Leseprobe
INHALTSVERZEICHNIS
1 EINLEITUNG
2 THEORETISCHER HINTERGRUND
2.1 Bedeutungswandel
2.1.1 Definition
2.1.2 Arten des Bedeutungswandels
2.1.3 „Soziale Entlehnung“
2.1.4 Die unsichtbare Hand
2.2 Fakten zum Übergewicht
3 Methodisches verfahren
3.1 Konzept und Methode der Korpusanalyse
3.2 Ausgewählte Korpora
4 Ergebnisse und auswertung der analyse
4.1 „Abnehmen“
4.2 „Diät“
4.3 „Übergewicht“
5 SCHLUSSWORT
1 Einleitung
Jede Sprache ist überall und zu jeder Zeit einem Wandel ausgesetzt; nicht nur die Sprache per se verändert sich, sondern auch ihre einzelnen Subsysteme wie Phonologie, Lexik und Semantik (z. B. Nübling et al. 2010: 1f.). Die vorliegende Arbeit befasst sich einschliesslich mit dem semantischen Aspekt der Sprache, genauer gesagt mit der Betrachtung des diachronen Bedeutungswandels dreier Wörter im 20. Jahrhundert. Um den Effekt der rasanten gesellschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg auf allfällige Wortbedeutungsveränderungen in der deutschen Sprache untersuchen zu können, wurde entschieden, drei Wörter aus dem Bereich der Ernährung unter die Lupe zu nehmen. Es sind dies: „Abnehmen“, „Diät“ und „Übergewicht“. Die Arbeit stützt sich auf die Vermutung, dass die erhöhte Nahrungsproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg Probleme des Übergewichts in den deutsch-europäischen Nationen zutage förderte. Der Ursprung für die Aktualität, die das Thema Überernährung heute erfährt, müsste somit in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt sein; zu dieser Zeit müssten die Bedeutungen der erwähnten Wörter einen Wandel erfahren haben. Das Ziel dieser Arbeit ist es herauszufinden, ob, wann und in welcher Form ein Bedeutungswandel stattgefunden hat. Zur Überprüfung der Thesen eignen sich das im Online-Korpus C4 verfügbare, länderübergreifende Angebot an Textwörtern sowie der Bestand des DWDS. Ein theoretischer Hintergrund soll nun das nötige Basiswissen über die diachrone Semantik bereitstellen, ehe im Hauptteil auf die Ergebnisse und Auswertungen der Korpusanalyse eingegangen wird.
2 THEORETISCHER HINTERGRUND
2.1 Bedeutungswandel
2.1.1 Definition
Das sprachliche Zeichenmodell von Ferdinand de Saussure beinhaltet eine Ausdrucks- und eine Inhaltsseite, ergo ein Lautbild und die konventionalisierte Vorstellung davon. Laut Ullmann (1967: 159) hat man es mit einem Bedeutungswandel zu tun, „wenn sich ein neuer Name [Lautbild] mit einem Sinn verbindet und/oder ein neuer Sinn [Vorstellung] mit einem Namen.“ Anders ausgedrückt (nach Nübling et al. 2010: 108f.) kommt ein semantischer Wandel zustande, wenn sich die Inhaltsseite eines Wortes verändert. Diese Seite ist nämlich nicht eindeutig bestimmt, sondern vielmehr ein Produkt der Arbitrarität.
Für Keller und Kirschbaum (2003: 13) ist der Bedeutungswandel ein nicht beabsichtigter „Nebeneffekt“ der alltäglichen Kommunikation (siehe Kap. 2.1.4). Ihnen zufolge gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten, an die Frage, was Bedeutung eigentlich sei, heranzutreten (4ff.). Die repräsentationistische Auffassung geht von der Bedeutung eines Wortes als von dem aus, wofür das Wort steht. So funktioniert z. B. das sprachliche Zeichen Saussures. In der anderen Option wird der Aspekt eines Wortes als dessen interpretierbare Bedeutung betrachtet. Das ist die von Ludwig Wittgenstein geprägte instrumentalistische Variante, die vom Wort als von einem Instrument ausgeht, das zur Verwirklichung individueller Absichten eingesetzt wird:
[Das Wort] „bedeutet“ nicht die Regel des Gebrauchs, sondern regelhafter Gebrauch macht es bedeutungsvoll. Das Wort verhält sich zu seiner Bedeutung nicht wie das Geld zur Kuh, die man dafür kaufen kann, sondern wie das Geld zu seinem Nutzen. (Keller 1995: 67)
Wittgenstein (1952/1984: PU §43) ist der Auffassung, die Bedeutung eines Wortes sei durch den Sprachgebrauch konventionalisiert. Daraus lässt sich folgern, dass der Bedeutungswandel mit einer Regelveränderung im Sprachgebrauch einhergeht.
