus dem Jahre 1859 formuliert hatte. 2. Hundert Jahre, nachdem David Ricardo sein Werk "On the Principles of Political Economy" veröffentlicht hatte, in dem er widerlegte, dass der Arbeitslohn den Warenpreis bestimme, schickten sich Lenin und seine Bolschewiki an, das Lohnsystem und den Charakter des Arbeitsproduktes als Ware überhaupt aufzuheben. Eine neue Arbeit hat die Menschheit mit der Oktoberrevolution nicht begonnen, ihre bisherige alte Arbeit sollte nur mit Bewußtsein ausgeführt werden. 3. "Die Natur hat Millionen Jahre gebraucht, um bewußte Lebewesen hervorzubringen, und nun brauchen diese bewußten Lebewesen Tausende von Jahren, um bewußt zusammen zu handeln; bewußt nicht nur ihrer Handlungen als Individuen, sondern auch ihrer Handlungen als Masse; zusammen handeln und gemeinsam ein im voraus gewolltes gemeinsames Ziel verfolgend. Jetzt haben wir das beinahe erreicht. Und diesen Prozess zu beobachten, diese sich nähernde Herausbildung von etwas in der Geschichte unserer Erde noch nie Dagewesenem, scheint mir ein Schauspiel, das des Betrachtens wert ist, und während meines ganzen vergangenen Lebens konnte ich die Augen nicht davon wenden". 4.

Das Jahr 1917 der russischen Geschichte ist charakterisiert durch etwas ausgesprochen Zwitterhaftes. Aus der russischen Tradition kennen wir das Bild der doppelten Zaren, zum Beispiel wurden 1773 bis 1775 Bauernmassen im Pugatschow Aufstand durch das Gerücht mobilisiert, dass sie durch ihn den aus Sankt Petersburg vertriebenen echten Zaren wieder zu inthronisieren hätten. Und eine Duplizität scheint, betrachtet man erlaubterweise die russische Geschichte flüchtig assoziativ, weiterzuwirken. Aus der Februarrevolution, die dank der revolutionären Energie der Volksmassen das Ende des über 300jährigen Romanowzarismus (gegründet 1613) binnen einer Woche bedeutete, sie fiel fast "wie ein abgestorbenes Organ, das nur berührt zu werden brauchte" 5., ergab sich ein eigentümlicher Schwebezustand für Millionen Menschen über Monate, in denen zwei sich beide als demokratisch ausgebende Herrschaftsformen auf einen Entscheidungskampf zutrieben. Die Dialektik von Herr und Knecht hatte sich, lax formuliert, in zwei auch von Lenin nicht vorhergesehene und in Erwägung gezogene rivalisierende Herren gespalten, in zwei Herren ante portas, ein provisorisches und kommissarisches Komitee der Duma (die aus einem Vierklassenwahlrecht zustande gekommen war), das die Einberufung einer Konstituante plante (Termine aber immer wieder verschleppte, so dass sie erst im Januar 1918 zusammentrat) und die aus Kompanien und Fabriken gewählten Räte 6., weil die russische Bourgeoisie schon nicht mehr die alleinige Macht halten konnte, das Proletariat seinen Antipoden in einem zutiefst kleinbürgerlichen Land aber noch nicht souverän überragte. Das bonapartistische Kerenskiregime gehörte zu den Ausnahmeperioden in der Geschichte, in denen die kämpfenden Klassen fast gleichgewichtig sind und "die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält". 