Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kurzgeschichten im Religionsunterricht
2.1. Merkmale von Kurzgeschichten
2.2. Chancen und Grenzen des Einsatzes von Kurzgeschichten im Religionsunterricht
3. Saisonbeginn von Elisabeth Langgässer
3.1. Inhalt und Gliederung der Kurzgeschichte Saisonbeginn
3.2. Religiöse Symbole in Saisonbeginn und deren theologische Bedeutung
3.3. Einbeziehung der Biographie von Elisabeth Langgässer
4. Unterrichtsentwurf zu Saisonbeginn für eine achte Klasse eines Gymnasiums
4.1. Didaktische Impulse
4.2. Methodische Impulse
5. Fazit
6. Literatur
7. Bildnachweis
1. Einleitung
Warum sollten literarische Texte im Religionsunterricht besprochen werden, wenn sie gar nicht von Theologen verfasst worden sind und augenscheinlich keine religiöse Intention verfolgen? Verfällt die Religionslehre dabei nicht zu sehr in die Arbeitsweise des Deutschunterrichts? Können literarische Werke überhaupt etwas Göttliches enthalten? Mit diesen und weiteren Fragen wird sich die vorliegende Ausarbeitung beschäftigen. Es wird beleuchtet, inwieweit Kurzgeschichten im Religionsunterricht geeignet scheinen.
Damit diese Auseinandersetzung gelingen kann, muss zuerst geklärt werden, was eine Kurzgeschichte ist und welche Merkmale diese Gattung auszeichnen. Im Anschluss daran werden die Chancen und Grenzen vom Einsatz der Kurzgeschichten im Religionsunterricht gegenübergestellt. Anhand eines Beispiels werden diese Überlegungen weiter vertieft. Dabei wird Elisabeth Langgässers Saisonbeginn zunächst gegliedert, woraufhin die religiösen Symbole und Metaphern analysiert werden, um aufzuzeigen, inwieweit die literarische Arbeit der Autorin mit der theologischen vergleichbar ist. Anschließend wird auf die Biographie der Autorin eingegangen, die erklärt, warum sich in ihren Werken biblische Züge finden lassen. Zum Schluss wird ein denkbarer Unterrichtsentwurf aufgezeigt. Anhand der didaktischen Impulse wird theoretisch die Relevanz von Saisonbeginn im Unterricht begründet und die Ziele und Absichten dieser Stunde werden genannt, die mit dem Kernlehrplan für Nordrhein Westfalen vereinbar sind. Zusätzlich werden Methoden aufgezeigt, durch die Schülerinnen und Schüler adäquat die Kurzgeschichte Saisonbeginn ergründen können.
2. Kurzgeschichten im Religionsunterricht
2.1. Merkmale von Kurzgeschichten
Zunächst muss festgehalten werden, dass es für die Literaturwissenschaft zwar sinnvoll und notwendig ist, Werke und Texte in Gattungen zu unterteilen, um sie miteinander vergleichen zu und abgrenzen zu können. Allerdings zeigt jede Art von Literatur eine eigene Beschaffenheit auf und kann von den Merkmalen der Gattung abweichen, die von Literaturwissenschaftlern festgelegt worden sind.