2.1.2 Arten des Bedeutungswandels
Es gibt mehrere Methoden, den Bedeutungswandel zu klassifizieren. Diese Arbeit beschränkt sich auf die von Ullmann (1967: 188ff.) beschriebene, heute noch bedeutende logisch-rethorische Klassifikation. In dieser spielen der Bedeutungsinhalt und der Bedeutungsumfang eine wichtige Rolle. Das Erstere gibt die Menge der Merkmale an, die einen Begriff kennzeichnen; das Letztere meint die Menge an Referenzobjekten, auf die der Begriff angewandt werden kann (Stedje 2007: 33). Eine geringe Anzahl von Merkmalen weist auf einen abstrakteren Begriff hin, der inhaltstechnisch aber eine grössere Bandbreite an Referenzobjekten abdeckt; eine hohe Anzahl von Merkmalen deutet auf einen konkreteren Begriff hin, der sich jedoch nur beschränkt anwenden lässt (Busse 2005: 1313). Es werden nun drei Typen des quantitativen Bedeutungswandels unterschieden:
1) Bedeutungsverengung[1]: Der Bedeutungsumfang bzw. die Menge der Referenzobjekte eines Wortes wird kleiner, da zu den ehemaligen semantischenMerkmalen weitere hinzugekommen sind, welche die Bedeutung spezialisieren. Das Wort Mut (Stedje 2007: 34) bezeichnete ursprünglich allgemein den Gemütszustand eines Menschen (engl. mood). „Tapferkeit“ als engere Bedeutung hat sich erst im 16. Jahrhundert eingestellt.
2) Bedeutungserweiterung: Der Bedeutungsumfang eines Wortes dehnt sich aus, da einige der ehemaligen semantischen Merkmalewegfallen. Laut Bréal (2011: 118f.) verblasse die dem Wort anfänglich zugeschriebene Bedeutung zugunsten einer Verallgemeinerung. Er nennt dazu als Beispiel pecunia, das im Lateinischen „reich an Vieh“ meinte, bevor es generell die Bedeutung „Reichtum“ angenommen hatte. Bedeutungserweiterungen tendieren nebenbei häufiger vorzukommen als -verengungen (Grzega, 2004: 75).
3) Bedeutungsübertragung[2]: Busse (2005: 1313f.) wirft Ullmann bei dieser Kategorie vor, dass die Menge der semantischen Merkmale wie auch die der Referenzobjekte an und für sich gleich bliebe, es käme lediglich zu einer qualitativen Verschiebung. Auch Bréal (2011: 119) ist der Überzeugung, dass die Bedeutungserweiterung im Grunde eine langsam vonstattengehende Bedeutungsverschiebung darstellt. Auch hier verblasse die ursprünglich konkrete Bedeutung und wird abstrakt. Als Beispiel nennt Stedje (2007: 34) das Frauenzimmer, das historisch gesehen den Aufenthaltsort der Frauen bezeichnete, im Verlaufe der Kulturgeschichte aber generell auf die Frau anwendbar wurde und heute zusätzlich negativ konnotiert ist.
Anhand des Frauenzimmers wird ersichtlich, dass Bedeutungen nicht nur einen quantitativen Wandel vollziehen können, sondern auch einen qualitativen. Unter Bedeutungsverschlechterung (Pejorisierung) versteht man eine soziale, moralische oder stilistische Bedeutungsabwertung: Neutrale oder positiv beurteilte Wörter können eine sich nach und nach entwickelnde negative Bewertung annehmen. Nübling (2011: 2f.) liefert als Beispiel den Begriff Fräulein, der vom Althochdeutschen „junge Herrin“ und „Frau von Stand“ zum Mittelhochdeutschen „Hure“ und „Frau von niederem Stand“ degradiert und sexualisiert wurde. Heute bezeichnet ein Fräulein eine unverheiratete Frau bzw. durch Funktionalisierung der Bedeutung eine Kellnerin. Die Bedeutungsverbesserung (Meliorisierung) markiert den umgekehrten, selteneren Prozess, bei dem die Bedeutung eine Aufwertung erlebt. Der Marschall beispielsweise hatte im Althochdeutschen die Bedeutung „Pferdeknecht“, wohingegen er im Mittelhochdeutschen bereits einen höfischen Rang bekleidete. Eine hohe Stellung hat er heute militärisch immer noch inne. (Nübling et al. 2010; Stedje 2007)
Eine Klassifizierung nach dem wertenden Prinzip hatte 1901 Jaberg (561ff.) erstmals vorgenommen. Blank (1997: 333ff.), der Ullmanns klassische Typen des Bedeutungswandels eingehend studiert und dabei Ergänzungen und Neuinterpretationen vorgenommen hatte, anerkennt die Pejorisierung und Meliorisierung nicht als eigenständige Typen, weil sie sich durchgängig den anderen Arten zuordnen liessen. Germann (2007: 40) weist darauf hin, dass Ullmann die Bedeutungsverschlechterung bzw. -verbesserung zu den Ursachen des Bedeutungswandels zählte, nicht zum Verfahren selbst.
[...]
[1] Bei Keller/Kirschbaum (2003) auch als „Differenzierung“ beschrieben.
[2] Auch unter dem Namen „Bedeutungsverschiebung“ bekannt.