Die ungewisse Zukunft der Türkei in der Europäischen Union

Eine Betrachtung von Alternativen zur Vollmitgliedschaft


Hausarbeit, 2012

24 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei
2.1 Aktuelle Interessenentwicklung der türkischen Politik

3 Die außenpolitischen Instrumente der Europäischen Union
3.1 Europäische Erweiterungspolitik
3.2 Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP)
3.3 Maßgeschneiderte Instrumente und Partnerschaften
3.3.1 Partnerschaft der Gemeinsamen Räume
3.3.2 Sektorale Integration
3.3.3 Privilegierte Partnerschaft

4 Fazit

Literatur

1 Einleitung

Die Türken stehen seit einigen Jahren wieder vor Wien. Doch es droht kein heiliger Krieg, sondern es geht um die Vertiefung der Beziehungen. So könnte man überspitzt die Misere der EU beschreiben. Auch wenn in Zeiten der Eurokrise die Debatte leise geworden ist, ein möglicher Beitritt der Türkei in die Europäische Union ist eine der lebhaftesten Debatten (womöglich neben der Debatte über das Demokratiedefizit), die die Europäischen Institutionen bisher erlebt haben. Kann das Land am Bosporus die Kriterien erfüllen und in welche Richtung sollen die Verhandlungen weitergeführt werden? Und am Ende: Kann die Europäische Union ein derartiges Mitglied verkraften?

Vor wenigen Tagen wurde der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zum dritten Mal zum Führer seiner Regierungspartei AKP1 gewählt. In seiner fast zweiein- halbstündigen „Krönungsrede“ erwähnte er die EU nicht ein einziges Mal2. Das mangelnde Interesse hat mindestens zwei Gründe: die blockierten Verhandlungen um Mitgliedschaft in der EU und die neue Stärke der Türkei. Als Erbe aus dem Kalten Krieg verfügt die Türkei als NATO-Mitglied über eine beeindruckende hard power. Diese gepaart mit den ökonomischen Erfolgen und der offenbar geglückten Vereinbarung von Islam und Moderne machen die Türkei zu einem gewichtigen Akteur in einer krisenhaften Region.

So ist es aus türkischer Sicht wohl schwer zu verstehen, warum die EU sich in den Ver- handlungen derart zurückhält. Doch während die Türkei Erdogan für die positiven Ent- wicklungen feiert, kämpft Europa mit einer erschütternden Finanzkrise. Das Problemkind Griechenland gilt dabei für viele als importiertes Problem, das eigentlich gar nicht in die Reihen der EU hätte aufgenommen werden dürfen. Einen riesigen Exoten wie die Türkei integrieren zu können - das trauen sich derzeit vor allem Deutschland, Frankreich und Österreich nicht zu. Und dann ist da auch noch das Zypernproblem. Die Türkei hält den Norden der Insel besetzt, der faktisch europäisches Territorium ist.

Auch wenn die Türkei auf dem formalen Weg der Reformen und Heranführungspolitik näher an die Mitgliedschaft heranrückt, die Unsicherheit und Diversität unter den einzel- nen EU-Staaten bleibt bestehen und wurde seit der Sarkozy/Merkel-Ära noch größer. Es bleibt also die Frage, ob man sich in eine Sackgasse manövriert hat und welche Alterna- tiven eventuell für beide Seiten akzeptabel wären. Dieser Frage soll sich die vorliegende Arbeit annähern und einige der wichtigsten Alternativen in die aktuelle Entwicklung der Beziehung einordnen.

2 Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei

Vieles in der Europäischen Union ist seit der erschütternden Euro- und Wirtschaftskrise schwieriger geworden. Die innere Handlungsfähigkeit, aber auch die Ausstrahlung auf Partner der Union ist durch die Krise erschüttert worden. Dabei stehen Griechenland und die Frage, ob es ein Fehler war dieses Land aufzunehmen, im Mittelpunkt. Die EU ist mit sich selbst beschäftigt. Aber selbst vor der Krise sprach die EU beim Thema Türkei mit vielen Stimmen. Im Gegensatz zu anderen Aufnahmekandidaten bestimmen hier keine rationalen Überlegungen die Diskussion, sondern der Beitritt ist längst eine politische und kulturelle Frage geworden.

