Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Tragik der euripideischen Medeafigur
2.1. Das Los der gedemütigten Ehefrau
2.2. Medea als Inkarnation von Affekt und Emotionalität?
2.3. Medeas Rache
2.4. Exkurs: Medea, die Furie – Senecas Medea
3. Die Tragik in Christa Wolfs „Medea. Stimmen.“ …
3.1.Die Sündenbockproblematik . …
3.2. Medea als Projektionsfigur für Ethnizität und Fremdheit
3.3. Medea als Identifikationsfigur im Kampf der Geschlechter
4.Vergleich
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
6.1. Primärliteratur
6.2. Sekundärliteratur
1. Einleitung
Die Rezeption antiker Mythen erfreut sich bereits seit Jahrhunderten besonderer Beliebtheit. Schon in der Antike selbst wurden die meist mündlich tradierten Sagen immer wieder neu erzählt und verändert. Auf Grund der Variationsvielfalt der mythischen Stoffe, ihrer Zeitlosigkeit und der Offenheit der Überlieferungen, ist ein breites Interpretationsspektrum gegeben. Diese Varianz hat im Besonderen Autoren der Moderne gereizt und somit zu immer wieder neuartigen Varianten des Mythos beigetragen.
So auch der Medea-Mythos, der im Laufe der Literaturgeschichte bereits zahlreiche Bearbeitungen, Umdeutungen und Korrekturen erfahren musste. Über Jahrtausende beweist sich die Figur der Medea als höchst ambivalente Persönlichkeit. Ihre umstrittenen Taten und ihr charakterstarkes Wesen rücken sie in ein sehr vielschichtiges Licht. Tabuisierte und düstere Seiten von Liebe und Mütterlichkeit werden aufgeschlagen und erinnern an barbarische, unzivilisierte Zeiten, die mit dem Lauf der Jahrhunderte überwunden werden konnten. Positive und negative Eigenschaften sind in dieser Figur vereint und in zahlreichen literarischen Variationen zugespitzt, oder auch abgeschwächt. Die vielfache Mörderin und rachsüchtig Liebende steht dabei im Gegensatz zur intellektuellen, erotischen, sowie selbstbewussten Frau und sorgender Mutter.[1] Als tragische Heldin wird ihre grenzenlose Liebe, die sie anderen Individuen gegenüber empfindet zum Verhängnis und lässt sie in ihrer ambiguen Gestalt besonders interessant wirken. Die zahlreichen Widersprüche, in der sich die Figur Medeas bewegt macht die Bearbeitung eines solchen Sujets besonders reizvoll.
Die Tragik, die diesem mythischen Stoff inhärent ist, soll anhand zweier Beispiele analysiert werden. Zunächst soll die antike Vorlage des Medea-Stoffes, in Form von Euripides Tragödie „Medea“ auf ihre tragischen Komponenten untersucht und in einen direkten Vergleich zu Senecas Medea-Bearbeitung gestellt werden. Nach eingehender Analyse von Christa Wolfs Roman „Medea. Stimmen“, soll ein Vergleich der beiden tragischen Konzepte Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufdecken und somit eine vielseitige Sicht auf den Mythos Medea ermöglichen.
2. Die Tragik der euripideischen Medeafigur
2.1. Das Los der gedemütigten Ehefrau
Medeas Schicksal als verlassene und gedemütigte Ehefrau, die ihren Stand als kolchische Prinzessin, ihre hochangesehene Stellung als Priesterin und Heilerin für eine Liebe aufgibt, die nicht für die Ewigkeit bestimmt war, ist eines der tragischen Elemente in Euripides Tragödie und nimmt einen wichtigen Teil in dessen Werk ein. Ihr sozialer Abstieg, sowie das allgemeine Los der Frauen in der antiken Welt werden nachhaltig behandelt und durchaus mit Kritik bedacht.
