Playback Theater im Zentrum der Biografiearbeit mit fremdplatzierten Jugendlichen


Diplomarbeit, 2011

105 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

1. Jugendliche
1.1. Pubertät und Adoleszenz
1.2. Entwicklungsaufgaben
1.3. Hauptaufgabe Identitätsentwicklung
1.4. Fremdplatzierte Jugendliche

2. Identität
2.1. Begrifflichkeiten
2.2. Gesellschaftliche Bedingungen individueller Identität
2.3. Identitätstheorien
2.3.1. Identitätsentwicklung in Phasen
2.3.2. Identität durch soziale Interaktion
2.3.3. Identität als Konstruktion
2.3.4. Zusammenführung

3. Erschwerte Identitätsentwicklung von Fremdplatzierten
3.1. Konfusion
3.2. Negative Gefühle
3.3. Traumata
3.4. Reaktionen und Verhalten

4. Biografiearbeit
4.1. Narrationen in der Biografiearbeit
4.2. Ästhetik und Kreativität in der Biografiearbeit
4.3. Biografiearbeit mit Fremdplatzierten
4.3.1. Biografiearbeit während der Adoleszenz
4.3.2. Biografiearbeit als Gruppenarbeit
4.3.3. Ziele
4.3.3.1. Kohärenz finden
4.3.3.2. Verstehen und Bewältigen
4.3.3.3. Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit
4.3.3.4. Ressourcen entdecken und nutzen
4.3.3.5. Neue Blickwinkel einnehmen
4.3.3.6. Dokumentation
4.3.3.7. Übungen
4.4. Besonders geeignete Methoden für die Biografiearbeit

5. Playback Theater
5.1. Über eine besondere Theaterform
5.1.1. Wesen
5.1.2. Abgrenzung zu anderen NST-Formen
5.1.3. Historie
5.1.4. Anwendungsfelder
5.2. Playback-Aufführungen - Ablauf und Elemente
5.2.1. Eröffnung
5.2.2. Fließende Skulpturen
5.2.3. Paare
5.2.4. Geschichten („Szenen“)
5.2.5. Bühnenausstattung
5.2.6. Leiter
5.2.7. Abänderungen für die Biografiearbeit mit Fremdplatzierten
5.3. Playback als Biografie- und Identitätsarbeit
5.3.1. Identitätsrelevante und heilende Erfahrungen durch Playback Theater
5.3.1.1. Mitteilen von persönlichen Geschichten
5.3.1.2. Kohärenz, Ressourcen, Autonomie
5.3.1.3. Wertfreiheit und Sicherheit
5.3.1.4. Veränderter Blickwinkel
5.3.1.5. Rollen spielen
5.3.1.6. Spontaneität
5.3.1.7. Gemeinschaftlichkeit
5.3.1.8. Therapeutische Atmosphäre
5.3.2. Anwendungsbeispiel: Playback im Heim

6. Didaktische Überlegungen
6.1. Planung
6.2. Anforderungen an den Biografiearbeiter
6.3. Gruppenbildende Maßnahmen und Übungen

7. Resümee und Ausblick

Literaturverzeichnis:

Weitere Internetquellen:

Anhang

Abbildungsverzeichnis:

Abb.1: Playback im Heim

Sich an seine Vergangenheit zu erinnern, sie immer bei sich zu haben

ist vielleicht die notwendige Voraussetzung dafür,

die Integrität seines Ichs zu wahren, wie man so sagt.

Damit das Ich nicht schrumpft, damit es sein Volumen behält, müssen die Erinnerungen begossen werden wie Topfblumen

Milan Kundera - Die Identität

Einleitung

Das Playback Theater lernte ich in dem Seminar „Ästhetische Kommunikation in pädagogisch-psychologischen Arbeitsfeldern“ durch das Referat einer Kommilitonin kennen, das mir auch tiefe, persönliche Erfahrungen mit dieser Methode ermöglichte (siehe Kapitel 4.3.3.5.). Mein eigenes Referat vertiefte die Themen „Biografiearbeit“ und „Kreatives (biografisches) Schreiben“ und angeregt durch vor allem Ryan & Walker (1997), fand ich großes Interesse an der Zielgruppe der Fremdplatzierten. Als ich für die Abschlussprüfung des Seminars Thesen aus dessen Inhalten entwickeln sollte, schien mir instinktiv plausibel: Playback eignet sich hervorragend für die Biografiearbeit mit Jugendlichen in Gruppen. Das begründete ich bereits mit der Wirkung von Narrationen und Gemeinschaftlichkeit und darüber hinaus intuitiv damit, dass Playback „viele positive Auswirkungen“ auf die Identität hat, deren Entwicklung eine Hauptaufgabe von Jugendlichen ist. Aufgrund dieser zunächst noch nebulösen Vorüberlegungen, war meine Wissbegierde entfacht und das Thema geboren, das in der vorliegenden Arbeit wissenschaftlich genau untersucht wird.

Problemstellung

Ziel dieser Arbeit ist es, zu belegen, dass und herauszufinden weshalb Playback Theater als Methode für die Biografiearbeit mit fremdplatzierten Jugendlichen besonders geeignet ist. Dieser Zusammenhang wurde bisher noch kaum belegt, geschweige denn wissenschaftlich untersucht. Dennoch gibt es Überlegungen und Praxisberichte, die diese Passung andeuten (vgl. Kapitel 4.4., 5.1.3. und 5.3.2.).

Dazu ist es erforderlich, zum einen die genauen Probleme der Zielgruppe zu beleuchten, zum anderen den Anwendungsbereich und die Zielstellungen von Biografiearbeit, sowie daran anschließend die Methode Playback Theater zu beschreiben und sie auf förderliche Aspekte für ebendiesen Verwendungszweck hin zu untersuchen.

Die ursprünglich beabsichtigte ausführliche Untersuchung des Kreativen Schreibens als ebenfalls sinnvolle Methode in diesem Kontext, sowie die Ausarbeitung eines detaillierten Konzepts zur Umsetzung, können aus Kapazitätsgründen in diesem Rahmen nicht erfolgen.

Aufbau

Folgendes Vorgehen liegt der Untersuchung des Themas zugrunde1 :

Zunächst wird dargestellt, dass Jugendliche (Kapitel 1.) mit der Hauptaufgabe Identitätsentwicklung konfrontiert sind (1.3.) und welche Merkmale Fremdplatzierte kennzeichnen (1.4.). In Kapitel 2. wird Identität definiert (2.1.), ihre gesellschaftlichen Herstellungsbedingungen beschrieben (2.2.), ein Überblick über verschiedene Identitätstheorien gegeben (2.3.1.-2.3.3.) und zusammengeführt, was davon für die weitere Arbeit bedeutsam erscheint (2.3.4.). Im Weiteren wird dargelegt weshalb die Identitätsentwicklung für fremdplatzierte Jugendliche im Vergleich zu nicht-fremdplatzierten eine außerordentliche Herausforderung darstellt (Kapitel 3.).

Kapitel 4. behandelt die Methode der Biografiearbeit und bringt Argumente vor, weshalb die Verwendung von Narrationen (4.1.) und kreativen Methoden (4.2.) darin besonders sinnvoll ist, weshalb sie für Fremdplatzierte (4.3. und 4.3.3.) so gewinnbringend ist und sich vor allem während der Adoleszenz und in Form von Gruppenarbeit (Kapitel 4.3.1. und 4.3.2.) so gut eignet. Auf diesem Fundament resultiert eine zusammenfassende Begründung, weshalb Playback Theater und Kreatives Schreiben besonders geeignete Methoden innerhalb der Biografiearbeit sind (4.4.).

Kapitel 5. setzt sich fundiert mit der Methode des Playback Theater auseinander. Zunächst erfolgen eine Schilderung der charakteristischen und strukturellen Eigenschaften dieser Theaterform (5.1. und 5.2.) sowie Vorschläge zu ihrer Modifikation für Fremdplatzierte innerhalb der Biografiearbeit (5.2.7.). Anschließend werden ausführlich identitätsrelevante und heilende Erfahrungen des Playback dargestellt, die für den Biografiearbeitsprozess und die Zielgruppe förderlich sind (Kapitel 5.3.).

Zuletzt folgen einige didaktische Überlegungen zu Vorarbeit und Durchführung von Playback für die Biografiearbeit mit fremdplazierten Jugendlichen (Kapitel 6.) sowie ein Resümee und Ausblick (Kapitel 7.).

Zuweilen berührt diese Arbeit die Grenze von Pädagogik zu Therapie. Sowohl die Zielgruppe als auch die Methoden bedingen, wie sich zeigen wird, beide Perspektiven2. Vorrangig geht es darum, wie fremdplatzierte Jugendlichen bei der durch ihren biografischen Hintergrund erschwerten (Identitäts-)Entwicklung gefördert werden können (pädagogische Perspektive). Daneben geht es aber ebenfalls um eine heilende Wirkung (therapeutische Perspektive), die aufgrund der bruch- und schmerzhaften Vergangenheit notwendig ist.

Biografiearbeit und Playback Theater vereinen beide Wirkebenen, obwohl sie nicht-therapeutische Ansätze sind und deshalb von „jedem“ im Rahmen pädagogischer Arbeit angewendet werden können. Ich hoffe, dass diese Verortung „zwischen den Disziplinen“ die vorliegende Arbeit bereichert und verdeutlicht, dass diese Grenzen behutsam überschritten werden können.

1. Jugendliche

Das Jugendalter - die Phase zwischen abhängigem Kind und unabhängigem Erwachsenen - dauert ca. vom 13. bis zum 20. Lebensjahr (vgl. Gudjons, 2003, S.126). Körperliche und geistige Veränderungsprozesse sowie die Bewältigung von zahlreichen Entwicklungsaufgaben lassen das Kind in dieser Zeit zum Erwachsenen werden. Heute hat sich die Jugendphase stark in ihrem Umfang ausgedehnt und reicht nicht selten auch vom 12. bis zum 27. Lebensjahr, bedingt durch frühere Geschlechtsreife und ausgedehnte Schul- und Ausbildungszeit (vgl. Hurrelmann, 2005, S.7). Und sie verläuft individualisierter. Ein 20-jähriger Klempnergeselle mit Kind ist jedoch kaum noch Jugendlicher, ein 22-jähriger Abiturient, der ein Schuljahr wiederholt hat, hingegen noch eher.