Bereits 1959 hat die Türkei sich für eine Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beworben. 1999 wurde durch den Europäischen Rat in Helsinki offiziell der Kandidatenstatus anerkannt. Es folgte eine weitgehende Reform des türkischen Staatswesens, das nach dem Wirken des Gesellschaftsreformers Mustafa Ke- mal Atatürk die Türkei weiter an das westliche Staatenmodell anpassen sollte. Ein Drittel der Verfassungsartikel wurde geändert und über 200 Gesetzte wurden an die Kriterien des Kopenhagener Abkommens3 angepasst (Söyler 2009, 3). Diese Entwicklung, die im Weiteren genauer beschrieben wird, kann man als ein neues Kapitel in der türkischen Ge- schichte bezeichnen. Es könnte die zweite Reformwelle nach dem Handeln Atatürks sein, die die türkische Gesellschaft grundlegend prägen wird. Bereits damals führte die Türkei umfassendes europäisches Recht, lateinische Schrift und eine „entislamisierte“ Sprache ein (Steinbach 2004, 3 ff.). Die Annäherung an Europa ist seitdem zum Bestandteil der Entwicklungen in der Türkei geworden.

Seither stemmen sich aber auch Skeptiker von Seiten der EU dagegen. Oft benutzte Ar- gumente dabei sind die großen kulturellen Unterschiede („Kulturelle Überdehnung“, vgl. Aksoy 2010) und die sehr unterschiedliche Historie. Auch sind geopolitische Bedenken ein Kriterium. Es stellt sich nicht nur die Frage, ob die Türkei in die EU passt, sondern auch wie sich die EU durch ihren Beitritt verändern würde. Allein die Größe des Beitrittskan- didaten ist bemerkenswert. So stellte Entwicklungsminister Niebel 2011 fest, dass sich die EU mit einer Aufnahme übernehmen würde: „Einen so großen Staat können wir uns momentan nicht leisten“4. Kritiker befürchten, dass die Einigkeit - also der innere Frie- den der EU - mit einer Aufnahme auf eine schwierige Probe gestellt werden würde, auch sind zusätzliche wirtschaftliche Belastungen zu erwarten. Der letzte Punkt scheint aber ironischerweise in den letzten Jahren seit der Euro-Krise eher an Bedeutung verloren zu haben. Die Türkei konnte 2010/11 ein fast zweistelliges Wirtschaftswachstum verzeich- nen und die Arbeitslosenquote liegt mit 9,1 Prozent unterhalb des EU-Durchschnitts5. Sie steht also wirtschaftlich verglichen mit den „Sorgenkindern“ der EU gut da.

Die Kopenhagener Kriterien stellen unterschiedlichste Bedingungen an die Wirtschaft und die Politik für eine Aufnahme in die EU. Doch selbst nach Erfüllung der Kriterien würde die Türkei nicht automatisch Mitglied werden. Jedes Land hat die freie Möglichkeit sich zu bewerben, aber dies führt nicht zwingend zur Mitgliedschaft6. Dennoch hat die Türkei mit der Aufnahme der Verhandlungen einen wichtigen Schritt geschafft. Auch ein Zeitrahmen für den frühestmöglichen Beitritt wurde für das Jahr 2015 abgesteckt7.

Die politischen Bedingungen der Kopenhagener Kriterien waren bisher selten ausschlag- gebend für die Ablehnung einer Mitgliedschaft in der EU. Es ist bisher erst zweimal vorgekommen, dass die EU die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aus politischen Gründen abgelehnt hat: Zweimal bei der Türkei (1989 und 1997) und bei der Slowakei (1997)8. Die EU argumentierte im Falle der Türkei hauptsächlich mit Menschenrechtsver- letzungen, dem Kurden-Konflikt und dem Konflikt mit Griechenland und Zypern. Einher ging auch der Vertrag von Amsterdam, bei dem die EU 1997 erstmals die Wertekompa- tibilität eines Landes als Kriterium festschrieb. So heißt es in Art. I-1 VVE:

„Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu fördern“

Ziel war es offensichtlich die Konditionalität im Rahmen der Heranführungshilfe von Kandidaten zu verstärken (Lippert 2005, 121). Es ist aber auch anzunehmen, dass die EU sich damit ein Argument gegenüber der Türkei geschaffen hat.

