Der Umgang mit Stasi-Verstrickung im Kontext von CVJM und Kirche

Eine theologisch-ethische Auseinandersetzung anhand der Beispiele Chemnitz und Gera


Term Paper, 1995

15 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhalt

Vorbemerkungen

Zahlen und Fakten an zwei Beispielen

Die IM im Bereich der Kirche

Die Konspiration

Schuld

Aufarbeitung

Vergebung und Versöhnung?

Verzeichnis der verwendeten Literatur

Vorbemerkungen

Dieser Text wurde schon im Jahr 1995 geschrieben und diese Ausgabe gekürzt und etwas überarbeitet. Damals war das Thema sicher aktueller und brennender als heute. Allerdings bietet sich jetzt, fast 25 Jahre nach dem Mauerfall, wohl eher die Chance, dieses Kapitel unserer Vergangenheit etwas weniger emotionsgeladen zu betrachten. Wenn heute über die DDR gesprochen wird, wird häufig entweder pauschal verurteilt oder pauschal beschönigt. Ähnlich ist es auch beim Verhältnis von Kirche und Staatssicherheitsdienst. Ich denke, es ist wichtig, einen Weg zu finden, sich sachlich mit der Problematik auseinanderzusetzen ohne die Verletzungen und Gefühle zu übergehen - einen Weg der weder Sündenböcke markiert noch einfach "Schwamm drüber" sagt. „Um die Gegenwart zu bewältigen müssen wir mit der Vergangenheit ins Reine kommen."[1]

Zahlen und Fakten an zwei Beispielen

Im Stadtgebiet Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) gab es 20 Kirchgemeinden mit insgesamt 30 Pfarrern und 2 Superintendenten. In der Abteilung XX/4 des MfS (zuständig für Kirchen und Religionsgemeinschaften) waren 1989 elf hauptamtliche Mitarbeiter (Führungsoffiziere) beschäftigt. Diese "betreuten" 88 IM und 22 konspirative Wohnungen (für Treffs mit den IM). Es ist in etwa davon auszugehen, dass sich die 88 IM durchschnittlich ein Mal monatlich mit ihren Führungsoffizieren trafen sowie 3-4 Berichte/Informationen lieferten.[2] Man kann also sagen, dass auf jede Kirchgemeinde von K.-M.-Stadt etwa 4-5 IM fallen, so dass in wohl jedem Kirchenvorstand ein Informant war. Übergemeindliche Veranstaltungen, die kirchliche Friedensarbeit und die offene Jugendarbeit wurden besonders überwacht, teilweise auch beeinflusst. "Die Präsenz der Mitarbeiter der Staatssicherheit war eigentlich immer spürbar."[3]

"1976 konnte der Referatsleiter XX/4 der Bezirksverwaltung Gera sagen: Im Landeskirchenamt haben wir die Mehrheit. Die Strategie des MfS wird deutlich: Es soll Einfluss auf Entscheidungsgremien genommen werden, und zwar durch die Entscheidungsträger selbst."[4] So konnte das MfS indirekt u.a. dafür sorgen, dass unliebsame Leute durch innerkirchliche Disziplinarmaßnahmen bedrängt oder sogar aus dem Amt gedrängt wurden[5] und konnte kirchliche Entscheidungen beeinflussen. Je höher in der Kirchenhierarchie, desto dichter die IM-Quote.[6]

Diese exemplarischen Zahlen deuten an, dass die Verbindungen des MfS innerhalb der Kirche durchaus erschreckende Ausmaße hatten. Aber sie zeigen auch, dass die Arbeit der Kirche dem MfS gefährlich erschien, dass die Kirche demnach nicht staatsdienend und angepasst war. Die Stasi hat ihr Ziel, die kirchliche Arbeit zu steuern, nicht erreicht. Die Kirche war wohl die einzige ernst zu nehmende eigenständige Kraft in der ehemaligen DDR und als solche natürlich von besonderem Interesse für das MfS.

Die IM im Bereich der Kirche

Ein ehemaliger IM beschreibt seine Aufgaben als Informant so:"Ich war acht Jahre bei der evangelischen Kirche tätig. Das MfS wollte von mir Infos über kirchliche Veranstaltungen, aber auch über kirchliche Mitarbeiter, zum Beispiel, welche Laster diese Leute hatten, ich meine Alkoholprobleme, wie die Ehe ging, sexuelle Fehltritte usw. Laster interessierten am meisten." Bei kirchlichen Veranstaltungen "wollte das MfS Stimmungsberichte, wollte wissen, wer da war und wie politisch diskutiert wurde."[7] Man kann sagen, dass die IM die wichtigste Informationsquelle des MfS waren, da sie am nächsten an der Basis waren und mit vielen interessierenden Personen in einem Vertrauensverhältnis standen.