Das Jugendalter birgt hohe Anforderungen an die Kompetenz zur persönlichen und biografischen Selbstorganisation. Es ist eine spannende, wichtige und turbulente Zeit von Entwicklungen, die, wenn sie nicht richtig abgeschlossen werden (Berufseintritt, kinderlos, Identität), dazu führen können, dass die Jugendlichen nicht richtig erwachsen werden (vgl. Hurrelmann, 2005, S.9) oder Probleme in ihre Zukunft mit hineintragen. Hier sollte, vor allem bei der besonderen Zielgruppe der fremdplatzierten Jugendlichen (siehe Kapitel 1.4.), altersgerechte Unterstützung erfolgen.

1.1 Pubertät und Adoleszenz

Die Adoleszenz (kognitiv-emotionale Reifung) ist zu unterscheiden von der Pubertät (biologische Reifung).

Die Pubertät ist das biologische Geschehen, in dem sich die Fortpflanzungsfähigkeit ausbildet. Sie beginnt mit etwa 10 bis 13 Jahren, bei Mädchen etwas früher mit der Menarche, bei Jungen mit der ersten Pollution etwas später und bei jedem individuell. Körperliche Veränderungen (auch Wachstum, Akne, Schambehaarung etc.) werden zu der Zeit als sehr einschneidend erlebt und bringen oft seelische Schwierigkeiten mit sich. Auch ein kognitiver Veränderungsprozess kommt in Gang. Während die körperliche Entwicklung mit 17 oder 18 Jahren in der Regel abgeschlossen ist, verändert sich der Jugendliche psychisch, emotional und sozial weiterhin (vgl. Gudjons, 2003, S.126).

Die Adoleszenz beginnt laut Auffassung der meisten Autoren mit dem 10. und endet zwischen dem 20. und dem 25. Lebensjahr. Laut Neurowissenschaftlern bilden sich während der Adoleszenz zum zweiten Mal im Leben des Menschen neue Hirnstrukturen aus. Das macht parallel zu der neuronalen Entwicklung des Kleinkindes gesehen evolutionsbiologisch Sinn: Es müssen in relativ kurzer Zeit Eigenständigkeit, partnerschaftliche Bindungsfähigkeit, soziale Autarkie, Urteilsfähigkeit und vieles mehr erworben werden (vgl. Schwab, S.154ff).

Fend unterteilt die Gesamtdauer der Adoleszenz in fünf Phasen: Die Präadoleszenz (10.-12. Lebensjahr), die Frühadoleszenz (13.-15. Lebensjahr), die mittlere „eigentliche“ Adoleszenz (15.-17. Lebensjahr), die späte Adoleszenz (18.- 20. Lebensjahr) und die Postadoleszenz (21.-25. Lebensjahr) (vgl. Fend, 2005, S.91ff).

Die klassischen Entwicklungstheorien hatten das Ende (kulturell stark variierend) auf das ungefähr 18. Lebensjahr veranschlagt (vgl. Gudjons, 2003, S.126), was heutzutage meist nicht mehr haltbar ist. Die gesellschaftlichen Bedingungen (u.a. lange Ausbildungszeit, s.o.) machen oft erst spät eine wirkliche Ablösung und Selbstständigkeit möglich. Es ist heute „gängig“ länger „noch nicht ganz erwachsen“ zu sein, was Adoleszente in einem Widerspruch zwischen individueller Selbstbestimmung und materieller Abhängigkeit leben lässt (vgl. ebd., S.139). In Italien ist es völlig normal, dass „junge Erwachsene“ mit 25 während des Studiums noch zu Hause wohnen, da eigene Unterkünfte schlicht nicht finanzierbar sind. Diese „Nesthocker“ - auch der zu Hause wohnende 28- jährige Porschefahrer und die Fachoberschülerin, die ihre Wäsche zur Mutter zum Waschen bringt - sind repräsentative heutige „Spätadoleszente“.

Die Jugendphase ist geprägt von vielen Umbrüchen und Entwicklungen. Antonovsky bescheinigt der Adoleszenz ein „ Sturm-und-Drang -Image“, das von „andauernder Turbulenz, Verwirrung, Selbstzweifeln und Marginalität“ geprägt ist (Antonovsky, 1997, S.100). Jugendliche stehen psychisch zwischen Selbstsicherheit und Fragilität. „Die sich abzeichnende adoleszente Identität erscheint wie eine Brückenkonstruktion in Leichtbauweise, die einerseits Kühnheit und Explorationsfreudigkeit demonstrieren möchte, andererseits aber stets wegen Überlastung einzustürzen droht“ (Schwab, 2009, S.164). Denn viel Neues gibt es zu entdecken und zu lernen.

1.2 Entwicklungsaufgaben

An Jugendliche werden psychische und sozial vorgegebene Erwartungen und Anforderungen gestellt, die es zu bewältigen gilt. Neben den alltäglichen, konkreten Aufgaben, wie dem Umgang mit schlechten Schulnoten und dem Ausgehverbot der Eltern, geht es um eine übergreifende Entwicklung, zu einem „stimmigen Ganzen“ (Fend, 2003, S.402), oder im Sinne Antonovskys zu einem kohärenten Wesen , was beides etwas wie einen „Identitätskern“ meint, der neben aller alltäglicher, flexibler Identitätsarbeit besteht (vgl. Kapitel 2.3.4.). Was sind nun die speziellen Aufgaben, die Jugendliche bewältigen müssen?

Körperliche, psychische und soziale Entwicklungsprozesse gehen Hand in Hand. Zunächst muss gelernt werden, den veränderten Körper zu bewohnen, mit Sexualität umzugehen und die eigene Geschlechterrolle anzunehmen.

Eine autonom definierte Person, ein stimmiges Ganzes zu werden, beinhaltet als besonders wichtigen Aspekt: Selbstständigkeit. Der Prozess der Verselbstständigung (u.a. Ablösung von den Eltern, Bildung eines eigenen Werte- und Normensystems) ist eine besonders wichtige Aufgabe und beeinflusst andere Bereiche mit - bspw. den Aufbau von Partnerschaften zu Gleichaltrigen (vgl. Hurrelmann, 2005, S. 27). Auch beeinflusst die Verselbstständigung den Umbau der sozialen Beziehungen. Aus einer kindlichen Abhängigkeit von Eltern und anderen Erwachsenen, können nun freiwillige Wahlbeziehungen eingegangen werden. Jugendliche, die Eigenständigkeit entwickeln, müssen lernen, eine unabhängige Position im Verhältnis zu ihren Eltern einzunehmen, sich in institutionellen Kontexten und Lebenswelten außerhalb der Familie zurechtzufinden und sich allmählich vom Elternhaus zu lösen und eine autonome Persönlichkeit herauszubilden. Sie müssen lernen, einen eigenen Standort in der Gesellschaft einzunehmen (vgl. Rosenthal, G., Köttig, M., Witte, N. & Blezinger, A., 2006, S.31).

„Die dabei auftretende merkwürdige Mischung aus Beanspruchung von Erwachsenenvorrecht (Unabhängigkeit, Eigenständigkeit, Konsumfreiheit) und Kindheitsprivillegien (Versorgtwerden, Abhängigkeit, Konsumeinschränkung) scheint ein Charakteristikum der Adoleszenz in unserer Gesellschaft zu sein“ (SeiffgeKrenke& Olbrich[1982] nach Gudjons, 2003, S.130).

Die konfliktreiche Ablösung vom Elternhaus ist für heutige Jugendliche in der Regel nicht mehr typisch. Seit den frühen 90er Jahren bestehen eher partnerschaftliche Beziehungen der Jugendlichen zu ihren Eltern. „So etwas wie Ablösung vom Elternhaus ist heutzutage eher eine gemeinsam von Eltern und Jugendlichen geplante und ausgehandelte Sache als ein konfliktbeladener Lebensabschnitt“ (Leven, I., Quenzel, G. & Hurrelmann, K., 2010, S.63).

Eine weitere Aufgabe ist in der mittleren bis späten Adoleszenz der Übergang von Schule zu Beruf und Partnerwahl, ggf. mit Aufbau einer Paarbeziehung und Übernahme einer Elternrolle. Eine Neudefinition von Leistung, Berufswahl, Einstieg in den Beruf, Berufsrolle und Strukturen der Arbeitswelt und Gesellschaft, die Arbeitstätigkeit selbst, aber auch Aneignung von Kultur und politischer Orientierung, sind sehr prägend für die übergreifend erfolgende Identitätsentwicklung (vgl. Gudjons, 2003, S.127ff). Um die Bewältigung all dieser Aufgaben zu meistern, werden sie durch einzelnes Fokussieren der Reihe nach angegangen (vgl. Coleman [1974] nach Gudjons, 2003, S.130). Bspw. werden erst Freundschaften geschlossen, dann nimmt die Wichtigkeit von Schule oder Beruf zu.

Risikofaktoren 3

Das Kapitel „Entwicklungsaufgaben“ impliziert bereits mögliche allgemeine Schwierigkeiten. Manche familiäre (speziell: Kapitel 3.) und gesellschaftliche (speziell: Kapitel 2.2.) Umstände können die gesunde Entwicklung im Kindesund Jugendalter behindern.

Heute bergen die gesellschaftlichen Bedingungen unterschiedliche familiäre Lebensformen:

„In eine Minderheit ist längst die vierköpfige Familie geraten, es gibt eine wachsende Anzahl von Stieffamilien oder ‚Patchworkfamilien‘, in denen sich nach Trennung und Scheidung unvollständig gewordene Familienbruchstücke zu neuen Einheiten verbinden, Kinder sich über die Zeit gelegentlich mit zwei, drei ‚Vätern und Müttern‘ arrangieren müssen. Es gibt die Ehen auf Zeit und ohne Trauschein, die bewußt auf Kinder verzichten. Es gibt die bewußt alleinerziehenden Frauen und Männer, und es gibt die Wohngemeinschaften in vielfältigsten Konstellationen. Das alles sind Varianten von Familie“ (Keupp, H., Ahbe, T., Gmür, W., Höfer, R., Mitzscherlich, B., Kraus, W. & Straus, F., 2008, S.50).

Wunderbar satirisch beschreibt Dieter Schwab das reale Dilemma der modernen Patchwork-Familie in einer dramatischen Szene „Familienleben“ (Schwab, 2011; siehe Anhang II).