7. Schon die russische Februarrevolution war bereits insofern eine Ausnahmerevolution, weil ihr das zwingende Gesetz einer Umwälzung, zu einer energischen Diktatur zu führen, eine Erkenntnis, die Karl Marx aus der Analyse der 48er Revolution zog, versagt blieb. Keineswegs war der Sieg der proletarischen Revolution in dieser Schwebe gewiß, es zeigte sich vielmehr in dieser ungefähr die Dauer einer menschlichen Schwangerschaft einnehmenden Zeit, dass Revolutionen durch unvorhersehbare, oft durch das Kleinbürgertum verursachte Schwankungen, wie in der Aprilkrise 8., raschlebige Improvisationen, rasch wechselnde Lagen, von Orientierungskrisen begleitet, und Paktierereien charakterisiert sind, die mit der Schulweisheit auch "marxistischer" Schablonen nicht zu erfassen sind. Unberechenbar sind für alle Parteien und politische Gruppen die direkte Einmischungen der Volksmassen in die politischen Haupt- und Staatsaktionen. Die Parole "Alle Macht den Räten" kam dem Fieberpuls der Revolution natürlich näher als die Absicht, die revolutionäre Wut parlamentarisch zu kanalisieren und kaltlaufen zu lassen. Nur Großmeister der Revolution können im Ozean der Volksmassen die Dialektik von Revolution und Konterrevolution auf die gesellschaftliche Wirklichkeit anwenden. Auch Anhänger Lenins schwankten im Ozean der Revolution, paktierten mit dem Klassenfeind, indem sie die "Provisorische Regierung" bedingt unterstützten. Sie hatten nicht den roten Faden aus dem Urtext der kommunistischen Bewegung an der Hand: "Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt" 9. Eine Politik kleinbürgerlicher Verständigung mit der kapitalistischen Regierung hätte die Revolution um den Verstand gebracht. Ebenso revolutionäre Hast. "Linke" Kommunisten um Bagdadjew ließen sich von der Note des Außenministers und Geschichtsprofessors Miljukow vom 18. April provozieren und riefen am 21. April verfrüht zum proletarischen Aufstand auf, da die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre sich noch nicht als Anhänger des Krieges und des Imperialismus, als wirklich gegenrevolutionär entlarvt hatten; andere Genossen wollten den weltrevolutionären Aufstand im September 1917 mit der Verhaftung der "Demokratischen Beratung" beginnen. 10. Rußland schlief nicht mehr, es war in Bewegung geraten, zwischen den Revolutionen des Sturmjahres 1917 wechselten die bürgerlichen Ministerkabinette sechsmal. Die Auflösung der Konstituante im Januar 1918 beendete die Möglichkeit eines bürgerlichen Ministerkarussells. Sie rief zwar die Waffe der Kritik auf den Plan, nicht aber die Kritik der Waffen. Sie löste kaum militante Gegenschläge aus und gab der marxistischen Parlamentarismuskritik insofern Recht. "Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter...". Nach dem Untergang des Parlaments am 6. Januar 1918 atmete Russland förmlich auf, das Bürgertum konnte das Proletariat nun nicht mehr alle vier Jahre parlamentarisch ver- und zertreten. Die Volksmassen folgten der Auffassung der Bolschewiki, dass die Oktoberrevolution die erste Mehrheitsrevolution in der Geschichte war. Und diese Auffassung wurde untermauert durch das Recht, die Gewählten wieder abzuwählen, sie dem Volk unterzuordnen. Dem Parlament wurde ein Volkscharakter abgesprochen. Jetzt konnten die Bürgerlichen und ihre Politiker der revolutionären Flut nicht mehr gegensteuern und Lenins kleine Truppen schwommen wie Fische im Wasser - endlich mit der Strömung. Sie sanktionierten per Dekret bereits vollzogene Enteignungen. Es kam die dyonisische, die trunkene Periode eines basisanarchischspontanen Laissez-faire, ein Wetterleuchten am Horizont des Kommunismus, die Bauern auf dem Lande, die Arbeiter in den Industriestädten und die Soldaten in den Kasernen konnten mit ihren "Bourgeois" abrechnen, ohne dass noch irgendein Bürokrat etwas registrierte, ohne Eintrag in ein polizeiliches Führungszeugnis. Lohnarbeit war auf dem Land verboten und wer in der Stadt von Lohnarbeitern lebte, war von Wahlen ausgeschlossen. Die Volksmassen