Der IM war in den meisten Fällen nicht ein besonders bösartiger und weit entfernter hinterhältiger Spitzel, sondern ganz oft ein naher Bekannter, Mitstreiter oder sogar Freund. Dies machte eine Aufarbeitung besonders schwer, aber auch besonders wichtig. Die Motive, mit dem MfS zu sprechen, erscheinen in den meisten Fällen nicht einmal verwerflich: da ging es um Harmoniebedürfnis der Kirche mit dem Staat; das Motiv, anderen zu helfen; kirchliche Bauvorhaben zu verwirklichen; das Interesse an Reisemöglichkeiten; das Ansehen der Kirche bei der Bevölkerung und beim Staat; eine gewisse Naivität und Gutgläubigkeit[8] „bis hin zu einem Menschen, der für eine bestimmte Zeit einfach nicht nein sagen konnte, aber eigentlich für die Stasi keinen großen Nutzen hatte..."[9]. Manche potentielle IM wurden auch erpresst aufgrund einer "Torheit, einem Devisenschmuggel z.B. oder einer außerehelichen Männertorheit"[10]. Informationen darüber wurden häufig durch andere IM übermittelt. Manche IM waren auch von der Richtigkeit des Sozialismus derartig überzeugt, dass sie eine Zusammenarbeit beinahe für ihre Pflicht hielten. Nur selten spielten Geld, niedere Beweggründe oder größere persönliche Vorteile eine wichtige Rolle. Zumindest für den Raum der Kirchen kann das ausgesagt werden. Es muss noch angemerkt werden, dass manchmal auch ohne irgendwelche Zusammenarbeitserklärungen der Betroffenen eine IM-Akte angelegt werden konnte. Ein Beispiel dafür ist der damalige Karl-Marx-Städter Studentenpfarrer Vogel, der als "Operativer Vorgang" (OV) Wandler intensiv observiert wurde.

Ein ganz wichtiges, hintergründiges Motiv für Zusammenarbeit ist oben noch nicht genannt: ein Minderwertigkeitsgefühl, dass man auszugleichen suchte "Ich werde ein bisschen wichtiger, wenn ich mit diesen bösen Leuten rede"[11] Ich glaube, dies ist ein sehr wesentlicher Punkt. An dieser Stelle müssen wir uns die Frage stellen, wie es kommen konnte, dass Menschen, die uns selbst persönlich sehr nahe standen, die in unseren Kirchen waren, das notwendig hatten. Warum konnten wir ihnen keinen Halt geben? Und wieso ausgerechnet das MfS?

Die Konspiration

Der Begriff "IM" war den meisten Informanten unbekannt. Seit den 50er Jahren wurde im kirchlichen Bereich auch häufig auf eine schriftliche Verpflichtungserklärung verzichtet. "Kein IM hat einen Treffbericht oder das, was das MfS in Wirklichkeit plante, zu sehen bekommen"[12] Die Menschen fühlten sich also nie direkt beteiligt, sondern lebten in einem gewissen "Zwischenzustand". Sie konnten sich selbst gegenüber immer sagen, dass sie gar nichts Böses getan hätten und niemandem direkt schaden würden. Die Führungsleute des MfS waren angehalten, "ein kameradschaftliches, vertrauensvolles Verhältnis zwischen IM und Mitarbeiter zu schaffen [und zu sehen,] wie sie durch ein kluges psychologisch-pädagogisches Vorgehen enger an das MfS gebunden werden können"[13] Dazu gehörte z.B. "bei den IM begründete Erfolgserlebnisse hervorzurufen, die ideenreiche Erläuterung der besonderen Bedeutsamkeit der zu lösenden Aufgabe, die Vorbereitung kleiner Aufmerksamkeiten für Anlässe, die die IM persönlich als bedeutsam empfinden, die Gewährleistung von Hilfe und Unterstützung für die IM in komplizierten persönlichen Angelegenheiten u.ä."[14] Die MfS-Leute haben sich also regelrecht um ihre Informanten „gekümmert“. Die Aufgaben wurden auch nicht etwa als Dienstanweisungen erteilt, sondern im Gespräch "verinnerlicht". Es herrschte bei den Treffs vermutlich meist eine angenehme und verständnisvolle Atmosphäre. "Hier ist eine Verbindung mit dem Apparat passiert, ohne dass die Menschen dies richtig gemerkt haben, eine Loyalitätsänderung, eine Bindungsänderung. Das erste Gebot steht im Raume."[15] Immer wieder ist in den Akten von einer "engen Bindung an unser Organ" zu lesen und auch Sätze wie "war stets ehrlich und zuverlässig und beachtete streng die Regeln der Konspiration"[16]