Die Form der Familie ist für das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Jugendlichen jedoch weniger wichtig als ihre Qualität. So spielt es eine wichtige Rolle, dass die Eltern Zeit für die Jugendlichen haben, einen demokratischen Erziehungsstil pflegen und es keine materiellen Engpässe gibt (vgl. Leven et al. 2010, S.57).

Heute sind ca. ein Drittel aller Jugendlichen von Scheidung und Trennung betroffen. So gut sich diese Familien auch arrangieren, Untersuchungen zeigen, dass Scheidungskinder auch noch nach Jahren (trotz kognitiver Befürwortung) Gefühle des Leidens und ein Fehlen von Geborgenheit haben (vgl. Hurrelmann, 2005, S.111f). Die „Beziehungsmobilität“ mit hohen Trennungs-, Scheidungs- und Wiederverheiratungsraten bringt nach Walzer auch für die Identitätsentwicklung einschneidende Brüche mit sich:

„Insofern das Zuhause die erste Gemeinschaft und die erste Schule ist, in denen ein junger Mensch seine ethnische Identität und religiöse Überzeugung ausbildet, muß ein solcher Bruch zwangsläufig gemeinschaftszerstörende Konsequenzen haben. Das bedeutet, daß Kinder in vielen Fällen keine fortlaufenden oder identischen Geschichten von Erwachsenen zu hören bekommen, mit denen sie zusammenleben“ (Walzer[1993] nach Keupp et al. 2008, S.38f).

Keupp et al. nennen die Folge von häufigen Brüchen, die heute fast gängig sind, für das Individuum „Disembedding“ (2008, S.178) - Herausgerissen werden (im Unterschied zur Einbettung) aus sozialen Kontexten und eben auch aus kontinuierlichen Lebensgeschichten, was bei Fremdplatzierten besonders schwerwiegend ist (vgl. Kapitel 3.).

Heute treten bei Kindern verstärkt Formen des Narzissmus auf - Größenreaktionen, Bedürfnis nach ungeteilter Aufmerksamkeit, Selbstzentriertheit - für Eltern wird es immer schwieriger, einen „Ruhepol“ für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes darzustellen (vgl. Kraus, 2000, S.147). Dazu können Gruppenarbeit und die Form des Playback einen Gegenpol schaffen. Hurrelmann schreibt, dass ca. ein Fünftel der Familien heute mit sozialer und ökonomischer Benachteiligung lebt, was per se schlechtere Lebens- und Sozialisationsbedingungen für Kinder und Jugendliche mit sich bringt (2005, S.108). Kormann & Saur (2008, S.257) benennen als Risikofaktoren:

- abwertendes und inkonsistentes Erziehungsverhalten
- psychische Erkrankung der Eltern
- elterlicher Alkohol- und Drogenmissbrauch
- niedriges elterliches Bildungsniveau
- materielle Not und beengte Wohnverhältnisse
- Trauma nach Unfall
- schwere körperliche Erkrankung
- Flucht und Vertreibung
- Lebensbedrohung
- körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch

Darunter befinden sich Gefahren, die auch in der Bindungsforschung ausführlich beschrieben werden. Die Bindungstheorie beschreibt die Bedeutung von frühen Bindungs-Beziehungen von Kindern zu Bindungspersonen - Eltern bzw. in der Regel die Mutter. Sie sind entscheidend dafür, ob sich das Kind zu einer psychisch sicheren oder unsicheren Person entwickelt. Ein Kind, dessen Mutter nicht in der Lage ist, angemessen auf seine Bedürfnisse zu reagieren und ihm eine stabile Bindung zu geben, es vernachlässigt, inkonsistent dem Kind gegenüber ist (bspw. aufgrund von Drogen- oder Alkoholmissbrauch), wird mit hoher Wahrscheinlichkeit einen unsicheren Bindungsstil entwickeln (vgl. Reddemann & Dehner-Rau, 2004, S.20). Denn in dieser ersten Bindung werden bereits affektive Schemata angelegt, sogenannte „Repräsentationen“ oder „innere Arbeitsmodelle“, „Verinnerlichung“ dieser Bindung, die alle weiteren Beziehungen im Leben eines Menschen beeinflussen (vgl. Holmes, 2002; Kormann & Saur, 2008, S.269f). Frühe problematische Bindungserfahrungen wie mangelnde Fürsorge, fehlende Nähe oder Emotionalität stellen auch eine Basis für eine pathologische Entwicklung dar (vgl. Kormann & Saur, 2008, S.273). Reddemann & Dehner-Rau schreiben darüber hinaus, dass sich Bindungsstörungen und Traumata wechselseitig bedingen (2004, S.20).

Antonovsky bringt die Bindungstheorie mit dem Konzept der Kohärenz zusammen, in dem er schreibt, dass eine sichere Bindung Kohärenz stiftet (1997, S.95f). Oft können negative Bindungserfahrungen überschrieben werden von folgenden, guten Beziehungen, im Kontext dieser Arbeit bspw. denen der Adoptiv- und Pflegeeltern.

Ebenfalls eine kurze Erwähnung finden sollten Jugendliche, die durch besondere Umstände in ihrer Entwicklung vor noch komplexere Herausforderungen gestellt werden - beispielsweise Migrantenjugendliche, die eine besonders schwierige Aufgabe zu bewältigen haben (vgl. Pörnbacher, 1999, S.11f). Durch Migration in eine fremde Kultur ergeben sich besonders hohe Anforderungen an die Leistung der Identitätskonstruktion, da es teilweise stark unterschiedliche Werte zwischen den Kulturen gibt. Türkische Mädchen erleben oftmals besonders starke Konflikte zwischen den Werten und Rollenvorstellungen ihres Elternhauses und denen ihrer deutschen Umwelt (beispielsweise in der Schule), die stark auf Selbstständigkeit ausgelegt ist. Beiden Rollenerwartungen zu entsprechen und sich innerhalb dieses Konflikts selbst zu verorten, stellt eine besondere Herausforderung dar (vgl. ebd., S.46). So ein Konflikt kann zu erheblicher Identitätskonfusion führen. Ebenfalls können geringe erfahrene soziale Wertschätzung, gesellschaftliche Ablehnung, Diskriminierung, Zugehörigkeitskonflikte, Status- und Selbstwertprobleme die kontinuierliche Identitätsentwicklung behindern (vgl. Hoffmann[1990] nach Pörnbacher, 1999, S.55). Dies kann Migranten aber auch andere Außenseiter betreffen, beispielsweise Fremdplatzierte (siehe Kapitel 3.).

All diese erschwerten Bedingungen können die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen, schlimmstenfalls auch zu Pathologien führen. Diese Fälle werden im Folgenden nicht explizit berücksichtigt, da sie therapeutisches Vorgehen benötigen. Dennoch werden viele der im Folgenden beschriebenen Jugendlichen unter leichten bis mittleren „Störungen“ leiden, wie Verhaltensauffälligkeit, Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, Narzissmus, Gewaltbereitschaft, usw.

Gudjons schreibt, allgemein äußere sich heutzutage die Problemverarbeitung bei Jugendlichen vor allem in den externalisierenden Versuchen der 10 Verhaltensstörung, Delinquenz, Drogen, Zerstörung, Promiskuität und Kriminalität sowie den internalisierenden der Depression und Selbstzerstörung (2003, S.127). Auffällig dabei ist, dass sich internalisierende Problembewältigungsstrategien erheblich häufiger bei Mädchen zeigen und externalisierende bei Jungen (vgl. Fend, 2003, S.432ff). Mädchen unternehmen doppelt so häufig Suizidversuche und sind häufiger depressiv (niedrige Bildungsschichten eher als höhere), dazu kommen Essstörungen, die fast ausschließlich weiblich sind. Das macht Nolen-Hoeksema (1987; 1994; 1991) daran fest, dass Mädchen es in der Adoleszenz schwerer haben als Jungen. Zum einen wegen der anderen Verarbeitungsart von Belastungen (eher Schuldgefühle), zum anderen wegen größerer Rollenkonfusion, und dem Schönheitsideal, dem wenige entsprechen (nach Fend, 2003, S.433). Auch ist es schwieriger für sie, ihre Beziehungen zu Eltern und Freunden neu zu organisieren. Darüber hinaus neigen Mädchen prinzipiell eher zur „Innenschau“, also zu Grübeln und Selbstkritik (Fend [1994] nach Fend, 2003, S.433), Jungen weniger. Diese sind hingegen allgemein aggressiver, obwohl auch die Zahl der Mädchen, die sich in der Adoleszenz bereits geprügelt haben, zugenommen hat (vgl. Fend, 2003, S.439).

Schutzfaktoren

Der Begriff „Resilienz“ bedeutet in der Materialkunde „Spannkraft, Elastizität, Strapazierfähigkeit“ (Kormann & Saur, 2008, S.257). Verwendet wird er auch in der Entwicklungsforschung, der Psychologie und Sozialwissenschaft: „Resilienz meint die psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern, Erwachsenen und sozialen Systemen gegenüber Entwicklungsrisiken“ (Wustmann [2004] nach Kormann & Saur, 2008, S.257). Nicht immer führen Risikofaktoren zu psychischem Schaden, solange Menschen sie bewältigen können. Das, und dass dazu Schutzfaktoren notwendig sind, fand die Entwicklungspsychologin Emmy Werner mit ihrer revolutionären Kauai-Studie heraus. Die Längsschnittuntersuchung über 40 Jahre (ab 1955) mit 700 hawaiianischen Kindern zeigte, dass von den 30 %, die unter schwierigen Bedingungen (Armut, Krankheit der Eltern, Vernachlässigung, Misshandlung, Scheidung der Eltern) aufwuchsen, 65% wie zu erwarten durch Verhaltens- oder psychische Probleme sowie Gesetzeskonflikte negativ auffielen. Der Rest der Risikogruppe entwickelte sich jedoch sehr positiv, womit widerlegt war, dass Kinder aus Hochrisikofamilien zwangsläufig im Leben scheitern müssen. Dafür sind Schutzfaktoren verantwortlich, von denen es nach Werner im Wesentlichen drei Gruppen gibt:

Schutzfaktoren des Individuums (Intelligenz, Temperament, Robustheit, Energie, aktives soziales Wesen), Schutzfaktoren in der Familie und des weiteren sozialen Umfeldes (wichtige emotionale und konstante Bindungen zu wichtigen Bezugspersonen wie Eltern, Großeltern, Lehrern etc., die das Kind zu Initiative, Selbstständigkeit und Verantwortungsübernahme ermutigen. Dadurch entwickelt sich die Überzeugung, selbst verantwortlich und nicht den Lebensumständen ausgeliefert zu sein), Schutzfaktoren im institutionellen Kontext (Einrichtungen, Jugendgruppen, Kirche, die Halt geben) Kormann & Saur ergänzen die Distanzierung von einem belastenden Elternhaus, aktives Bewältigungsverhalten und eine realistische Situationseinschätzung (2008, S.261)

Diese Schutzfaktoren tragen dazu bei, dass negative Auswirkungen von Entwicklungsrisiken gemildert und die Wahrscheinlichkeit von dauerhaften Belastungen oder Störungen gesenkt werden (vgl. ebd., S.262ff; Antonovsky, 1997). Man kann sie auch als Ressourcen bezeichnen. An diesen Bewältigungskompetenzen knüpft auch narrative Biografiearbeit mit ästhetischen Prozessen an.