Die in das Geschehen einführende, emphatische Klagerede der Amme stellt Medeas Unglück dar, verweist auf den sozialen Abstieg Medeas und ihr Los als verlassene Ehefrau. In ihrem ersten Monolog sucht Medea die Solidarität der korinthischen Frauen. Zunächst thematisiert sie ihr eigenes Leid und verbindet dieses mit dem allgemeinen Los der Frauen. Ihr eigenes Schicksal wird im Laufe der Rede als exemplarisch für die ungerechte Behandlung der Frauen dargestellt.[2]
„Medea: […] Mich traf ein unerwartet Leid, das mein Gemüt
Zum Tod verwundet. […]
Von allem, was auf Erden Geist und Leben hat,
Sind doch wir Frauen das Allerunglückseligste.“[3]
Mit ihrem rhetorischen Talent schafft es Medea eine harmonische Verbindung in der Erwähnung des allgemeinen Leids der Frau und der Spezifizierung auf ihr eigenes Schicksal zu schaffen und somit die Chorfrauen, sowie das Publikum mit sich zu solidarisieren. Denn die Lage der Frau in der antiken griechischen Gesellschaft war generell sehr schwierig. Das weibliche Geschlecht war für die regierende Männergesellschaft jeglicher Meinungsäußerung unwürdig und hatten keinerlei politische Rechte.[4]
„Medea: […] Mit Gaben sonder Ende müssen wir zuerst
Den Gatten uns erkaufen, ihn als unsern Herrn
Annehmen; dies ist schlimmer noch als jenes Leid.“[5]
Die Anklage gegen eine patriarchalische Geschlechterordnung, in der die Lasten und Pflichten zu Ungunsten der Frauen verteilt sind, kann nahezu als feministisches Manifest gelesen werden und lässt durch Euripides eine leise Kritik an der männerbeherrschten Geschlechterordnung erkennen.[6] Medea wird damit zur Vorreiterin eines Geschlechterkampfes, der die archaischen Streitigkeiten zwischen Matriarchat und Patriarchat parallelisiert.
„Medea: […] Sie sagen wohl, wir lebten sicher vor Gefahr
Zu Hause, während sie bestehn der Speere Kampf.
Die Toren! Lieber wollte ich dreimal ins Graun
Der Schlacht mich stürzen als gebären einmal nur.“[7]
Die Lasten der Frauen, werden mit denen des Mannes auf eine Ebene gestellt, womit Medea gleichzeitig ein Manifest für die Gleichwertigkeit der Frauen formuliert. Diese bewusst allgemein gehaltene Kritik lässt in Medeas Rede aber doch eine ganz bestimmte Polemik gegen Jason anklingen. Das Jasons Ruhm lediglich auf Betrug und Schein beruht, er ohne Medea niemals zu einer Berühmtheit gereift wäre, wird immer wieder indirekt erwähnt.[8] Jason instrumentalisiert Medea, sowie seine zukünftige Frau Kreusa für seine Nutzenmaximierung, in dem er normierten Gesellschaftsregeln blind folgt und die damit einhergehende Konsequenz für den Partner ignoriert. Er wirkt lediglich nach außen als Idol, sein wahrer Charakter aber scheint sich auf Opportunismus, Lügen und Egoismus zu stützen.[9]
Im Gegensatz zur allgemeinen Problematik bezüglich des Frauenloses, hebt sich Medeas Schicksal auf Grund ihrer übermäßigen Aufopferung für Jason und ihrer Heimatlosigkeit noch einmal von der Allgemeinheit ab. Für ihn versuchte sie sich anzupassen, doch musste sie sich eingestehen, dass auf Grund ihrer Andersartigkeit und der kulturellen Differenz eine Anpassung an die Passivität der griechischen Frauen nicht möglich ist.[10]
Ihre Ungewöhnlichkeit und die ihr angeborene Erhabenheit macht es schier unmöglich sich gänzlich in die Reihe der schwachen, unbeholfenen Frauen der griechischen Gesellschaft einzugliedern. Sie ist sich selbst bewusst, dass sie anders ist und handelt auch danach. Sie hebt sich von der Allgemeinheit ab und unterwirft sich nicht dem vorherrschenden Opportunismus der griechischen Gesellschaft. Damit macht sie sich zur Außenseiterin und ist mit diesem tragischen Schicksal gänzlich auf sich allein gestellt.[11]
Als Opfer eines verkehrten Rechtsstaates, setzt sich Medea als Einzige zur Wehr. Mit ihrer wahrhaftigen Größe und ihrem Gerechtigkeitssinn, bleibt sie in der korinthischen Gesellschaft alleine.[12]