Der Begriff „Kurzgeschichte“ leitet sich von Edgar Allen Poes „short story“ ab, wobei sie nicht kongruent sind. Die short story ist eine „journalistisch-feuilletonische Erzählung“,[1] auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Das Gattungsmerkmal der Kurzgeschichte ist nicht allein die Kürze des Textes, sondern vielmehr die Beschränkung auf einen sukzessiven Handlungsstrang, die Konzentration auf einen Ort und einen Zeitabschnitt. Hieraus erschließt sich, dass in einer Kurzgeschichte nur wenige Personen auftreten können, die eher namenlos bleiben, um einen bestimmten Typ von Menschen zu repräsentieren. Der Leser wird anfangs mitten in das Geschehen versetzt und findet sich daraufhin vor einem offenem Schluss, bei dem das Problem oder die Angelegenheit nicht geklärt und gelöst wird und keine moralische Belehrung stattfindet, was zur intensiven Beschäftigung des Rezipienten mit dem Text führt. In jeder Kurzgeschichte befindet sich ein Symbol, das eine Farbe oder Atmosphäre sein kann, aber primär handelt es sich um einen Gegenstand. Damit die Auseinandersetzung gelingen kann, muss es sich in der Kurzgeschichte um Sachverhalte handeln, die jeder Leser nachvollziehen kann. Aus diesem Grund ist ein weiteres Kriterium für Kurzgeschichten die Alltagsbezogenheit der Handlung, die sich oft in der realitätsnahen Sprache widerspiegelt. In Kurzgeschichten findet sich meist eine personale Erzählhaltung, die zu einer Identifizierbarkeit und Erlebnisintensität seitens des Lesers führt.[2] Viele Kurzgeschichten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst und erschienen in Zeitungen. Die Erzählungen der Trümmerliteratur dienten der Vergangenheitsbewältigung, wie zahlreiche Texte von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll und Elisabeth Langgässer. Die Autoren zu der Zeit wollten die Merkmale antiker Literatur vermeiden, da sie oft in der Kriegszeit benutzt worden sind.[3] Aus diesem Grund haben sie sich neuen literarischen Formen zugewandt, wie hier der short story, um sich klar von der nationalistischen Zeit abzugrenzen. Zusätzlich wollten sich die Autoren von dem publikumsfernen idealisierten Helden entfernen, wie er in der nationalsozialistischen Zeit entstandene Literatur zu finden ist, und ihn wirklichkeitsnäher gestalten.[4] Später wurden in den Kurzgeschichten auch andere Themen außer der Kriegszeit behandelt, wie beispielsweise die Thematik der Liebe und des Verlassenwerdens in Tanja Zimmermanns Sommerschnee.
2.2. Chancen und Grenzen des Einsatzes von Kurzgeschichten im Religionsunterricht
Im ersten Blick scheinen Kurzgeschichten ausschließlich im Deutschunterricht Verwendung zu finden. Sie lassen sich gleichwohl auch in anderen Unterrichtsfächern behandeln, wie unter anderem im Religionsunterricht. Auch wenn auf die im Deutschunterricht erworbenen Kenntnisse der Textbearbeitung zurückgegriffen wird, zeigen sich Chancen des Einsatzes von Kurzgeschichten in der Religionslehre, ohne dass er wie eine Kopie einer Deutschstunde erscheint. Denn die Betrachtung der Literatur hängt von der jeweiligen Zielsetzung und Schwerpunktbestimmung ab. So lassen sich in Kurzgeschichten religiöse Schwerpunkte setzen, wie beispielweise die Betrachtung von Verweisen auf Bibelstellen und deren Auslegung im Kontext des Textes, wodurch sie für den Religionsunterricht brauchbar werden.[5] Einige Kritiker sehen dabei das Risiko, dass der literarische Text nur auf seinen Inhalt fixiert wird und ihr künstlerischer Anspruch verloren geht.