1.3 Hauptaufgabe Identitätsentwicklung

Die Identität gilt als zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters. Auch wenn Identitätsentwicklung (oder -arbeit) heute von Vielen als lebenslanger Prozess verstanden wird (u.a. Keupp et al. 2008; Kraus, 2000; Fend; 2003; vgl. Kapitel 2.3.3.) und von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter reicht, erfährt sie nur im Jugendalter eine besondere „Verdichtung und Dramatik“ (Gudjons, 2003, S.134). Jugendliche sind erstmals kognitiv so weit entwickelt, dass sie sich mit Fremdbild und Selbstbild auseinandersetzen können (vgl. ebd.) und erhalten erstmals den gesellschaftliche Auftrag, ein eigenständiges Individuum zu werden (vgl. Fend, 2003, S.402), eigenständig zu denken, zu handeln und zu wählen.

Die Identitätsentwicklung ist auch eine Abgrenzung von der Kindheit und eine Hinwendung zur Zukunft. Dabei stellen sich dem Jugendlichen die Fragen: „Was bin ich als Person?“, „Was hat sich gegenüber der Kindheit verändert?“, „Worin bin ich gleichgeblieben?“ (Kontinuität) und „Worin habe ich mich gewandelt?“ (Diskontinuität) (Krappmann[1971] nach Fend, 2003, S.402). Außerdem: „Wer bin ich?“, „Wer will ich jetzt und in Zukunft sein?“ und „Wo ist mein Platz in der Gesellschaft?“ (Behringer, 1998, S.46).

Eine eigene Identität zu entwickeln bedeutet, sich klar zu werden darüber, wer man ist und eigene Rollen und Zuschreibungen, Werte, Normen und Leitbilder, vor dem Hintergrund vieler Lebenskontexte mit denen der Gesellschaft in Einklang zu bringen (vgl. Lenzen[1989] nach Gudjons, 2003, S. 134).

Die Entwicklung der Identität ist begleitet von Probehandeln. Adoleszente definieren sich vorläufig über Stile und als Teile von Subkulturen, die ihnen während der „Suche“ Gefühle von Sicherheit in der Orientierungslosigkeit des neuen Lebensabschnittes geben. Häufig entscheiden sich Jugendliche vorläufig für Identitäten, die in krassem Widerspruch zum Elternhaus oder zu gesellschaftlich gebilligten Lebensformen stehen, was sowohl Erprobung als auch Ausdruck ihrer Selbstständigkeit ist, ihre „neue“ Identität völlig autonom zu wählen. Intoleranz gegenüber anderen Lebensweisen ist dabei als Abwehrmechanismus gegen drohende Identitätsdiffusion zu verstehen (vgl. Gudjons, 2003, S.135f). Dennoch werden letztendlich (nur) Identitätsaspekte ausgewählt und beibehalten werden, die auch auf soziale Anerkennung stoßen4, nach der wir ständig streben.

Der „Kern“ einer Identität meint eine dauerhafte Kontinuität des Erlebens und Seins im lebensgeschichtlichen sowie situativen Kontext (vgl. Hurrelmann, 2005 S.30). Die persönliche und individuelle Biografie, die Herkunft und Vergangenheit spielt für die Identitätsentwicklung eine sehr bedeutende Rolle (vgl. Goffmann in Kapitel 2.3.2.). Auch für Lenzen (1989) steht die Entwicklung eines biografischen Bewusstseins im Zentrum der Identitätsentwicklung, das die Ereignisse des Lebens in einen sinnvollen Zusammenhang bringt (nach Gudjons, 2003, S.135).

Lebenswelt

Die Lebenswelt, mit der Jugendliche sich während ihrer Entwicklung umgeben, ist einflussreich und prägend. Pörnbacher (1999) interviewt deshalb Jugendliche zu Familie, Peers, Freizeitaktivitäten und Schule. Hier sollen nur Aussagen zur Familie und zu Gleichaltrigengruppen erläutert werden.

Die Familie stellt (mit Erziehungsstil, emotionalem Klima, Konfliktpotential und -strategien) ein wichtiges emotionales Bezugsfeld dar, das für den Aufbau einer stabilen Identität eine grundlegende Bedeutung hat. Die emotionale Beziehungsqualität hat erheblichen Einfluss auf den Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls (vgl. Storch[1994] nach Pörnbacher, 1999, S.33). Familiäre Strukturen und Verhaltensweisen haben Einfluss auf und Vorbildfunktion für die eigene Lebensführung und Partnerbeziehung, sowie auf die gesamte Identität, weil ein großer Teil von ihr nach Ebertz (1987, S.36) im häuslichen Kommunikations- und Handlungsumfeld entwickelt wird. Jedoch hat sich der Einfluss der Familie heute gewandelt. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war die Familie als soziale Schutzzone die soziale Institution, in der sich Jugendliche auf die Anforderungen der Systeme außerhalb der Familie vorbereiten konnten.

„Heute steht die Familie neben anderen Bildungs-, Erziehungs-, Konsum- und Freizeiteinrichtungen und erfüllt im Jugendalter nur noch eingeschränkt eine erzieherische und sozialisatorische Funktion. Auch durch das unmittelbare Eindringen der Informations- und Unterhaltungsangebote der Massenmedien wird ihre eigenständige Rolle geschwächt“ (Hurrelmann, 2005, S.9).

Obwohl der Einfluss der Familie heute geringer ist als damals, ist ihre Bedeutung umso höher. 2010 ist die Familie für Jugendliche so wichtig, wie für kaum eine andere Generation: 81% der Mädchen und 71% der Jungen sagen, man brauche eine Familie, um glücklich zu sein (vgl. Leven et al. 2010, S.57). Der „Heimathafen“ des Elternhauses (ebd., S.53) steht einer „rauen See“ gesellschaftlicher Bedingungen gegenüber (vgl. Kapitel 2.2.) und determiniert in großem Maß die Chancen der Jugendlichen.

Eine große Mehrheit von Jugendlichen orientiert sich nach wie vor in ihrer Lebensführung an den eigenen Eltern (vgl. Albert, K., Hurrelmann, K. & Quenzel, G., 2010, S.46). Mutter und Vater werden dabei als die wichtigsten Ratgeber in allen Lebensfragen und als die wichtigsten Rollenmuster, als Vorbilder für die eigene Lebensbewältigung gesehen (vgl. ebd.). Das scheint oft im Widerspruch zu adoleszentem Verhalten zu stehen.

Gleichaltrige (Peers) werden in der Adoleszenz enorm wichtig. Sie haben einen außerordentlichen Einfluss auf die Identitätsentwicklung (vgl. Gudjons, 2003, S.130) und stellen einen wichtigen „Ressourcenfundus“ dar (Keupp et al. 2008, S.153). Mit den in Peergroups („Cliquen“) verwendeten Symbolen und Sprachcodes (Frisuren, Accessoires, Begrüßungsrituale) schaffen sie ein besonderes Zugehörigkeitsgefühl und grenzen sich von der Erwachsenenwelt ab. Der hohe Konformitätsdruck (Kleidung, Rituale) dient gleichzeitig dem Schutz vor Unsicherheiten und Ängsten. Auch soziale Bewegungen ermöglichen eine starke Identifikation und nehmen einen hohen Stellenwert ein (Hitlerjugend, Freiwillige Feuerwehr, „Emos“ oder „Punks“). Zugehörigkeiten zur subkulturellen Szene stellen allerdings häufig nur ein biographisches Durchgangsstadium dar (vgl. Keupp et al. 2008, S.159). Gleichaltrigengruppen prägen Jugendliche immens, auch weit über die Jugendzeit hinaus, z.B. in Lebensstil oder Musikgeschmack (vgl. Oerter & Montada[1987] nach Gudjons, 2003, S.130f).

1.4 Fremdplatzierte Jugendliche

Vielen sind die Begriffe5 fremdplatziert oder fremduntergebracht erst einmal unbekannt. Dabei steckt die Bedeutung bereits in den Wörtern selbst: Von Anderen bei Fremden (also Anderen als leiblichen Eltern) untergebracht werden Kinder und Jugendliche - in Heimen, Pflege- und Adoptivfamilien - wenn die Umstände es erfordern. Gründe dafür können sein: Unfähigkeit zum Aufziehen der eigenen Kinder aufgrund der Lebenssituation, Tod eines oder beider Elternteile, psychische Krankheit, Drogen- oder Alkoholmissbrauch, Missbrauch oder Gewaltausübung der leiblichen Eltern, sozial schwache Lebensumstände, und weitere. Das bedeutet, diese Kinder und Jugendlichen leben nicht bei ihrer Herkunftsfamilie (auch: Ursprungsfamilie). Gravierende rechtliche6, soziale und psychische Unterschiede ergeben sich aus den grob drei verschiedenen Arten (mit zahlreichen Spezifika) der Fremdunterbringung.