2.2. Medea als Inkarnation von Affekt und Emotionalität?
In der Stoffgeschichte Medeas, wird ihre Persönlichkeit stets mit ungezügelter Emotionalität in Verbindung gebracht. Medea steht für das leidenschaftlich Weibliche, für die Unbedingtheit von zur zweiten Natur gewordenen Gefühlen, im Gegensatz zu Jason, der für Vernunft und Anpassung an äußere Umstände steht. Er fühlt sich als besonnener, rationaler Mensch, ihrer Emotionalität überlegen.[13]
„Jason: […] Doch also seid ihr Frauen: Wenn der Ehe Glück
Durch nichts getrübt wird, fühlt ihr euch vollkommen wohl ;
Wenn dann ein Unfall euer Glück Glück zu stören droht,
gilt euch das Beste, Schönste für das Feindlichste.“[14]
In ihrem großen Streitgespräch verurteilt Jason ihre Affektivität und macht diese verantwortlich für ihre Verbannung. Im Gegensatz zu Medea sieht er nur den übergeordneten Nutzen der neuen Verbindung mit Kreusa, die emotional aufgeladene Medea steht dagegen für unmissverständliche Ehrlichkeit.[15]
Medea wird nicht, wie in anderen Tragödien üblich, vom Göttlichen gelenkt, sondern von ihrem eigenen Charakter. Das dämonisch-leidenschaftliche in ihrer Persönlichkeit wird durch ihr eigenes Selbst geformt. Das Thema Hass wird durch die Amme bereits im Prolog vorgestellt, wenn sie, der Emotionalität Medeas wissend, schon schlimmes für die Kinder ahnt. Als engste Vertraute spürt sie das aufkommende Unheil bereits aufkommen, vergleicht sie mit einer Löwin.[16]
„Amme: […] Die Kinder haßt sie, und ihr Anblick erfreut sie nicht,
Sie brütet, fürcht ich, über etwas Gräßlichem ;
Denn ihr Gemüt ist heftig, unrecht wird es nicht
Ertragen; ja, ich kenne sie und fürchte sehr, [...]“[17]
Die Klageschreie Medeas aus dem Off konstruieren einen Spannungsbogen, während die Zuschauer an den Schmerzen der Protagonistin teilhaben und Mitleid für sie fühlen. Sie drücken ihre Wut und den Schmerz bezüglich Jasons Verrat aus.[18] Dies bringt ihre individuelle, wilde Wesensart zum Ausdruck. Ihre Leiden komprimieren sich in den kurzen, aussagekräftigen Schreien, die ihre Pein prägnant zum Ausdruck bringen.[19]
„Medea: Ach, ach, ach, ach!