Nachdem 1999 der Kandidatenstatus der Türkei anerkannt wurde, brachte die Türkei bereits unter Ministerpräsident Bülent Ecevit Reformen zur Öffnung der Märkte und zur Neugestaltung des Zivilrechts auf den Weg. Obwohl er sich während seiner vier Amts- perioden gegen eine EU-Integration positionierte, wurde er gegen Ende seiner Amtszeit 2002 zu einem Befürworter: „It is now understood, that there can be no Europe wi- thout Turkey and no Turkey without Europe.”9 Sein Nachfolger, Recep Tayyip Erdoğan, erhöhte das Tempo der Reformen. So wurden 2004 kurdischsprachige Sendungen im tür- kischen Staatsfernsehen eingeführt - „ein Schritt von ähnlicher Tragweite wie seinerzeit die Verbannung des Kurdischen in allen Facetten aus dem Erscheinungsbild der Türkei“ (Steinbach 2004, 5). 2004 stellte die Europäische Kommission letztlich fest:

„In Anbetracht der allgemeinen Fortschritte im Reformprozess und unter der Voraussetzung, dass die Türkei die oben genannten, noch ausstehenden Gesetze in Kraft setzt, ist die Kommission der Auffassung, dass die Türkei die politischen Kriterien in ausreichendem Maß erfüllt und empfiehlt die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen.“10

Damit wurden die Beitrittsverhandlungen offiziell 2005 aufgenommen. Bereits zu dieser Zeit kursierte der Begriff der Privilegierten Partnerschaft11. Kritiker sahen in ihr eine Alternative zu einem Beitritt. So steht im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union:

„Die Union kann mit einem oder mehreren Drittländern oder einer oder mehreren internationalen Organisationen Abkommen schließen, die eine As- soziierung mit gegenseitigen Rechten und Pflichten, gemeinsamem Vorgehen und besonderen Verfahren herstellen. (AEUV Artikel 217, ex-Artikel 310 EGV)

Während sich die Schröder-Regierung zusammen mit Jacques Chirac noch für eine Voll- mitgliedschaft stark machte, propagierten CDU und CSU eine Partnerschaft (Marhold 2006, 4), die beschrieben wird als „Integrationsstufen [...], die keine Vollmitgliedschaft, aber starke, dauerhafte und gegenüber anderen herausgehobene Beziehungen implizie- ren“ (Leggewie 2008). Doch trotz der kritischen Haltung der zwei größten EU-Länder Frankreich12 und Deutschland, hielt die türkische Regierung an ihrem Beitrittswunsch fest. Im Juli 2007 kam es in der Türkei zu vorgezogenen Parlamentswahlen, die die AKP mit einem Pro-EU-Wahlkampf gewinnen konnte und fast 47 Prozent der Stimmen erziel- te. Demnach wollten auch die türkischen Bürger weiter einen Kurs in Richtung EU und Erdogan nutzte das günstige Stimmenverhältnis im Parlament für neue Initiativen. Nach der Wahl kündigte er eine „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber Folter an und betonte, dass Russland und China keine alternativen Partner für die Türkei seien13.

Ende 2007 stellte der Europäische Rat eine Reflexionsgruppe, eine Art Rat der Weisen, zusammen, um über die Zukunft der EU im Jahr 2030 zu debattieren. In dem Schlussreport, der im Mai 2010 vorgelegt wurde, heißt es zur Grenzsetzung der EU:

„Die Union muss offenbleiben (sic!) für potenzielle neue Mitglieder aus Europa und dabei jeden Beitrittsantrag für sich genommen beurteilen und prüfen, ob die Kriterien für eine Mitgliedschaft erfüllt sind. Diese stellen nämlich die ’wahren Grenzen Europas’ dar.“14

Die Türkei wurde hier ausdrücklich eingeschlossen. Ferner wird erwähnt, dass Geogra- fie und Religion keine Beitrittskriterien sein können. Diese Aussage folgt auch dem ur- sprünglichen Erweiterungsgedanken. Man wollte das Beitrittsgesuch an rationalen Kri- terien messen und in einer eher bürokratischen Manier durchführen. Eine Haltung, die von einigen Staats- und Regierungschefs der EU-Länder eher nicht geteilt wird15.