Formen der Fremdunterbringung

1. Jugendliche, die adoptiert wurden. (Unterschiede: Als Säugling oder später? Anonym oder nachverfolgbar? Aus der eigenen oder einer fremden Kultur? Von Fremden oder Verwandten?)
2. Jugendliche, die bei Pflegefamilien leben. (Unterschiede: Seit der Geburt oder erst später? Bei der ersten oder einer weiteren Pflegefamilie? Heimaufenthalte zuvor; mehrere?)
3. Jugendliche, die in Heimen leben. (Unterschiede: Seit der Geburt im Heim oder erst ab bestimmtem Alter? Erster Heimaufenthalt oder weiterer? Dabei Heim gewechselt oder dasselbe?)7

Adoptivkinder , die früh (bestenfalls im Säuglingsalter) adoptiert wurden, leben meistens vollintegriert in einer neue Familie. Sie sind dort emotional verwurzelt und sehen ihre Adoptiveltern meistens als ihre „richtigen Eltern“ an. Nach vollzogener Adoption erlöschen Verwandtschaftsverhältnis zu den leiblichen Eltern sowie damit alle Rechte. Dennoch sind und bleiben in ihnen Schmerzen, da sie einmal fortgegeben wurden und Ängste, wieder abgelehnt zu werden (vgl. Wiemann, 1994a, S.170). Die meisten entwickeln irgendwann (im Jugendalter) ein großes Interesse, nach ihren Wurzeln und somit nach ihrer „verschollenen“ Identität zu suchen (vgl. Swientek, 2001a).

Pflegekinder leben in ganz unterschiedlichen Formen der Pflege. Die (wünschenswerterweise) frühvermittelte Vollzeitpflege auf Dauer kommt der Adoption nahe, denn sie ermöglicht eine zufriedene, feste Bindung zwischen Kind und neuer Familie, die ausdrücklich wünschenswert ist (vgl. Wiemann, 1994b, S.19f). Es gibt aber auch Teilzeitpflege und Vollzeitpflege auf Zeit (unterschiedliche Formen siehe ebd., S.15). Besonders belastend ist oftmals bei diesen Formen die Ungewissheit, vielleicht plötzlich der Pflegefamilie wieder entnommen zu werden, um in seine Herkunftsfamilie „zurückplatziert“ zu werden, was bei Pflegeverhältnissen prinzipiell immer angestrebt wird. Kinder in Pflege erleben deshalb oft viele Brüche in Form von mehreren Heimaufenthalten, Phasen in Pflegefamilien und der Herkunftsfamilie8. Obwohl bei der Dauerpflege manche Kinder feste Bindungen zu ihren Pflegeeltern entwickeln, fühlen sich andere ein Leben lang als Außenseiter in der Pflegefamilie. Das liegt auch an der besonderen Lebensform: Pflegeeltern sind nicht identisch mit Eltern, denn sie erfüllen einen Auftrag der Jugendhilfe, bekommen Geld dafür und haben nicht alle Rechte gegenüber ihren Pflegekindern (vgl. Wiemann, 1994b, S.10f). Im Gegensatz zur Adoption, nach der die Verantwortung für das Kind ganz allein bei den Adoptiveltern liegt, ist sie bei Pflegeeltern zusätzlich immer verteilt auf Jugendamt, die leiblichen Eltern oder einen Vormund (vgl. ebd., S.12f).

Heimkinder befinden sich vielleicht in der schwierigsten Form von Fremdplatzierung. Sie können sich (außer in Kinderdörfern) keiner Familie zugehörig fühlen, nur einer Gruppe, was ein bedeutendes Defizit in der seelisch- sozialen Entwicklung ausmacht. Geborgenheit und Zuwendung sind rar, und vielleicht entwickeln sie deswegen am meisten Verhaltensauffälligkeiten und Identitätsprobleme. Nach teilweise diskriminierenden Zuständen und Praktiken in Heimen in den vergangenen fünf Jahrhunderten haben mehrere Reformen bewirkt, dass sich heute pädagogisch ausgebildetes Personal (oft rund vier Betreuer auf zehn Kinder) um Kinder und Jugendliche kümmert und ihnen neben Nahrung und Schlafplatz etwas wie ein Zuhause bietet (vgl. Günder, 2000, S.23).

Aus pädagogischen und finanziellen Gesichtspunkten ist Heimerziehung aber seit den 70er Jahren nur noch eine „Notlösung“. Es wird versucht, durch vorbeugende oder alternative Unterstützungsangebote, wie ambulanten oder teilstationären Erziehungshilfen9, sowie Vermittlungen in Pflegefamilien Heimaufenthalte zu vermeiden. Das zieht leider nach sich, dass in Heimen oft nur der „schwierige Rest“ verbleibt - Schwervermittelbare oder Ältere (ebd., S.23f)10. Deshalb haben Heime und Heimkinder ein negatives Image in der Gesellschaft. Heimkinder gelten als Hochrisikopopulation, als „Außenseiter der Gesellschaft“, Heime als Ballungsräume von Aggression, Machtkampf und „Problemkindern“ (ebd., S.14f). Sie zeigen gehäuft Risikofaktoren und nur wenige Schutzfaktoren. Sie haben zu wenig feinfühlige Fürsorge und Bindung erfahren und sie erlebten Verluste, Beziehungsabbrüche oder traumatische Erfahrungen (vgl. Korrmann & Saur, 2008, S.277). Der gesellschaftliche Nachruf als „Asoziale“ oder „Unruhestifter“ dürfte bei Heimkindern einen gravierenden Einfluss auf ihre Selbstwahrnehmung und Identitätsentwicklung haben.

Zusammengefasst und von jeweiligen „Prototypen“ ausgehend, (denn alle Einzelfälle und Sonderformen sprengen diesen Rahmen) kann gesagt werden, dass Adoptivkinder tendenziell „normal sozialisierte“ Kinder sind, die nur ein schmerzliches „Loch“ in ihrer Vergangenheit haben, dass ihnen bei der Identitätsfindung zusätzliche Schwierigkeiten bereitet. Pflege- und Heimkinder sind meistens die wahren „Problemfälle“ oder „Risikokandidaten“ (sowohl in Bezug auf Verhalten als auch ihre Identitätsentwicklung), die nicht familiär oder bruchhaft sozialisiert sind. Sie haben mehr biografische und emotionale Brüche und Diskontinuität erfahren (ausgenommen Pflegekinder, die seit ihrer Geburt in einer Familie leben und dort gute Beziehungen aufbauen konnten), was zu mehr Konfusionen und Bewältigungsstrategien führt.

2. Identität

Die Bedeutsamkeit des Identitätsgefühls für das eigene Leben zeigt sich in folgendem Satz: „Um ein Ziel zu erreichen, muß man den Kurs festlegen; um dies zu können, muß man seinen genauen Standort kennen“ (Kraus, 2000, S.4).

Heute ist Identität im Vergleich zu früher ein Thema, über das sich jeder mehr oder weniger bewusst Gedanken macht. Wir können selbst wählen, selbst konstruieren und werden sogar dazu genötigt (vgl. Kapitel 2.2.).

Um ein zufriedenes und selbstbestimmtes Leben zu führen, ist es von fundamentaler Bedeutung, dass wir eine genaue Vorstellung davon haben, wer wir sind, wo wir herkommen und was uns im Innersten ausmacht. Die zentrale Frage, wenn es um Identität geht, ist: „Wer bin ich?“. Identität ist existenziell für Orientierung und Verortung in der Welt, für die Einordnung alltäglicher Handlungen und Erfahrungen in eine lebensgeschichtliche Kontinuität (Biografiekonstruktion) und vor allem ist sie Voraussetzung für die Kontroll- und Handlungsfähigkeit von Individuen (vgl. Behringer, 1998, S.49f).

Wenn wir uns über unsere Identität im Unklaren sind, sind wir uns über unser Innerstes unsicher - unsicher über die Grundlage zur Ausgestaltung unseres Lebens. Das kann verwirrend und beängstigend sein, für unsere Lebensführung behindernd und nachteilig.

Die persönliche Identität eines Menschen wird aus vielen Faktoren gespeist. Unterschiedliche Aspekte definieren uns und bestimmen das Gefühl, wer wir sind: 1750: Ich bin James Stuart des Stuart-Clans (bedeutendster Clan Schottlands) (Gene). 1920: Ich bin Hannes, ich bin Tischler (beruflicher und sozialer Status). 2000: Ich bin Sandra, ich gehe jedes Jahr zum Hurricane- Festival (Werte und Einstellungen), 2010: Ich bin Daniel, ich bin schwul (Geschlechterrolle). Diese Identitätsmerkmale sind im jeweiligen Lebenskontext so bedeutsam, dass sie eine gravierende Rolle für die Gesamtidentität spielen.

Was die Identität für uns leistet, sollte bereits deutlich geworden sein. Es bleibt die Frage, wie sie hergestellt wird. Und wie sie sich von anderen, ähnlichen Konzepten unterscheidet.

2.1 Begrifflichkeiten

Die Literatur unterschiedlicher Fachdisziplinen - Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, u.a. - bringt verschiedene Konzepte und Begriffe hervor, die ähnliches wie Identität meinen. Diese sollen nun abgegrenzt und in Beziehung gesetzt werden.

Identität kommt aus dem Lateinischen von „Idem“ und bedeutet „derselbe“ (vgl. Wiemann, 2008). Deshalb bedeutet Identität in den meisten noch so unterschiedlichen Theorien ein „einheitliches, überdauerndes Ganzes“, als das man sich wahrnimmt - die Gewissheit, zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten in unterschiedlichen Kontexten stets dieselbe Person zu sein (vgl. Schneider, 2009, S.34). Selbst die Konstruktivisten postulieren neben aller alltäglichen (Neu-)Konstruktion Kohärenz als Grundlage des Identitätsgefühls.

Nach Ebertz lässt sich Identität in Anlehnung an Lüscher und Wehrspaun (1985) als „(…) die Totalität von Kognitionen , also Kenntnissen, Meinungen, Vorstellungen oder Überzeugungen einer Person von sich selbst verstehen, die diese selbst oder andere verwenden, um ihr Verhältnis zur (sozialen) Umwelt zu bestimmen, ihre Handlungen und Gefühle auf sich selbst zu beziehen und ihre biographische Entwicklung zu erfassen“ (Ebertz, 1987, S.35f). James E. Marcia (1980) definiert Identität als „(…) eine innere, selbstkonstruierte, dynamische Organisation von Trieben, Fähigkeiten, Überzeugungen und individueller Geschichte“ (nach Haußer, 1995, S.3).

Persönlichkeit ist „nur“ die Gesamtheit der psychischen Merkmale eines Menschen (vgl. Haußer, 1995, S.3). Allport (1970) benennt sie folgendermaßen: „Persönlichkeit ist die dynamische Organisation derjenigen psychophysischen Systeme im Individuum, die sein charakteristisches Verhalten und Denken determinieren“ (nach Fisseni, 1998, S.160). Und Fisseni schreibt: „Persönlichkeit lässt sich auffassen als der Inbegriff der einzigartigen Verhaltensweisen eines Menschen…“ (1998, S.5). Darüber hinaus ist Persönlichkeit ein psychologisches Konzept, Identität ein vorwiegend soziologisches (vgl. Schneider, 2009, S.43).