[6] Dies kann umgangen werden, indem die Kurzgeschichte im Deutschunterricht thematisiert und dort analysiert und interpretiert wird. Gerade Kurzgeschichten bieten aufgrund der Alltagsbezogenheit und der repräsentativen Protagonisten eine adäquate Möglichkeit der Einfühlung in Gedanken und Gefühle, da Kurzgeschichten Alltagssituationen von durchschnittlichen Menschen darstellen, was durch die meist personale Erzählweise suggeriert wird. Durch Kurzgeschichten kann sich die Sichtweise der Schülerinnen und Schüler auf bestimmte Sachverhalte verändern, indem sie sich durch das Lesen in die Geschehnisse hineinfühlen und sich darin identifizieren können. Die Empathiefähigkeit der Schülerinnen und Schüler wird somit bei der Besprechung von Kurzgeschichten gefordert. Anhand der dargestellten Postionen und Verhaltensweisen, die die Protagonisten vertreten, können sowohl die gesellschaftlichen als auch die christlichen Normen herausgestellt und mit den eigenen ethischen und moralischen Vorstellungen in Beziehung gebracht werden, wodurch sich die eigene Meinung festigen oder verändern kann. Denn das Erzählen „verhilft zum Verstehen der eigenen Existenz und deren Einbettung in die Welt.“[7] Folglich wird bei der Beschäftigung mit Kurzgeschichten die Weltanschauung der Schülerinnen und Schüler und deren religiöse Orientierung betrachtet und sich damit auseinandergesetzt. Biblischen Erzählungen gelingt die Identifizierung zwischen Leser und Text nicht so stark, wie bei Kurzgeschichten, da Schülerinnen und Schüler zunächst eine Abwehrhaltung gegen das Moralisieren entwickeln könnten, das beispielsweise Gleichnisse innehaben, welche Kurzgeschichten nicht beinhalten. Durch das oft gebrauchte Präteritum, wie es auch in biblischen Texten der Fall ist, wird das Bleibende und das nicht Zeitgebundene der Ereignisse verdeutlicht und bringt die Situation für heutige Leser nahe.[8] In dieser Weise schafft es die Zeitdeckung der Erzählzeit in Kurzgeschichten die Handlung lebendig zu machen und der Leser befindet sich mitten im Geschehen, wodurch es für die Rezipienten zugänglich wird. Vor allem in Kurzgeschichten der Nachkriegszeit bietet sich eine Chance die damalige Situation, die Trauer, Ängste, den Glauben und das Verhalten der Menschen zu verstehen und sich in das jeweilige Geschehen hineinzuversetzen.[9] Allerdings könnte hier ein Problem entstehen, da die Kurzgeschichten der Trümmerliteratur von der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler weit entfernt sind und die Symbolik nicht mehr verstanden wird. Hier muss der Unterricht ansetzen und das Sichten von Symbolen und Bildern fördern, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Die realitätsnahe Sprache der Kurzgeschichten, macht sie für Schülerinnen und Schüler lesbar und den Inhalt nachvollziehbar, wodurch die „Kluft zwischen Lebensrealität und literarischer Fiktion“[10] abgebaut wird. Mithilfe des genauen Lesens der Kurzgeschichten können vorhandene religiöse Symbole herausgearbeitet und gedeutet werden. Religiöse Symbole von jeglicher Literatur können nur in dem „Raum zwischen Leser und Text“[11] entstehen. Aus diesem Grund eignen sich Kurzgeschichten adäquat für den Religionsunterricht, da sich aufgrund der vielen Leerstellen dieser Raum entwickeln kann und die Schülerinnen und Schüler jeder für sich die Auslassungen füllen und Symbole interpretieren können. Der Leser ist angehalten detailliert den Text zu lesen, wodurch sowohl die Lese- und Interpretierfähigkeit als auch die kritische Stellungnahme von Schülerinnen und Schülern gestärkt werden kann. Die aufgrund der Komprimierung entstehenden Leerstellen, wie ebenso der offene Anfang und Schluss, können vom Rezipienten mit eigenen Gedanken gefüllt werden, was durch das Auslassen von moralischen Anweisungen und Erläuterungen noch bestärkt wird. Die Schülerinnen und Schüler werden nicht in ihrem Denken geleitet, sondern haben die Möglichkeit mündig zu urteilen.