Ich erlitt, ich erlitt unsägliches Leid,
Des Bejammerns wert!“[20]
Durch die kurzen Schmerzenslaute und die Wiederholung des Verbs „erlitt“ wird ihr Leid und ihre Wut hervorgehoben und ihre miserable Lage verdeutlicht. Ihre Wildheit schließt allerdings nicht ihre soziale Gerechtigkeit und ihre Treue aus. Gerade die Barbarin ist es, die jene griechischen Werte lebt, zu ihnen steht und sie mit all ihrer Leidenschaft verteidigt, während die zivilisierten Griechen es sind, die ihre Schwüre brechen. Medea haftet stets eine bestimmte Dämonie und Wildheit an. Doch ihre ungezügelten Emotionen können sich dabei sowohl posi-tiv, als auch negativ auf ihre Umwelt auswirken, ihre Destruktivität speist sich daher aus der Ambivalenz ihrer Person. Denn allein ihr Name „die weise Rat Wissende“ drückt schon aus, dass sie ihr Wissen sowohl für gute Taten als auch für das Böse einsetzen kann. Sie ist eine absolut ambigue Persönlichkeit, die sowohl faszinierend, als auch abstoßend wirkt.[21]
Die Motivation für ihre Taten leitet sich grundsätzlich aus ihrer affektiven Emotionalität ab. Um ihren Plan aber letztendlich durchführen zu können stellt sie ihre Gefühle hintenan, um mit klarem Verstand ihren Racheplan vorzubereiten.[22] Sie verwendet den Schein des klaren Ausdrucks und der vernünftigen Strukturierung ihrer Argumente um die Düsternis und Undurchsichtigkeit ihrer Emotionen zu verschleiern. Dabei erschließt sich Medeas kriminelle Energie nicht aus einer angeborenen Lust, sondern aus einem Impuls heraus, den ihre starke Leidenschaftlichkeit angestoßen hat. Sie folgt stets ihrem inneren Gefühl, das stärker ist als die Vernunft.[23]
[...]
[1] Vgl. Georgopoulou, Eleni: Antiker Mythos in Christa Wolfs Medea. Stimmen und Evjenia Fakinus Das siebte Gewand. Die Literarisierung eines Kultur- Prozesses. Braunschweig, Romiosini Verlag, 2001. S. 1.
[2] Vgl. Roeske, Kurt: Die verratene Liebe der Medea. Text, Deutung, Rezeption der Medea des Euripides. Würzburg: Königshausen & Neumann Verlag, 2007. S. 44.
[3] Euripides: Medea. Stuttgart: Reclam Verlag, 1991. S. 13. V. 228-229 u. V. 233-234.
[4] Vgl. Melchinger, Siegfried: Die Welt als Tragödie. Bd. 2: Euripides. München: C. H. Beck Verlag, 1980. S. 38.
[5] Euripides, 1991. S. 13. V. 235-237.
[6] Vgl. Stephan, Inge: Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln, u.a.: Böhlau Verlag, 2006. S. 100.
[7] Euripides, 1991. S. 13. V. 251-254.
[8] Vgl. Ebd. S. 12 V. 220-221.
[9] Vgl. Roeske, 2007. S. 64ff.
[10] Vgl. Eichelmann, Sabine: Der Mythos Medea. Sein Weg durch das kulturelle Gedächtsnis zu uns. Marburg: Tectum Verlag, 2010. S. 21.
[11] Vgl. Melchinger, 1980. S. 39f.
[12] Vgl. Melchinger, 1980. S. 47.
[13] Vgl. Kenkel, Konrad: Medea-Dramen. Entmythisierung und Remythisierung. Euripides. Klinger, Grillparzer, Jahnn, Anouilh. Bonn: Bouvier Verlag, 1979. S. 32.
[14] Euripides, 1991. S. 24. V. 562-565.
[15] Vgl. Kenkel, 1979. S. 24.
[16] Vgl. Euripides, 1991. S. 11. 191.
[17] Ebd. S. 6. V. 36-39.
[18] Vgl. Eichelmann, 2010. S. 20.
[19] Vgl. Bretzigheimer, Gerlinde: Die Medeia des Euripides. Struktur und Geschehen. Diss. Tübingen: Univ.-Verlag, 1968. S. 21.
[20] Euripides, 1991. S. 9. V. 111-113.
[21] Vgl. Schlesier, Renate: Medeas Verwandlungen. In: Medeas Wandlungen. Studien zu einem Mythos in Kunst und Wissenschaft. Hg. v. Annette Kämmerer u.a. Heidelberg: Mattes Verlag, 1998. S. 9-10.
[22] Vgl. Kenkel, 1979. S. 25.
[23] Vgl. Melchinger, 1980. S. 37.