machten selbst Politik, unterdessen wurde der Direktor der Staatsbank verhaftet. Bisherige Lohnsklaven und Lohnsklavinnen aus den grauen Mietskasernen zogen in ehemalige Adelspaläste und begannen, da endlich Platz war, mit der Gründung von Wohnkommunen. Besonders in der Armee war die Anarchie fruchtbar, um den deutschen Imperialismus weiter zu bekriegen, mussten die bürgerlichen Großmachtchauvinisten das Ancien Regime in der Armee aufrechterhalten, das die Bauernsoldaten jahrhunderlang auf zaristische Manier schikaniert hatte, eine Tradition, die Trotzki fortzusetzen suchte. 11. Die große Masse der Bauernsoldaten hatte selbstverständlich "die Schnauze voll" von dieser Manier, ihr Zarhörigkeit war verschwunden mit dem Zaren selbst und tendierte in eine diametral entgegengesetzte Richtung: heim in die Dörfer, wo es jetzt Land zu holen gab. Diese Massenfluchten entzogen der Provisorischen Regierung die nötige Breitensubstanz zum politischen Überleben. Auch die Nationen befreiten sich, im September fand ein großer Kongress der Nationen in Kiew statt. Bucharin schrieb, die Bourgeoisie wurde endgültig erdrosselt und er meinte die Periode vom Oktober 1917 bis zum Februar 1918. Ende November 1917 wurde die reaktionärste Partei der Großbürger, die Kadetten verboten. Sie galten fernerhin als Volksfeinde. Und im März 1918 fand die Umbenennung der Partei Lenins in Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki) statt. Hundert Blumen blühten auf, gestreichelt vom ersten, zarten Windhauch eines vorgefühlten Kommunismus. Ende Januar 1918 wurde Religion als Schulfach abgeschafft, Hausaufgaben entfielen ganz und die Kirchen durften keine Mitgliedsbeiträge mehr erheben. Tichon, der Patriarch von Moskau und ganz Russland, anathematisierte die Bolschewiki in seinem Hirtenbrief vom 19. Januar 1918, in dem er sie als „Auswurf der Menschheit“ denunzierte. Auch Lenin verwendete diese Denunziation, allerdings gegen die Reichen, die er zusammen mit den Gaunern als „zwei Seiten ein und derselben Medaille“, als „zwei Hauptarten von Parasiten“ 12. bezeichnete. Alexandra Kollontai, die die privat-häusliche Kinderbetreuung abschaffen wollte, träumte vom Ende der bürgerlichen Familie durch Makrokommuneküchen und Arbeitskollektive, Abtreibungen waren zugelassen, Ehescheidungen per Postkarte möglich. Und Kollontais politische Gruppe "Arbeiteropposition", der Schljapnikow, in Lenins erstem Rat der Volkskommissare zuständig für das Ressort Arbeit, führend angehörte, forderte syndikalistisch-anarchistisch die Übergabe der Leitung der Volkswirtschaft an die Gewerkschaften, die nicht Sache der Partei sei. Die Strafmündigkeit für Kinder- und Jugendliche wurde auf 17 Jahre heraufgesetzt. (Unter dem Zaren galt diese Mündigkeit ab 10, unter Stalin dann wieder ab 12. Ein wahres Armutszeugnis, völlig unvereinbar mit dem wissenschaftlichen Sozialismus). Lenin forderte die tägliche Versorgung jedes Kindes armer Familien mit einer Flasche Milch. Und ab dem 1. April 1918 galt ein Kalender aus dem Westen, der Gregorianische. Und in demokratischer Hinsicht war man weiter als im Westen, die Wahl der Offiziere und der Richter spricht für sich. Alle spätere Verdammung einer thermidorianischen Entartung der Revolution 13. rekuriert auf diese kurze Geburtsstunde der Anarchie (in der es keine "offizielle Politik" gab) und die es geben musste, weil sonst das Wort "Revolution" nicht zutreffend wäre. Genuin ist die Revolution als jungfräuliche. In der Deflorationsphase der Revolution änderten sich