Das Ich hat ebenfalls psychologische Tradition und wird von Blank (1980) als Organisationsprozess verstanden. Es waltet über alle bewussten und unbewussten Prozesse (nach Schneider, 2009, S.42). Es taucht bei Mead auf (Ich und der Andere), bei Sigmund Freud und den Begründern der Ich-Psychologie Anna Freud und Heinz Hartmann. Das Ich gilt an der Außenwelt orientiert, während das Selbst auf die Innenwelt orientiert ist.

Heinz Kohut (1997) versucht in der Selbst-Psychologie das Selbst vom Ich abzugrenzen und nennt das Selbst ein „narzisstisches System der Selbstwertregulation“ (nach Schneider, 2009, S.44). In der Sozialpsychologie ist das Selbst jenes Ich, das über sich reflektiert, wodurch Bewusstsein entsteht (vgl. Schneider, 2009, S. 44). Nach Hohl (2000) meint Identität die Fähigkeit zur Selbstkonstanz und Selbst die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Identität und Selbst setzen ein Ich voraus und für die Identitätsentwicklung ist ein Selbst grundlegend (nach Schneider, 2009, S.46).

In der wissenschaftlichen Diskussion haben sich die Vertreter von Identität und Selbst in zwei Lager gespalten: Auf der einen Seite steht das theoretische, empirisch kaum fassbare Identitätskonzept mit komplexem Charakter, auf der anderen die empirische handhabbare Selbstkonzeptforschung (vgl. Gudjons, 2003, S.133).

Das Selbstkonzept ist auf das Kognitive begrenzt (vgl. Haußer, 1995, S.2) (Kognitionspsychologie), besteht aus sogenannten „Selbst-Schemata“ und enthält folgende Komponenten: persönliche Erinnerungen, Annahmen über unsere Eigenschaften, Fähigkeiten, Werte, Motive, Vorstellung über Ideal-Ich, Selbstwertgefühl, ein antizipiertes Fremdbild (vgl. McGuire & McGuire[1986] nach Schneider, 2009, S.45) und mögliche Selbste (vgl. Markus & Nurius[1986] nach Schneider, 2009, S.45; vgl. Kapitel 2.3.3.). Das Identitätskonzept umfasst nach Kraus hingegen mehr:

„Identität meint mehr als ein bloßes Selbstkonzept. Identität umfaßt ein kohärentes Selbstkonzept, eine Investition in sinnstiftende Ziele und Normen und subjektiv bedeutsame Versuche der Aktualisierung von Vorstellungen über ein ideales Selbst im Sinne einer inneren Verpflichtung (Marcia, 1966). Hinzu kommen zwei weitere Elemente. Das erste ist die Übernahme von moralischen, ästhetischen und evaluativen Prinzipien, die handlungsleitend sind und die ein Bild von der realen Welt, der Gesellschaft und dem Selbst erschaffen. Und schließlich umfaßt Identität auch die Anerkennung der Selbigkeit durch das soziale und kulturelle Milieu. Deswegen sind soziale Rollen bedeutsam für das Identitätsgefühl der Individuen: Sie stellen die Übereinstimmung von Selbst- und Fremdwahrnehmung her“ (Kraus, 2000, S.124f).

Die genannten Begriffe Identität, Kohärenz und Rolle ordnet Peter Schwab folgendermaßen:

„Wollte man Kohärenz, Identität und Rolle in eine (hierarchische) Ordnung bringen, stünde an der Spitze ‚Kohärenz‘ als eine übergeordnete, auf Sinnhaftigkeit und Stabilität ausgerichtete, psychologische Grundhaltung, gefolgt von einer Einzigartigkeit und Konstanz repräsentierenden ‚Identität‘ und den wandlungs- und anpassungsfähigen ‚sozialen Rollen‘“ (Schwab, 2009, S.159).

Identität wurde oben bereits benannt, die (Soziale) Rolle wird in Kapitel 2.3.2. verständlich. Wenn vorübergehende Identitätsdiffusionen (oder -krisen) auftreten, das Identitätsgefühl also vorübergehend verloren scheint, kann es sein, dass manche „Rollen“ oder „Aspekte“ noch nicht in das Leben integriert werden können (Bin ich nun tatsächlich Mutter? Single? Witwe? Heimkind?) (vgl. Schneider, 2009, S.40). Solche vorübergehenden Integrationsschwierigkeiten sind nicht „schlimm“, sofern eine grundlegende Kohärenz vorhanden ist.

Diesen Begriff entwickelte Aaron Antonovsky im Rahmen seines Salutogenesekonzepts. Heute hat die Kohärenz (auch „SOC“=“sense of coherence“ = Gefühl der Kohärenz) einen zentralen Platz in fast allen Theorien und Diskussionen, die sich mit Identität, Biografie und Narrationen beschäftigen. Kohärenz ist etwas, das man den stabilen, invarianten Kern von Identität nennen könnte und ist sowohl für diese sowie für die Gesundheit von großer Bedeutung. Sie ist etwas Überdauerndes, eine tief verwurzelte, stabile Disposition einer Person, auf das das Selbst besonders dann zurückgreifen kann, wenn es sich im Wandel befindet (vgl. Schwab, 2009, S.159). Es ist ungefähr folgendes Gefühl: „Ich bin heute der, der ich gestern war und werde es auch morgen noch sein, unabhängig davon, ob neue Rollen oder Selbstaspekte hinzukommen.“

Zum Gefühl von Kohärenz tragen drei Komponenten bei: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit11 (vgl. Antonovsky, 1997, S.33ff). Man kann Dinge einordnen, verstehen, hat sie „im Griff“ und weiß um deren Sinn. Zur Ausbildung des Kohärenzgefühls tragen zahlreiche Bedingungen entlang der Entwicklung bei: Kindheit, soziale Klasse, Jugendalter, Geschlecht, aber auch Herkunft, Hautfarbe, etc. Einschneidende Veränderungen im Leben eines Menschen können Identitätskrisen hervorrufen und Menschen aus der Bahn werfen. Das Kohärenzgefühl scheint verloren, kann jedoch meist nach einiger Zeit wiederhergestellt werden (vgl. ebd., S.118). Manchmal benötigen Menschen dazu auch Unterstützung (siehe Kapitel 3.).

Abschließend sei angemerkt, dass selbst in der Fachliteratur die Begriffe und Konzepte teilweise uneindeutig und vor allem uneinheitlich abgegrenzt werden.

2.2 Gesellschaftliche Bedingungen individueller Identität

Identitätsentwicklung ein Jugendthema?

Die Aufgaben der Lebensphase Jugend, insbesondere auch die der Identitätsentwicklung, werden durch die modernen Individualisierungsten- denzen ins Wanken gebracht. Früher war diese Zeit durch mehr oder weniger vorgezeichnete Übergänge gekennzeichnet: von Schule zu Beruf, Auszug aus dem Elternhaus und Heirat sowie psychische und soziale Ablösung vom Elternhaus, Aufnahme heterosexueller Partnerbeziehungen, soziale Verantwortungsbereit- schaft, Aufbau eines eigenen Normen- und Wertesystems sowie eines politischen und ethischen Bewusstseins. Die Phase war geprägt durch Individuation als auch Integration als Gesellschaftsmitglied.

Heute gibt es zunehmend individuell verlaufende Übergangsprozesse und veränderte Abfolgen, was es schwieriger für den einzelnen macht. Bei all diesen Entwicklungsaufgaben gibt es erhöhte Freiräume, zunehmende Chancen und neben Emanzipation, Orientierungslosigkeit, Verlust von Basissicherheiten, Auflösung kollektiver Zusammenhänge und institutioneller Zwänge (vgl. Pörnbacher, 1999; Keupp et al. 2008; Kraus, 2000). Wo in dieser Gesellschaft bereits „normale“ Jugendliche Schwierigkeiten bei der Entwicklung ihrer Identität haben, besteht für Jugendliche mit schwierigen biografischen Hintergründen eine noch größere Gefahr einer „Identitätsdiffusion“. Das betrifft nach heutiger Auffassung aber nicht mehr nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene. Es besteht Einigkeit, dass die heutigen gesellschaftlichen Bedingungen dem Subjekt höchste Flexibilität (vgl. Keupp et al. 2008; Kraus, 2000) und Kreativität als Kernbedingung für Erfolg und Lebenszufriedenheit (vgl. Kruse, 1997, S.17f) abverlangen.

„Identitätsentwicklung ist nicht einfach der Vollzug eines biologischen Programms“ schreiben Keupp et al. (2008, S.70). Identität ist ein Entwicklungsprozess, der eng damit zusammenhängt, wie in einer bestimmten gesellschaftlichen Epoche die personale Entwicklung verläuft und gedacht wird. Damit wird Identität nicht nur zu einem persönlichen und sozialen, sondern ebenfalls einem soziologischen und philosophischen Thema (vgl. ebd.).

Identität und Biografie als „ neue Themen “

So alt das Thema Identität ist, ist es vielleicht aktueller denn je, denn erst die sogenannte Moderne hat Identität als Diskussionsthema überhaupt erforderlich gemacht. „Es wird deshalb soviel von Identität gesprochen und geschrieben, weil innerhalb der gesellschaftlichen Durchschnittserfahrung nicht mehr selbstverständlich ist, was Identität ausmacht“ (Keupp et al. 2008, S.8).

In der vorangegangenen Epoche, der Vormoderne, war Identität hingegen, so schreibt Kellner, „(…) eine Funktion von festgelegten Rollen und eines traditionalen Systems von Mythen, die Orientierung und religiöse Sanktion boten… Identität war unproblematisch und nicht Gegenstand von Reflexion oder Diskussion. Individuen durchlebten keine Identitätskrisen, noch änderten sie radikal ihre Identität“ (Kellner[1992] nach Keupp et al. 2008, S.70f).

Auch mit dem „modernen Phänomen“ Biografie (Alheit, 2006, S.4) haben sich Menschen vor 150 Jahren noch nicht auseinandergesetzt. Dadurch, dass das Leben theoretisch jederzeit hätte zu Ende sein können - die Sterblichkeitswahrscheinlichkeit lag in jedem Alter bei 50% - hatten die Menschen wesentlich weniger als heute das Gefühl, ihr Leben in der Hand zu haben, und damit Subjekte der eigenen Biografie zu sein und das Leben planen zu können (vgl. ebd., S.4f).