Die Erweiterungspolitik soll deshalb auch keine Form der Außenpolitik darstellen, son- dern als Ausgangspunkt wird die politische Identität gesehen. Ziel ist es, eine Politik der offenen Tür zu machen, für die nur maßgeblich ist, ob der Kandidat die Kriterien erfüllt. Brüssel ist reaktiv, nicht expansiv. Deswegen werden potentielle Mitglieder auch nicht aktiv im Sinne einer strategischen Machtpolitik gesucht, sondern man reagiert nur auf Beitrittsanträge (Lippert 2011, 8). Dass diese Vorstellungen aber eher theoretischer und bürokratischer Natur sind, lässt sich an der Grundsatzdebatte rund um die Türkei erkennen.

Im Falle der Türkei ist der Aufnahmeprozess zur Zeit jedenfalls unterbrochen. 13 Kapitel von insgesamt 35 werden aktuell zwar verhandelt, 18 gelten allerdings als blockiert und eins ist vorläufig geschlossen16 (Weidenfeld 2011, 143). Ein großes Verhandlungshindernis ist derzeit die Ratifizierung der Ausweitung der Zollunion auf Zypern. Das womöglich größte Problem ist aber die Blockadehaltung Frankreichs, das fünf Artikel, die unmittelbar mit dem Beitritt zusammenhängen, ablehnt (ebenda).

Doch neben den formalen Verhandlungen finden auch innen- und außenpolitische Geschehnisse wie die Bewegungen in der arabischen Welt und die europäische Finanzkrise statt, die die Prioritäten zu verschieben scheinen.

2.1 Aktuelle Interessenentwicklung der türkischen Politik

Generell ist es in den letzten Jahren rund um die Türkei-Debatte eher ruhig geworden. Dies mag zwei Gründe haben: Die Finanzkrise in Europa und die veränderten außenpolitischen Bestrebungen der Türkei.

In Bezug auf letzteres, lohnt sich ein Rückblick auf die Ereignisse in der Region. Eine grundlegende Neuorientierung erfuhr die türkische Außenpolitik mit den Geschehnissen und Folgen des 11. September 2001 und vor allem der Wahl der AKP. Am 1. März 2003 weigerte sich die Türkei unter dem frisch gewählten Ministerpräsidenten Erdoğan, das Staatsgebiet für den Aufmarsch US-amerikanischer Truppen im Irak-Krieg freizuge- ben. Das Echo in der arabischen Welt war positiv und verhalf letztlich dem türkischen Professor Ekmeleddin İhsanoğlu zum Generalsekretär der „Organisation der islamischen Konferenz“ gewählt zu werden (vgl. Sprengler 2006). Maßgeblich für die Neuausrichtung war und ist Außenminister Davutoglu, der das Konzept der „Strategischen Tiefe“ ent- warf und damit einerseits mit der kemalistischen Tradition brach, da er nicht nur das westliche Erbe der Türkei in den Fokus rückte, sondern auch die türkische Strategie an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anpasste (vgl. Kramer 2011, S. 55). Der Begriff „Tiefe“ kann hier historisch gesehen werden, Davutoglu möchte in gewisser Weise an die Vergangenheit und das Osmanische Reich anknüpfen. Damit sind aber keine imperialis- tischen Pläne gemeint, sondern bessere Beziehungen zu den Nachbarn und der ganzen Region17.

Die von der AKP angestoßene außenpolitische Orientierung zum Nahen Osten hin wird folglich auch als Abkehr vom Westen gesehen. Dies trifft aber nur zum Teil zu. Sicher ist, dass die Türkei eine unabhängigere Außenpolitik bestreitet als zu Zeiten des kalten Krieges und einen größeren regionalen Einfluss aufbaut (vgl. Fuller 2008). Sicher ist aber ebenso, dass die Türkei nicht an einer Isolierung vom Westen interessiert ist und nach wie vor von den durch die EU-Beitrittsverhandlungen angeschobenen Reformen sowie von der NATO-Mitgliedschaft, profitiert. Außenminister Ahmet Davutoglu bezog mehrmals energisch Stellung zur EU-Partnerschaft. So zum Beispiel 2010:

„Turkey is not reorienting its foreign policy, as some argue nowadays. While Turkey pursues a policy of constructive engagement in its neighborhood and beyond, full integration with the EU is and will remain the priority. I want to make it clear: Membership in the EU is Turkey’s strategic choice and this objective is one of the most important projects of the Republican era. As stated in the EU documents that compose our ’acquis’ with the Union, the aim of negotiations is membership.“ (Davutoglu 2010, 13)

Die Türkei soll eine eigenständige politische Region bilden (also nicht als Anhängsel des Westens oder des Nahen Ostens gesehen werden), wobei man dies nicht mit einer Zuoder Abwendung von einer Seite, sondern mit einer Erweiterung in beide Richtungen bewerkstelligen möchte. Also hin zur EU, aber auch zum Nahen Osten. Zwei Faktoren verdeutlichen die politische und wirtschaftliche Erweiterung der Türkei in der Arabischen Welt: Diplomatische Anstrengungen und wirtschaftliche Beziehungen.