die Beziehungen unter den Menschen, und nicht nur unter den Menschen. Auch der Eigentumsbegriff hatte sich gewandelt: der Privateigentümer konnte sich auch destruktiv zu seinem Eigentum verhalten, Wertminderung an Volkseigentum galt als schweres Verbrechen und wurde zum Fall vor dem Revolutionsgericht. Hegel hatte das Kapitel in der „Phänomenologie des Geistes“, das die französische Revolution als welthistorische zum Gegenstand hat, überschrieben mit: „Die absolute Freiheit und der Schrecken“. Auch in der russischen Revolution waren es innen- und außenpolitische Sachzwänge (Erhebung konterrevolutionärer Truppen, öconomischer Aufbau des Sozialismus und massive Bedrohung durch das deutsche Heer), die nicht nur die Massen wieder einer rigorosen Disziplinierung unterwarfen, sondern auch die das Machtmonopol besitzende Leninsche Kaderpartei, der auf dem X. Parteitag Fraktionsbildung untersagt werden mußte und auf dem zugleich die NEP verkündet wurde. Nicht der sowjetische Demokratismus setzte sich durch, sondern der demokratische Zentralismus der Monopolpartei. Die Oktoberrevolution bildete ihre energische Diktatur heraus. Der Kriegskommunismus klopfte an die Pforte und sollte das Land bald in eine Kaserne verwandeln. Eine Revolution ist die autoritärste Sache der Welt, hatte Engels einmal geäußert, und die Stunde der Autorität schlug, verlangte Realpolitik - die linken Kommunisten blieben noch lange an jener traumhaften bolschewistischen Urgesellschaft hängen. Sie wurden so die Romantiker der Revolution. Ihre Pragmatiker wurden Großkaufleute. "Der proletarische Staat muß ein vorsichtiger, sorgsamer, verständiger "Wirt", ein richtiger GROßKAUFMANN (kursiv von Lenin) werden...Und Lenin wußte selbst: "Der Großkaufmann ist sozusagen ein ökonomischer Typus, der vom Kommunismus so weit entfernt ist wie der Himmel von der Erde". 14. Auf den ersten Blick hat jede Disziplinierungsmaßnahme einen reaktionären Gehalt, aber untersucht man die Probleme der Revolution tiefer, so ist Herausbildung und Existenz eines harten Kerns von disziplinbewußten Berufsrevolutionären notwendig als Bollwerk gegen konterrevolutionäre Machenschaften. Revolutionäre sind Einiger durch Blut und Eisen, keine Pluralisten, die bunte Schmetterlinge aufsteigen lassen. Nach dem Prozess gegen das "Moskauer Zenrum" im Januar 1935 (gegen Sinowjew, Kamenew, Gertik, Kuklik, Bakajew und anderen) verfasste der Chef der politischen Geheimpolizei Jeshow eine Broschüre, die er "Von der Fraktionstätigkeit zur offenen Konterrevolution" betitelte. Die dem Leninismus eigentümliche "knochenbrecherische Politik" blieb durch die Revolutionen des Jahres 1917 bis auf eben skizzierte Ausnahme in Kraft, nur verlor sie nach der Verhaftung der Provisorischen Regierung ihren konspirativen Charakter. Es waren die bürgerlichen Verlierer des revolutionären Machtkampfes, die nun immer konspirativer vorgehen mussten, da diese Minoritäten die Massen nicht mehr über das Parlament als Repräsentanten des volonté générale blenden konnten. Im Hintergrund sammelten sich die knochenbrecherischen roten Falken um den Generalsekretär Stalin, während Rosa Luxemburg mit ihrer kritischen Schrift zur Oktoberrevolution die roten Tauben um sich sammeln wollte, da ihr der Leninsche Purismus von je her suspekt war. In der Tat war Stalin zunächst der Mann im Hintergrund, in der Liste des ersten Leninschen Rates der Volkskommissare taucht Stalins Name als letzter auf (als Vorsitzender der Kommission für Angelegenheiten der Nationalitäten).