Eine postmoderne Gesellschaft

Die Gesellschaft ist nicht mehr so geradlinig und wohlorganisiert, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten war. „Sie (die Moderne [J.M]) ist im Gegenteil geprägt von komplexen sozialen Prozessen der Entwurzelung und Wiederverwurzelung , des Herauslösens der Subjekte aus sozialen Praxen und Zusammenhängen sowie ihrer Einbindung in neu entstehende“ (Keupp et al. 2008, S.72).

„Auf uns stürmt eine ungeheuer schnell wachsende Vielfalt von Wünschen, Optionen, Gelegenheiten, Verpflichtungen und Werten ein. Und wir müssen damit leben, daß vieles von dem höchst widersprüchlich ist“ (Gergen[1994] nach Keupp et al. 2008, S.49). Dieses Zitat ist eine gelungene Zusammenfassung dessen, was der Mensch heute zu bewältigen hat. Denn: „Die Basisselbstverständlichkeiten unserer gesellschaftlichen Normalitätserwartungen stehen immer mehr in Frage“ (Keupp et al. 2008, S.35). Vorgegebene Muster, nach denen Menschen sich entwerfen und verwirklichen, existieren kaum noch, alles ist individualisiert . „Die noch eine Generation früher geteilten Vorstellungen von Erziehung, Sexualität, Gesundheit, Geschlechter- oder Generationenbeziehung verlieren den Charakter des Selbstverständlichen“ (ebd., S.47). Neben der Individualisierung haben wir heute auch mit Pluralisierung, Globalisierung, Flexibilisierung und Virtualisierung zu tun, die insgesamt das Leben komplizierter machen.

„Im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen Werte, Lebens- und Rollenaufgaben über verbindliche Traditionen vorgegeben waren, die es deutlich machten, ‚wer ich bin‘, und ‚wer ich zu sein habe‘, gibt es für uns heute viel weniger Orientierung. Werte und Normen, Geschlechterrollen, Arbeits- oder Familienverhältnisse, sowie Biographien sind uneindeutiger, komplexer und vielfältiger oder auch brüchiger geworden, und lassen keine langfristig sinnvollen Identitätsentwürfe mehr zu“ (Keupp[1999] nach Schneider, 2009, S.69). „Wo Tradition verschwindet, muß neu geschaffen und improvisiert werden“ (Kruse, 1997a, S.17). Auch das Verständnis der Geschlechterverhältnisse hat sich gewandelt (vgl. Keupp et al. 2008, S.132) und ist nicht mehr eindeutig, mehr individuell, aber prinzipiell gleichberechtigt. Was beinhaltet heute die Rolle einer Frau? Muss ein Mann neuerdings auch kochen und die Kinder hüten können?

Der Verfall von allgemeingültigen Werten und Normen und der Bruch mit Basisannahmen (Familie, Soziales, Status Erwerbstätigkeit) sowie der Verlust des Glaubens an gesellschaftliche „Meta-Erzählungen“ erzeugt einen „individualisierten Sinn-Bastler“, denn traditionelle Instanzen der Sinnvermittlung verlieren an Bedeutung (vgl. Keupp et al. 2008, S.52). Und dennoch gibt es neue Meta-Erzählungen, die „(…) eher in Form von Produktversprechen und Werbung oder in den in endlosen Serien und Soapoperas vermittelten Lebensstilpaketen auf(tauchen [J.M.])“ (ebd., S.187f). Das ist der Hintergrund, auf dem Menschen (und speziell Jugendliche) heutzutage ihre Identitätsentwürfe bilden, Identitätsentscheidungen treffen und deren Gelingen oder Scheitern auch daran beurteilen.

Modernisierung bedeutet die Ausweitung von Wahlmöglichkeiten und damit die Chance auf Realisierung eines eigenen Stück Lebens, was früher nicht möglich war. Damit ist das Individuum heutzutage aber auch zunehmend gen ö tigt , permanent Schöpfer seines eigenen Lebens zu sein, permanent aktives Subjekt zu sein. Kraus nennt die heutige Gesellschaft eine, „(…) die Möglichkeitsräume eröffnet, aber Strukturierungshilfen verweigert“ (2000, S.141). Auch Kruse (1997a, S.17), Gudjons (2003, S.138) und Alheit (2006, S.6) nennen es einen Zwang zu kreativer Lebens- und Selbstgestaltung.

„Subjekte erleben sich als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne daß ihnen fertige Drehbücher geliefert würden. Genau in dieser Grunderfahrung wird die Ambivalenz der aktuellen Lebensverhältnisse spürbar. Es klingt natürlich für Subjekte verheißungsvoll, wenn ihnen vermittelt wird, daß sie ihre Drehbücher selbst schreiben dürften, ein Stück eigenes Leben entwerfen, inszenieren und realisieren könnten. Die Voraussetzungen dafür, daß diese Chancen auch realisiert werden können, sind allerdings bedeutend. Die erforderlichen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen sind oft nicht vorhanden, und dann wird die gesellschaftliche Notwendigkeit und Norm der Selbstgestaltung zu einer schwer erträglichen Aufgabe, der man sich gern entziehen möchte. Die Aufforderung, sich selbstbewußt zu inszenieren, hat ohne Zugang zu den erforderlichen Ressourcen etwas Zynisches“ (Keupp et al. 2008, S.53).

Die Postmoderne bringt auch mit sich, dass wir nicht mehr wie vor rund 100 Jahren die Möglichkeit haben, Geschichten zu erzählen (vgl. Day, 1999, S.96). Wir leiden heute unter einem „Verlust gemeinschaftlicher Orte“, an denen man miteinander sprechen kann und gehört wird, was uns die Chance vorenthält, gemeinschaftliche kathartische Erfahrungen zu machen, die so wichtig und menschlich sind. Diese Entfremdung ist ein Angriff auf unsere Menschlichkeit. „Täglich spielen sich die am weitesten verbreiteten kathartischen Erfahrungen unserer Tage in der enthumanisierten und körperlosen Arena der Informationsmedien und elektronischen Technologien ab. In Einsamkeit und Dunkelheit machen wir unsere Erfahrungen jeder für sich allein und verstecken unsere Reaktionen voreinander“ (ebd., S.96f). Auf diesen Trend reagiert Playback Theater (siehe Kapitel 5.).

2.3 Identitätstheorien

Keupp et al. schreiben: Bei der Identitätsentwicklung geht es im Wesentlichen darum „(…) seinen eigenen authentischen Lebenssinn zu finden“ (2008, S.19). Fend nennt es, sich eigenständig und selbstverantwortlich um einen „Kern“ zu organisieren (2003, S.402). So einfach dies klingt, so vielschichtig und teilweise widersprüchlich sind Identitätstheorien im Wandel der Zeit. Innerhalb dieser Arbeit soll es genügen, die wichtigsten Positionen kurz darzustellen und abschließend zusammenzufassen, was für die weiteren Inhalte der Arbeit von Bedeutung sein wird.

2.3.1. Identitätsentwicklung in Phasen

Für die klassische Vorstellung der Entwicklung von Identität ist der Psychoanalytiker Erik Erikson verantwortlich. Heutzutage ist sein Modell zwar überholt und dennoch kommt man an ihm nicht vorbei, wenn man sich mit Identität beschäftigt.

In den 50er Jahren kombiniert Erikson eine Entwicklungstheorie der Identität mit einer Sozialisationstheorie und postulierte daraus ein Stufenmodell, bei dem in verschiedenen Altersstufen unterschiedliche Entwicklungsaufgaben bearbeitet und gelöst werden müssen. Die psychosoziale Entwicklung begreift er dabei als Wachstumsprozess auf der Basis von Konflikten, die nacheinander bewältigt werden (vgl. Hölzle, 2009a, S.36). In der zentralen Phase der Adoleszenz sind Identität und Rollendiffusion die zentralen Entwicklungsthemen. „Der Teenager verfeinert sein Selbstbild durch Erproben verschiedener Rollen, die dann integriert werden und die Identität bilden, oder er gerät in Verwirrung und weiß nicht, wer er ist“ (ebd., S.37). Erikson unterscheidet grundlegend zwischen einer gelungenen (stabilen) und einer gescheiterten (diffusen) Identität. Nach dem adäquaten Durchlaufen des kontinuierlichen Stufenmodells hat das Subjekt (wenn es „gut geht“) einen „stabilen Kern“ ausgebildet, ein „inneres Kapital“, dass ihm eine erfolgreiche Lebensbewältigung sichert (vgl. Keupp et al. 2008, S.29). Besonders diese Vorstellung hat später große Kritik auf sich gezogen. Dabei ist mit dem stabilen Kern Kontinuität gemeint:

„Das Gefühl der Ich-Kontinuität ist also das angesammelte Vertrauen darauf, dass der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten“ (Erikson[1973] nach Schneider, 2009, S.61).

2.3.2. Identität durch soziale Interaktion

Der „symbolische Interaktionismus“, ist eine soziologische Identitätstheorie - eher unter Sozialisation als Entwicklungspsychologie einzuordnen - (auch „Theorie des Selbst“) von George Herbert Mead.

Sie geht davon aus, dass die Identität eines Menschen nicht von Geburt an vorhanden ist. Sie entsteht erst innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs-, Tätigkeits- und Kommunikationsprozesses des jeweiligen Individuums, also durch Interaktion (vgl. Tillmann[2001] nach Pyerin, 2005b, S.1). Ohne Sprache und Interaktion kann der Mensch keine Identität aufbauen (vgl. ebd., S.4). Dabei wird das Subjekt als frei und verantwortlich handelnder Schöpfer seiner Umwelt (vgl. Pyerin, 2005b, S.1) aufgefasst.

Über Symbole, die sowohl Rollenerwartungen als auch Reaktionsbereitschaften beinhalten, interagiert der Mensch mit anderen. Grundvoraussetzung ist eine Perspektivübernahmefähigkeit, durch die Ego die Handlungs- und Rollenerwartung von Alter an sich antizipieren kann. Durch diese Interpretation der Sichtweise und Erwartung des Anderen und das dementsprechende Handeln übernehmen wir Rollen („role-taking“) - aber bringen gleichzeitig unseren eigenen Identitätsentwurf in unsere Rolle mit ein („role-making“) (vgl. Pyerin, 2005b, S.2f). Rollen werden so im Kommunikationsprozess ausgehandelt .