Die größten Handelspartner der Türkei sind europäische Staaten18. Allerdings zeigt sich deutlich, dass der Fokus der Außenhandelsbeziehungen auf arabische Länder ausgeweitet wurde. Die Wirtschaftsbeziehungen mit arabischen Staaten waren in den 1990er Jahren noch marginal. Im- und Export lagen zwischen 1990 und 2002 relativ konstant bei je- weils drei Milliarden US-Dollar im Jahr. Bis zum Ausbruch der Weltfinanzkrise stieg der

Handel stark an und erreichte 2008 mit einem Volumen von über 37 Milliarden seinen vorläufigen Höhepunkt (vgl. Habibi und Walker 2011, S. 2). Gleichzeitig führte die Fi- nanzkrise zu einem Schrumpfen des türkischen Exports in Mitgliedsstaaten der EU. So wurden im Jahr 2000 noch 56,4 Prozent der Exporte in die EU verkauft, 2009 waren es nur 46 Prozent. „Während der Krise schrumpften primär europäische Märkte“ (Despot et. al. 2012, 6), während Nordafrika und der Nahe Osten dies ausgeglichen haben.

In der außenpolitischen Priorität der Türkei scheint der Nahe Osten gleichauf mit Europa zu liegen. 30 Prozent der Staatsbesuche19 zwischen 2003 und 2011 gingen in die EU. 27 Prozent in den Nahen Osten. Betrachtet man nur die Staatsbesuche von Ministerpräsident Erdogan, sind es sogar 31 Prozent in den Nahen Osten und 29 Prozent in EU-Staaten (vgl. ebenda S. 5).

Die wirtschaftlichen und finanziellen Instabilitäten in der Eurozone werden ganz sicher Auswirkungen auf das Handelsvolumen und vor allem auf die Attraktivität einer An- näherung an die EU für die Türkei haben. Dies lässt sich im Moment aber - genauso wie die außenpolitischen Auswirkungen des Arabischen Frühlings - schwer beurteilen, da die Ereignisse in vollem Gange sind. Aber es kann als sicher gelten, dass die ablehnen- de Haltung Frankreichs und der deutschen Regierung die EU um einen Großteil ihrer politischen Konditionalität beraubt. Die politische Agenda der Türkei wird immer weni- ger vom EU-Beitritt beeinflusst und die wirtschaftliche Zusammenarbeit nimmt weiter - insbesondere durch die Finanzkrise - ab (Despot et. al. 2012, 6).

Die aktuelle Lage wird aber voraussichtlich nichts daran ändern, dass für den türkischen Machtanspruch in der arabischen Region eine enge Beziehung zum Westen von großem Vorteil ist. Diese wiederum bedingt eine starke und stabile Position in der direkten arabischen Nachbarschaft (vgl. Cantori und Spiegel 1970, S. 1). Die kurzfristige Strategie der Außenpolitik wird auf eine feste Stellung in der Region zielen, langfristig wird die Türkei aber weiter den Anschluss an den Westen verstärken, um somit zur „Brückenmacht“ zwischen Orient und Okzident zu werden.

Das zunehmend selbstbewusste außenpolitische Agieren der Türkei muss nicht zwingend auf eine Abkehr vom Westen hindeuten. In den von der Arabellion erfassten Ländern wurde die Türkei mit ihrer Vereinbarung von Islam und moderner Politik oft als Vorbild aufgefasst. Diese neu gewonnene Soft-Power kann stabilisierend und friedensstiftend in der Region eingesetzt werden.

[...]


1 Adalet ve Kalkınma Partisi. Zu Deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung.

2 Kalnoky, Boris: Türken feiern Erdogan als größten Führer der Welt, in DIE WELT, ab- gerufen online am 30. Sept. 2012 http://www.welt.de/politik/ausland/article109573517/ Tuerken-feiern-Erdogan-als-groessten-Fuehrer-der-Welt.html.