Für revolutionäre Situationen gilt insbesondere, dass das einfache kausale Denken am historischen Prozess abgleitet, der mitunter in recht bizarren Zickzackbewegungen verlaufen kann. 15. Die sich durch theoretische Abstraktion ergebende stufenförmige Objektivität sich auseinander abfolgender öconomischer Gesellschaftsformationen kann zur scholastischer Weisheit gerinnen, die die Objektivität der Formationen in den Geschichtsprozess schablonenartig wieder hineinpropft und durch diese Korsettierung den Lebensatem der in der Geschichte tätigen tief innerlichen Unruhe abschnürt. Den Vorwurf einer scholastischen Verfahrensweise richtete Lenin dann auch an seine Kritiker, die das russische Proletariat bernsteinistisch erst durch eine lange historische Schule eines unter der Herrschaft der russischen Bourgeoisie notwendigen historischen Reifeprozesses - man sprach von fünfzig bis hundert Jahren - schicken wollten. Die Bernsteinanhänger gingen von Generationen aus, die zunächst in die Schule des Kapitalismus gehen müßten. 16. An sie sind die Worte Nietzsches zu richten, dass es in der Wirklichkeit nichts gibt, was der Logik streng entspräche. Schon der Verlauf der bürgerlichen Revolution gibt uns Lehrmaterial an die Hand: Obwohl die Verselbständigung des Produktionsprozesses gegenüber dem Naturprozess, seine Unabhängigkeit von natürlichen Kraftquellen, durch die industrielle Revolution in England viel weiter war als in Frankreich - so waren in der französischen Textilindustrie 1790 nur cirka 900 "Spinning Jennies" gegenüber 20 000 in der englischen betrieben worden - wurde nicht England das Land der bürgerlichen Revolution in ihrer klassischen Form, sondern Frankreich, also kam schon die klassische bürgerliche Revolution in einem zurückgebliebenen Land zum Ausbruch. 17. Die marxistische Orthodoxie hatte Recht nur in der Immanenz der Logik auswendig gelernter Zitate der Klassiker, nach denen die Oktoberrevolution zur falschen, zu frühen Zeit und an einem falschen, zu peripheren Ort stattfand. Aber hatten nicht schon die Klassiker in der Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifestes vom 21. Januar 1882 Rußland als "Vorhut der revolutionären Aktion von Europa" 18. bezeichnet ? Hatte nicht schon Kautsky 1902 in seiner Schrift "Die Slawen und die Revolution" ausgeführt, dass die Zeit vorbei sei, in der Rußland für Westeuropa ein bloßer Hort der Reaktion und des Absolutismus sei. Und zu Beginn des ersten Weltkrieges war es in Petrograd zu Barrikadenkämpfen gekommen, als die Stadt noch Sankt Petersburg hieß. Und hatten nicht in Russland sogar die kleinbürgerlichen Trudowiki nicht für die Kriegskredite gestimmt und ebenso die Fraktion Tschcheidse ? Die bolschewistischen Dumaabgeordneten wurden sogar wegen Unterwühlung der militärischen Macht Russlands verhaftet und nach Sibirien deportiert. Der Staatsanwalt Nenarokomow legte ihnen besonders zur Last, dass sie gegen den Aufruf des Sozialisten Vandervelde, den Kampf gegen den Zarismus zeitweilig einzustellen (also Burgfrieden), agitiert hätten. Die Ausführungen des Staatsanwaltes sind recht aufschlußreich: "Die deutschen Sozialdemokraten stimmten für die Kriegskredite und zeigten sich als Freunde der Regierung. So handelten die deutschen Sozialdemokraten, aber ganz anders handelten die traurigen Ritter der russischen Sozialdemokratie...Die Sozialisten Belgiens und Frankreichs vergaßen einmütig ihre Zwistigkeiten mit den anderen Klassen, stellten den Parteihader beiseite und traten ohne Zaudern unter die Fahnen". 