[12] Anhand von Kurzgeschichten lässt sich ein interdisziplinärer Dialog ermöglichen, der darin besteht, dass die literarische Gattung im Deutschunterricht und dessen Thematik beispielsweise im Geschichtsunterricht behandelt wird. Durch die Interdisziplinarität erkennen die Schülerinnen und Schüler einen roten Faden und können die Arbeit an Kurzgeschichten verinnerlichen und einüben, wodurch sie ein umfassenderes Wissen über diese Textform erlangen und vielmehr aus ihr herauslesen können. Auch wenn viele Kurzgeschichten in der Nachkriegszeit entstanden sind und somit heute lebenden Schülern weit entfernt von ihrer Lebenswelt erscheinen, eignen sie sich doch für den Unterricht, da sie auch andere Themen enthalten, die an die Welt der Schülerinnen und Schüler anknüpfen können. Wie später zu sehen ist, wird in Elisabeth Langgässers Saisonbeginn Menschen- und Gruppendiskriminierung angesprochen, die heute leider noch aktuell sind. Literarische Texte, wie die Kurzgeschichte, lassen sich in jeder Jahrgangsstufe und in jeder Schulform im Religionsunterricht einsetzen. Der Lehrer muss jedoch die jeweiligen Vorkenntnisse und Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler beachten. Bei der Betrachtung von Kurzgeschichten werden die Schülerinnen und Schüler fähig, theologische Bezüge zuerst zu sichten und zu erkennen, um sie anschließend im Zusammenhang der Geschichte interpretieren zu können. Dabei wird ihre Kompetenz eingeübt, zwischen dem literarischen Text und der biblischen Tradition Bezüge herstellen zu können und beide Sprechweisen voneinander abzugrenzen. Schülerinnen und Schüler können ihr eigenes biblisches Sprechen reflektieren, womit ihr Verständnis von religiöser Sprache wächst und deren „ Ausdruckskompetenz“[13] angeregt wird. Da jeder die theologischen Metaphern in Erzählungen individuell wahrnimmt, bietet die Kurzgesichte eine Chance vielfältige Deutungsmöglichkeiten religiöser Bilder zu erzeugen, was eine neue Erfahrungswelt bei den Lesern erzeugen und die Frage nach der eigenen „religiöse(n) Identität“[14] bestärkt. Kurzgeschichten können einen Beitrag gegen den „Wirklichkeitsverlust theologischen Sprechens und Denkens“[15] leisten, indem sie die Vielseitigkeit von der Wirklichkeit herausstellt. Literarische Texte haben den Vorteil, dass in ihnen alles möglich werden kann, wodurch ihnen, theologisch gesprochen, etwas Göttliches zukommt. Das religiöse und literarische Sprechen haben demnach Übereinstimmungen, da beide Wirklichkeit „ ‚transzendieren‘.“[16] Sie müssen allerdings gesondert betrachtet werden. Somit kann der Rezipient anhand der literarischen Texte einen nicht theologischen Blick auf Transzendenz mit einem religiösen Verständnis vergleichen, wobei wiederum die Kompetenz des Deutens, Einfühlens, Wahrnehmens und die Ausdrucksfähigkeit geschult werden.[17] Es besteht die Gefahr, dass die Kurzgeschichte aufgebrochen wird und in ihr zwanghaft religiöse Symbole gesucht werden, die der Autor gar nicht intendiert hat und ihr somit ein anderer Sinn zugesprochen und die Kurzgeschichte letztendlich zweckorientiert verfremdet wird.[18] Darauf muss bei der Auswahl der Texte geachtet werden. Da sich in Kurzgeschichten viele Themen, Symbole, Metaphern und Hintergrundinformationen finden lassen, die zuvor im Religionsunterricht behandelt worden, kann die Besprechung von ihnen der Wiederholung der Lerninhalte dienen. Mit Kurzgeschichten religiösen Inhalts und Symbolik lassen sich adäquat die vom Kernlehrplan Nordrhein-Westfalens aufgestellten Kompetenzen für Schülerinnen und Schüler erfüllen, worauf im späteren Verlauf eingegangen wird, wenn die didaktischen Impulse formuliert werden.
[...]
[1] B. Sowinski, Heinrich Böll, 9.
[2] Vgl. ebd., 9-11.
[3] Vgl. A. Saupe, Kurzgeschichte, 416.
[4] Vgl. L. Marx, Die deutsche Kurzgeschichte, 139.
[5] Vgl. G. Röckel, Texte erschließen, 113.
[6] Vgl. G. Langenhorst, Literarische Texte im Religionsunterricht, 49.
[7] M. Ostermann, Gotteserzählungen, 31.
[8] Vgl. G. Röckel, Texte erschließen, 177.
[9] Vgl. B. Schwens-Harrant, Räume zwischen Leser, 360-361.
[10] D. Marquardt, Erzählung, Novelle und Kurzgeschichte im Unterricht, 582.
[11] B. Schwens-Harrant, Räume zwischen Leser und Text, 360.
[12] Vgl. B. Sowinski, Heinrich Böll, 12.
[13] Ebd., 59.
[14] Ebd., 60.
[15] Ebd., 61.
[16] Ebd., 62.
[17] Vgl. G. Langenhorst, Literarische Texte im Religionsunterricht, 51-64.
[18] Vgl. P. Stoellger, Potenz und Impotenz der Narration, 39-40.