3 Siehe auch 3.1.

4 Hamburger Abendblatt (2011): Niebel warnt: EU kann sich die Türkei nicht leisten. Abge- rufen am 20. Sept. 2012: http://www.abendblatt.de/politik/deutschland/article2035292/ Niebel-warnt-EU-kann-sich-die-Tuerkei-nicht-leisten.html.

5 Wirtschaftsdaten des Auswärtigen Amtes (abgerufen am 22. Sept. 2012) http://www. auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Tuerkei/Wirtschaft_node. html

6 vgl. Art. I-58 VVE: „Die Union steht allen europäischen Staaten offen ...“.

7 Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel, 16./17.12.2004, Punkt 23.

8 vgl. Europäische Kommission: 21. Gesamtbericht über die Tätigkeit der Europäischen Union (1987), Ziff. 794, 1988.

9 Kinzer, Stephen (2006): Bulent Ecevit, a Political Survivor Who Turned Turkey Toward the West, Is Dead at 81 . New York Times, abgerufen online am 22. Sept. 2012 http://www.nytimes.com/2006/ 11/06/world/europe/06ecevit.html.

10 Europäische Kommission: Empfehlung der Europäischen Kommission zu den Fortschritten der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, KOM (2004) 656 endgültig, Brüssel, 6.10.2004, S. 3. 11 Der Begriff wird in der öffentlichen Debatte vor allem mit Bezug auf die EU-Ambitionen der Türkei benutzt. Geprägt wurde der Begriff vermutlich schon 2002 von Heinrich August Winkler in „Wir erweitern uns zu Tode“, Die Zeit 46/2002. Siehe auch 3.3.3.

12 Nicolas Sarkozy nutzte das Thema im Wahlkampf, den er schließlich 2007 gewann. In seiner ersten Grundsatzrede zur Außenpolitik revidierte er dies allerdings und ließ einen möglichen Beitritt der Türkei offen. Vgl. Deutsche Welle: Sarkozy bietet im Streit um EU-Beitritt Ankaras Kompromiss an: http://www.dw.de/dw/article/0,2144,2754247,00.html, abgerufen am 25. Sept. 2012. 13 Spiegel Online (2007): Erdogan will Reformtempo erhöhen, abgerufen am 22. Sept. 2012: http://www. spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-erdogan-will-reformtempo-erhoehen-a-503264.html. 14 Bericht der Reflexionsgruppe an den Europäischen Rat über die Zukunft der EU 2030. Projekt Europa 2030, herausgegeben von der Europäischen Union im Mai 2010.

15 Siehe zum Beispiel die Idee der Privilegierten Partnerschaft (3.3.3) oder das Vorgehen bei der Erwei- terungspolitik (3.1).

16 Das Kapitel „Wissenschaft und Forschung“. Zuletzt wurde das Kapitel „Lebensmittelsicherheit, Veterinär- und Pflanzenpolitik“ im Juni 2010 geöffnet.

17 Vergleich „Die neue türkische Außenpolitik“ (2012), Hans Seidel Stiftung. Abgeru- fen am 26. Sept. 2012 http://www.hss.de/politik-bildung/themen/themen-2012/ die-neue-tuerkische-aussenpolitik.html.

18 Die drei größten sind Deutschland mit 10.1 Prozent, Großbritannien mit 6.4 Prozent und Italien mit 5.7 Prozent. World Fact Book. Abgerufen am 22. Sept. 2012: https://www.cia.gov/library/ publications/the-world-factbook/geos/tu.html.

19 Mitgezählt werden die Staatsbesuche vom Ministerpräsidenten, Außenminister und Präsidenten.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die ungewisse Zukunft der Türkei in der Europäischen Union
Untertitel
Eine Betrachtung von Alternativen zur Vollmitgliedschaft
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Note
2,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
24
Katalognummer
V215095
ISBN (eBook)
9783656428091
ISBN (Buch)
9783656434900
Dateigröße
703 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Türkei, Europäische Union, EU-Erweiterung, Europäische Integration
Arbeit zitieren
Dominik Schmidt (Autor:in), 2012, Die ungewisse Zukunft der Türkei in der Europäischen Union, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/215095

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