19. Ich empfehle es jedem Eurozentristen, der über das rückständige "asiatische" Russland die Nase rümpft, diese Sätze des Herrn Nenarokomow sorgfältig zu durchdenken. So naiv war der Volksboden nicht, in den der Blitz der Aprilthesen einschlug. Außerdem hatte die Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus die Welt gründlich umgestaltet, der Weltkrieg noch mehr. Lenin folgte keineswegs einer rein eurozentristischen Sichtweise der Weltpolitik, sondern sein Denken folgte im klassischen Sinne der Vereinigung der Proletarier aller Länder weltrevolutionären Kontinentalkonturen. Rußland als Brücke zwischen Europa und Asien kam ihm für eine eurasische Revolution daher wie gerufen. Im Oktober 1915 beantwortete Lenin die Frage nach der bolschewistischen Politik im Falle einer Machtergreifung in Russland dahingehend, dass die Bolschewiki den revolutionären Krieg vorbereiten, "alle jetzt von den Großrussen unterdrückten Völker, alle Kolonien und abhängigen Ländern Asiens (Indien, China, Persien usw.) systematisch zum Aufstand aufrütteln, und ebenso - ja in erster Linie - würden wir das sozialistische Proletariat Europas entgegen seinen Sozialchauvinisten zum Aufstand gegen seine Regierungen aufrufen". 20.

Die Revolution drängte alle und alles zusammen: zwischen der Verbrenung des Leichnams Rasputins, der Ende Dezember 1916 einer Adelsverschwörung zum Opfer fiel, und der "Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" lagen nur cirka 275 Tage. In dieser welthistorisch kurzen Periode hatten die Industriellen in nur zwei Monaten nach der Februarrevolution ganz Russland ausgeplündert 21., zugleich brannte sich ein Name unauslöschlich in die Weltgeschichte ein. Ginge man von der unmarxistischen Auffassung 22. aus, dass "grosse Männer" Geschichte machen, so könnte man behaupten, dass Lenin durch die Oktoberrevolution und trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion zur bis heute unerreichten Schlüsselfigur der Weltgeschichte avancierte. Weder 1905 noch der Februar 1917 hatten einen Lenin, diesem gelang im Oktober eine Identifizierung mit Weltgeschichte wie bisher niemanden. Die ganzen äußeren Umstände des (Sich-)Einfügens Lenins in den Revolutionsablauf via einer Reise im plombierten Waggon, lassen zwei ungleichgewichtige Überlegungen beharrliche Konturen gewinnen, die gewichtige von links: als sollte durch ihn und seine Anhänger, die imperialistische Rivalität geschickt ausnutzend, als weltgeschichtlicher Auftrag der Sozialismus in Rußland "eingeführt" werden. Nichts ist irriger, immer wieder warnte Lenin vor einem "Einführen des Sozialismus". Man kann einen Sozialismus nicht einführen. Und die lapidare von rechts der deutschen Agentenschaft. Lenin war kaum aus dem Exil zurück und gab nach einer Aussage Molotows damit der Partei festen Boden unter den Füßen, da verkündete er (am russischen Ostermontag) seine Aprilthesen 23., die er im Gepäck mitgebracht hatte und die wie der Blitz einschlugen. Marxens Feuerbachthesen theoretischerseits und Lenins Aprilthesen in praktisch politischer Hinsicht sind weltgeschichtlich gleichrangig. Insbesondere Lenins Thesen waren es, die der marxistischen Orthodoxie der II. Internationale mitten ins Gesicht schlugen, nicht zufällig wurde Lenins Antipode Kautsky, die größte Autorität dieser Internationalen. Der Broschürenkrieg zwischen beiden endete mit Kautskys Plädoyer für einen bewaffneten Aufstand gegen den Bolschewismus, da der bolschewistische Kommunismus zur Staatssklaverei geführt hätte. Eine weitere große Autorität, Plechanow, denunzierte die Thesen Lenins als eine Fieberphantasie - Plechanow blieb sich hier treu, schon vor dem ersten Weltkrieg schimpfte er die im Basler Manifest von 1912 niedergelegte revolutionäre Taktik, den kommenden Weltkrieg in einen Bürgerkrieg umzuwandeln, ein "Mittelding zwischen Traum und Farce" 24. - schlugen in ein theoretisches Lehrgebäude ein, dessen Zentralsatz lautete, dass die proletarische Revolution nicht in einem zurückgebliebenen Agrarland zum Ausbruch kommen könne. 