Konspiration bedeutet eigentlich "Verschwörung", in einem DDR-Lexikon ist jedoch zu lesen: "Auch Bezeichnung für geheime Regeln und Formen des revolutionären Kampfes und der Abwehr konterrevolutionärer Machenschaften"[17] Die konspirativen Treffs sind damit faktisch Teil einer geheimen Partnerschaft für einen angeblich guten und wichtigen Zweck. Auf das Geheimnisvolle weisen schon die Decknamen der IM oder OV hin. "Die Stasi hatte Zugang zur realen wie zur infantilen Angst von Menschen davor, ein Geheimnis zu verraten, das zu wahren ihnen unter Drohung eingebläut wurde. Wenn es einem System gelingt, zu den unbewussten Vernichtungsängsten Zugang zu finden, dann etablieren sich die ängstigenden Befehle im Unbewussten."[18] "Man geht eine Bindung ein, indem man etwas für sich behält. Und diese Form der Konspiration wird zu einer wahnsinnigen Macht."[19] Die Menschen führten ein Doppelleben. Sie konnten niemandem (meist nicht einmal dem Ehepartner) von ihren Stasi-Kontakten erzählen, sie wurden zu strenger Geheimhaltung verpflichtet, auch um sich selbst zu schützen. Und Schutz wurde wiederum durch das MfS zugesichert. Es war wie ein Teufelskreis. "Das Bewusstsein verbirgt vor sich selbst, dass ein Mensch in mehreren Wahrheiten lebt. Er fühlt sich jeweils denen, deren ‚Farbe‘ er annimmt, recht nahe, ja, er erlangt durch die wechselnde Anpassung erst ein Gefühl für sich selbst."[20] So wurde eine enge psychische Bindung an das MfS erreicht, aus der es oft sehr schwierig war, herauszukommen.

[...]


[1] R. v. Weizsäcker, "Demokratische...", S. 200

[2] Angaben durch Mitarbeiter der Gauckbehörde

[3] S. Geißler in "Auferstanden aus Ruinen", S. 10

[4] "Die andere Geschichte", S. 10 und 13

[5] Ein Beispiel ist G. Sörchner, ehem. kath. Pfarrer im Bistum Magdeburg. Quelle: "Das schweigen der Hirten" - MDR-Sendung im Mai 1995. Es lassen sich aber noch viel mehr Beispiele anführen.

[6] z.B. im Bereich Gera 17 der 235 Amtsträger(7,2%), aber 5 von 16 Superintendenten (31,2%) Quelle: "Die andere Geschichte", S.317

[7] "Deckname Conrad" im "Sächsischen Tageblatt" vom 1.2.1990. "Conrad" war Rechtsanwalt und hat in Chemnitz u.a. Oppositionelle beraten und vertreten

[8] "Ich muss mir vorwerfen, dass ich den MfS-Mitarbeiter unterschätzt habe und größere Zurückhaltung geboten gewesen wäre" ehem. Superintendent G.Pilz aus Flöha in "Die Kirche" vom 3.10.93. Für die anderen Motive vgl. W. Schilling:"Auch IM hatten...", S. 7f

[9] J. Gauck in "Freie Presse" vom 7.04.1994

[10] Bischof J. Hempel in einem Rundbrief an die Mitarbeiter der ev. luth. Landeskirche Sachsens im Januar 1992

[11] W. Schilling "Auch IM hatten...", S. 8

[12] "Staatssicherheit von innen", S. 89 zu Dokument 24

[13] ebd. S. 59; Auszüge aus Lehrmaterial für Mitarbeiter des MfS, Potsdam 1984

[14] ebd.

[15] W. Schilling "Auch IM hatten...", S. 10

[16] "Staatssicherheit von innen", S. 104

[17] BI-Universallexikon Bd. 3, S. 190

[18] T. Moser: Vorsicht Ber³hrung, S. 227

[19] Schilling, "Auch IM...", S.10

[20] T. Moser: Vorsicht Ber³hrung, S. 228

Excerpt out of 15 pages

Details

Title
Der Umgang mit Stasi-Verstrickung im Kontext von CVJM und Kirche
Subtitle
Eine theologisch-ethische Auseinandersetzung anhand der Beispiele Chemnitz und Gera
College
CVJM-College Kassel
Grade
1,0
Author
Year
1995
Pages
15
Catalog Number
V230161
ISBN (eBook)
9783656460541
ISBN (Book)
9783656460770
File size
807 KB
Language
German
Notes
Examensarbeit 1995, leicht überarbeitet 2010
Keywords
Stasi, Staatssicherheit, Kirche, CVJM
Quote paper
Dr. Peter G. Kühn (Author), 1995, Der Umgang mit Stasi-Verstrickung im Kontext von CVJM und Kirche, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/230161

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