Bei diesem Aushandlungsprozess wird eine prinzipielle Gleichberechtigung und - wertigkeit der Interaktionspartner postuliert. Diese Interpretations- und Handlungsspielräume sind allerdings nicht in allen Kontexten gleichwertig und gleich groß. Auf einer Party sind sie für (fast) alle gleichermaßen groß, in der Schule oder einem Erziehungsheim geringer und in Gefängnis oder Psychiatrie nur noch minimal gegeben (vgl. ebd., S.5).

Mead unterteilt das Selbst eines Menschen in zwei „Teile“: Das Ich, das sich so sieht, wie andere es sehen (als Objekt, von außen; der verinnerlichte andere, verinnerlichte Rollenerwartungen ) nennt Mead „me“ und das Ich, das von innen als Subjekt spontan empfindet, nennt er „I“. Durch die permanente innere Auseinandersetzung des „I“ mit dem „me“, entwickeln wir unsere Identität. Sie entsteht aus dem Zusammenspiel dieser beiden psychischen Komponenten (vgl. Pyerin, 2005b, S.8) auf Grundlage der Interaktion oder „wenn der Einzelne sich im Kommunikationsprozess mit den Augen des anderen zu sehen vermag und auf diese Weise ein Bild von sich selbst entwickelt. Der Interaktionsprozess ist damit die gesellschaftliche Grundvoraussetzung dafür, dass Identität überhaupt entstehen kann“ (Tillmann,[2001] nach Pyerin, 2005b, S.8). Bereits Martin Buber sagte 1963 „der Mensch wird am Du zum Ich“ (nach Schneider, 2009, S.35).

Goffmann (1967) unterscheidet in Erweiterung zu Mead die Identität in zwei Dimensionen. Die personale Identität interpretiert sich aus der Biografie (Einzigartigkeit: besondere Kennzeichen, biografische Fakten) und die soziale Identität (Vorstellungen, Erwartungen) aus der aktuellen Situation mit anderen. Die Balance von beiden ergibt eine Ich-Identität (vgl. Tillmann[2001] nach Pyerin, 2005b, S.8).

„Auf der Ebene der sozialen Identität wird dabei vom Individuum verlangt, sich an normierten Verhaltenserwartungen zu orientieren: Der Handelnde soll sein wie jeder andere. Auf der Ebene der personalen Identität wird von dem Individuum verlangt, sich als unverwechselbar und einmalig darzustellen: Es soll sein wie kein anderer“ (ebd., S.9). Die Ich-Identität wird immer wieder neu ausbalanciert, dadurch dass in eine aktuelle Interaktion (soziale Identität) die biografische Dimension mit eingebracht wird. In deren Verlauf (den Erfahrungen von Kindheit, Eltern, Familie, Schule, Studium, Heirat, usw.) wird die eigene Identität immer wieder uminterpretiert und weiterentwickelt (vgl. ebd.).

Grundqualifikationen für das Rollenhandeln (und somit die Bildung von Identität) sind Sprachkompetenz, Perspektivübernahmefähigkeit und Empathie (im Sinne der kognitiven Fähigkeit sich einfühlen zu können). Je stärker diese vorhanden sind, „(…) desto eher sind wir in der Lage, unsere Identität auch unter schwierigen Bedingungen zu wahren“ (Pyerin, 2005b, S.10). Habermas (1968) nennt als Grundqualifikationen Frustrationstoleranz12, Ambiguitätstoleranz13 und Rollendistanz, Krappmann (1971) Ambiguitätstoleranz, Rollendistanz, Empathie und Identitätsdarstellung (nach Pyerin, 2005b, S.10).

In den interaktionistischen Sozialisationstheorien hat Spiel einen wichtigen Stellenwert. Nicht nur für Kinder, auch für Jugendliche und Erwachsene kann es wichtiges Sozialisationsmedium sein und zur Wahrung sowie Weiterentwicklung der Identität beitragen. Es ist zentrales Element bei der Findung, Ausbalancierung und Stabilisierung der Ich-Identität (vgl. Pyerin, 2005b, S.12ff). „Durch das Spiel lernen Kinder, Balance zu halten ‚zwischen der Übernahme der Erwartungshaltung anderer (soziale Identität) und der Ausprägung ihrer eigenen Unverwechselbarkeit (personale Identität)“ (ebd., S.14). Durch das So-tun-als-ob lernt das Kind, die Perspektive anderer zu übernehmen, gemeinsame Perspektiven zu entwickeln und seine eigene Perspektive davon abzugrenzen. Es lernt auch, sich durch die Brille von anderen zu sehen. Außerdem werden Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz und Empathie bei der Spieltätigkeit sowohl gefordert als auch weiterentwickelt (Heimlich[1993] nach Pyerin, 2005b, S.14).

[...]


1 In Anhang IV befindet sich eine selbst gestaltete Abbildung (inklusive „Legende“), die den „roten Faden“ dieser Arbeit symbolisch darstellt.

2 Vgl. dazu auch Jansen, 2009b, S.67

3 Risiko- und Schutzfaktoren beziehen sich auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, da sie den gesamten Entwicklungsverlauf betreffen und nicht nur den der Adoleszenz.

4 Pers ö nliche Erfahrung : Ich war bereits dabei, meinen Identitäts-Teil „Müll- und Sperrmüllsammlerin“ allmählich aus mir zu verbannen, da er von manchen Freunden nicht begrüßt wurde. Als ich aber eines Tages ein nur aus in der Altkleidersammlung gefundenen Kleidern zusammengestelltes „Outfit“ trug, mein Vater es musterte und auf das ansehnliche Resultat hin sagte „Das hast du aus dem Sperrmüll? Kind, ich bin stolz auf dich!“, beschloss ich zufrieden, diesen Teil doch vorerst zu behalten und mich mit ihm zu identifizieren.

5 Die Zielgruppe dieser Arbeit sind explizit Jugendliche. Im Kontext der Fremdplatzierung lassen sich Kinder und Jugendliche jedoch schwer trennen, da meistens Kinder fremdplatziert werden, die innerhalb der Fremdplatzierung zu Jugendlichen heranreifen. Einen Großteil der allgemeinen Probleme haben sowohl Kinder als auch Jugendliche. Daher verwende ich „Kinder“ als Überbegriff für Kinder und Jugendliche. An den Stellen, die ausdrücklich das Jugendalter betreffen, wird auch von „Jugendlichen“ geschrieben.

6 Innerhalb dieser Arbeit finden rechtliche Unterschiede aus Platzgründen keine weitere Erwähnung.

7 In dieser Arbeit beziehe ich mich ausschließlich auf diese drei Formen von fremdplatzierten Jugendlichen, die nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie leben. Dennoch halte ich das in dieser Arbeit beschriebene methodische Vorgehen zur Identitätsentwicklungsunterstützung auch für Jugendliche, die die in Patchworkfamilien oder Stieffamilien (also nicht in ihrer intakten Herkunftsfamilie, aber dabei meist mit noch mindestens einem Elternteil zusammen) leben, für ähnlich sinnvoll (vgl. auch Lattschar & Wiemann, 2011, S.39ff).

8 Der elfjährige Klaus brachte deutlich zum Ausdruck, wie wenig Lust er nach einigem Hin- und Her hatte, wieder in eine neue Pflegefamilie „gesteckt“ zu werden: Er hinterließ bei einem Vorstellungswochenende bei der neuen Pflegefamilie einen Haufen im Kühlschrank (Bsp. vgl. Wiemann, 1994b, S.126)!

9 Über die vielfältigen Angebote - von betreutem Wohnen und Tages- und Wohngruppen, über Erziehungsberatung und -beistand sowie sozialpädagogischer Familienhilfe - liefert Günder (2000) ausführliche Informationen.

10 In Großbritannien wurden bereits mehr Bemühungen um sogenannte „Schwervermittelbare“ unternommen als in Deutschland: Sie werden in Fernsehen oder Rundfunk vorgestellt und behinderte Kinder mit Foto und Kurzbeschreibung in Katalogen erfasst, die an 400 Orten ausliegen. Davon konnte eine erhebliche Anzahl innerhalb weniger Jahre in Adoptivfamilien vermittelt werden (vgl. Hall[1986] nach Textor, 1993, S.162).

11 Der Originalbegriff lautet „Meaningfulness“. In Antonovsky (1997) übersetzen Alexa Franke und Nicola Schulte es mit „Bedeutsamkeit“, ebenso Kormann & Saur (2008). Andere Autoren, bspw. Hölzle, 2009a, übersetzen es mit „Sinnhaftigkeit“. Laut Langenscheidts Wörterbuch ist beides korrekt. Da die beiden Begriffe jedoch eine gravierend unterschiedliche Bedeutung haben, wird im Folgenden je nach Bedeutungszusammenhang einer von beiden gewählt oder aber der englische Begriff verwendet.

12 Die Rollenerwartung weicht von den individuellen Bedürfnissen ab, dennoch wird die Interaktion aufrecht erhalten (vgl. Tillmann[2001] nach Pyerin, 2005b, S.10)

13 Rollenerwartungen und die Rolleninterpretation bzw. das tatsächliche Handeln sind nicht deckungsgleich. A. meint die „Fähigkeit, Unklarheiten und Ambivalenzen zu ertragen und dennoch handlungsfähig zu bleiben“ (Tillmann[2001] nach Pyerin, 2005b, S.11).

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Playback Theater im Zentrum der Biografiearbeit mit fremdplatzierten Jugendlichen
Hochschule
Hochschule Zittau/Görlitz; Standort Görlitz
Veranstaltung
Kommunikationspsychologie/ Aesthetische Kommunikation/ Sozialarbeit/ Theaterwissenschaft
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
105
Katalognummer
V229525
ISBN (eBook)
9783656445999
ISBN (Buch)
9783656446064
Dateigröße
1027 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
107 pages
Schlagworte
playback, theater, biografiearbeit, playbacktheater, Theaterpädagogik, Improvisationstheater, Improtheater, Pflegekinder, Fremdplatziert, Jugendliche, Jugendarbeit, Improvisationsspiele, Theaterspiele, Jonathan Fox, Jo Salas, Kreatives Schreiben, Biografie Arbeit, Arbeit mit Jugendlichen, Heimkinder, Adoptivkinder
Arbeit zitieren
Janina Mau (Autor:in), 2011, Playback Theater im Zentrum der Biografiearbeit mit fremdplatzierten Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/229525

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