1920 konnten nur 37,8 Prozent der Dorfbevölkerung schreiben und lesen. Es war eines der Verdienste Lenins, seine Bolschewiki auf die Notwendigkeit der Verbindung von Prolet und Bauer, von Stadt und Land aufmerksam gemacht zu haben, eine Verbindung, der sowohl die russischen Menschewiki als auch die westlichen Sozialdemokratien gleichgültig gegenüberstanden. Ihre Fixierung auf Urbanität ist urbürgerlich. Die meisten girondistisch geprägten Abhandlungen über die französische Revolution und die meisten menschewistisch geprägten über die russische Revolution leiden unter dieser Einseitigkeit. Die Schlüssel zum Verständnis dieser beiden Fundamentalrevolutionen liegen weder in Paris noch in Petrograd (wie Sankt Petersburg seit August 1914 hieß) - dort fanden lediglich die nur Zeitungsleser ersättigenden politischen Haupt- und Revolutionsaktionen statt. Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen, heißt es im Kommunistischen Manifest. Viele Ausfälle Lenins gegen westeuropäisch-urbane Sozialdemokraten sind auf dem Hintergrund dieser für den Sieg der Revolution unbedingt notwendigen Konjunction zu sehen, die erkannt zu haben seine theoretische Überlegenheit ausmachte. In seinem Revolutionskonzept waren die sich dem Proletariat anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft unverzichtbar. Die revolutionsschwangeren Monate des Jahres 1917 zeigten, wie grau alle Theorie ist und wie grün und vielsprießig die Keime einer neuen sozialistischen Welt das Licht der roten Sonne suchten. Als Lenin aus dem Exil zurückkam und seine Aprilthesen verkündete, da mußte er auch verkünden, dass seine Partei in den meisten Sowjets der Arbeiterdeputierten in einer schwachen Minderheit gegenüber dem kleinbürgerlichen Block war. Ein Mathematiker hätte ob dieser Marginalität resigniert, ein Dialektiker weiß, dass das momentan Schwache triumphieren wird, wenn es das entsprechende Entwicklungspotential in sich birgt. 25. Aus dem bolschewistischen Kampf gegen die Volkstümler war dies bekannt, die in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in der Mehrheit der Bauernbevölkerung (80 %) politisch aktiv waren und die Bauern idealisierten, die sie revolutionieren wollten. Als dies mißlang, gingen diese Sozialrevolutionäre zum individuellen Terror über, während sich das russische zahlenmäßig geringe Proletariat immer mehr, vor allem durch Streiks, kollektivierte. In dieser Minderheit, nicht in den politisch stagnierenden kleinbesitzenden Bauernmassen sahen die Leninisten die Zukunft. Plechanow wandelte sich in dieser Zeit vom Agrarsozialisten zum Anhänger der Lehre von Karl Marx. Ein Jahr nach Marxens Tod (1883) publizierte er die Schrift „Unsere Meinungsverschiedenheiten“, in der er Partei für die Arbeiterklasse und gegen seine alten Kampfgefährten ergriff. An Marginalität waren die Bolschewiki also gewöhnt, als Dialektiker vertrauten sie den Ausführungen Hegels in seinen Vorlesungen zur "Philosophie der Weltgeschichte", dass "kleine Kräfte" in ihr aus "unbedeutend Scheinendem Ungeheures" umschlagend hervorbringen können. In Lenins Konspekt zu diesen Vorlesungen finden wir die Randnotizen: "Ein hervorragendes Bild der Geschichte. Sehr wichtig !" 26. Leninexperten vermuten, dass Lenin Hegels "Weltgeschichte" in der ersten Hälfte des Jahres 1915 studierte, er konnte nicht ahnen, dass zwei Jahre später seine "kleinen Kräfte" das vielleicht bis heute Ungeheuerlichste in der Weltgeschichte hervorbrachten (bzw. missionarisch hervorzubrigen hatten). Die Bolschewiki erwiesen sich einer 1901 gegründeten Partei (Sozialrevolutionäre) überlegen, die zahlenmäßig viel stärker war als sie. Wie zahlenmäßig schwach das russische Proletariat und seine kommunistische Partei auch immer waren , sie waren stark genug, die Polarität des Klassenkampfes als objektive Gesetzmäßigkeit der Weltgeschichte zu behaupten. Da haben wir den Grund für das Erstaunen, dass ein Berufsrevolutionär, der noch im März 1917 in einem Brief aus Zürich nach Russland um Geld bettelte, weil er sich kein Stück Brot mehr kaufen konnte, acht Monate später die Macht über ein Sechstel der Erdoberfläche an sich reißen konnte. Und als ob diese Fläche nicht ausgereicht hätte: die Oktoberrevolution führte zu einer neuen Raumorientierung, initiierte Pionierleistungen in der Raumfahrt. Der Lehrer Ciolkovskij arbeitete an der Entwicklung des Rückstoßantriebs, Lenin sorgte dafür, dass er als Spezialist des Flugwesens eine lebenslange Pension erhielt. Als im Oktober 1957 zu Ciolkovskijs 100. Geburtstag der erste Sputnik in eine Umlaufbahn um die Erde geschossen wurde, stand die westliche Welt unter Schock. Immerhin war, wie anfangs bemerkt, die Erdgeschichte mit dem Makel der Vorgeschichte belastet. Liegt es noch im Kontext der radikalsten Revolution in der Geschichte der Menschheit, dass diese die Erde ganz verläßt, um einen historisch jungfräulichen, von Menschenhhand bisher unberührten Planeten marxistisch zu machen ? „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt, alles entartet unter den Händen des Menschen“. 27. Mit diesem atembraubenden Satz beginnt Rousseau seinen Traktat über die Erziehung des Kindes Emile. Muss nicht mit einem atheistischen Selbstbewußtsein, aus dem heraus der Mensch selbst der Urheber der Dinge ist, alles unter seinen Händen gelingen ? Ciolkovskij hatte bereits 1903 in seinem Buch „Die Erforschung der Welträume mittels Rückstoßapparaten“ den Gedanken der Kosmosbesiedlung, des Verlassens der Erde entwickelt. Ganz so abwegig war das nicht, hatte doch schon Friedrich Engels der Erde ein sicheres Todesurteil vorausgesagt: „…verfolgt nur noch eine kalte, tote Kugel ihren einsamen Weg durch den Weltraum.“ 28. Damit hätte der in der Renaissance einsetzende atheistische Denkgestus, alles erdimmanent zu erklären, dem noch der Aufklärer Diderot ganz folgte 29., seinen Höhepunkt erreicht, in dem er unterginge. Ein Nichts wäre der Ausspruch Napoleons auf Elba: „Mon nom vivra autant que celui de Dieu“.

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Details

Title
Eins teilt sich in zwei - Zur Dialektik in Lenins Oktoberrevolution
Author
Year
2013
Pages
45
Catalog Number
V211625
ISBN (eBook)
9783656401704
ISBN (Book)
9783656402107
File size
525 KB
Language
German
Keywords
eins, dialektik, lenins, oktoberrevolution
Quote paper
Heinz Ahlreip (Author), 2013, Eins teilt sich in zwei - Zur Dialektik in Lenins Oktoberrevolution, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/211625

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