Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Merkmale, Entwicklung und offene Fragen in der Europäisierungsforschung
3. Die Europäisierung im Bereich der Innen- und Justizpolitik
4. Der „uploading“-Mechanismus anhand des Vertrages von Prüm unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Deutschlands
4.1 Entstehungsprozess und Inhalt des Prümer Vertrages
4.2 Präferenzen und Strategien der maßgeblichen Akteure beim „uploading“-Prozess
5. Schluss
6. Anhang
7. Literaturverzeichnis
7. 1 Primärquellen
7.2 Sekundärquellen
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBIJ) stellt ein vergleichsweise junges Politikfeld im Rahmen der Europäischen Union (EU) und ihrer Mitgliedsstaaten dar. Trotzdem ist insbesondere seit dem Vertrag von Maastricht (1992) eine Dynamik entstanden, die vor 20 Jahren noch nicht vorstellbar war. Nach dem Fall der Berliner Mauer war speziell Deutschland aufgrund seiner geographischen Lage und Wirtschaftsmacht Zielland von Asylbewerbern, sog. illegalen Einwanderern und organisiertem Verbrechen. Dieser als bedrohlich wahrgenommenen Entwicklung wollte die Kohl-Regierung durch eine möglichst weitgehende Integration in der Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz entgegenwirken und initiierte daher den Aufbau zahlreicher Institutionen und Regelwerke.
In der vorliegenden Arbeit werde ich zeigen, wie die Gründerstaaten des am 27.05.2005 zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität unterzeichneten Prümer Vertrages die Europäisierung im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) vorantrieben. Von Seiten der EU bestand kein großer institutioneller Druck auf die Mitgliedstaaten im Sinne einer vertieften (PJZS) aktiv zu werden, da die EU hierfür keine ausreichenden Kompetenzen besaß. Trotzdem kann es zu einer Europäisierung in diesem Bereich.
Um den Europäisierungsprozess im konkreten Fall zu erklären, bediene ich mich des Zwei-Ebenen-Modells aus der Europäisierungsforschung von Börzel (2002; 2003), dessen empirische und analytische Aussagekraft an dem Fallbeispiel des Prümer Vertrages besonders anschaulich dargestellt werden kann. Anhand dieses Modells ist es möglich aus einer „bottom-up“-Perspektive zu erklären, warum die Gründerstaaten unter der Führung Deutschlands den Vertrag zunächst außerhalb des EU-Vertrages (EUV) unterzeichneten, wie ihnen nur wenige Jahre später ohne wesentliche Änderungen der „Uploading“-Prozess auf die europäische Ebene gelang und inwiefern die Europäische Kommission und das Europäische Parlament (EP) gezwungen waren, ihre eigene Agenda an das Vorgehen der Mitgliedstaaten anzupassen.
Zunächst werde ich im ersten Teil die wesentlichen Merkmale der Europäisierungsforschung im Hinblick auf mein Fallbeispiel veranschaulichen und diskutieren. Im zweiten Abschnitt folgt eine Übersicht über die treibenden Faktoren und wesentlichen Ereignisse im Integrationsprozess der ZBIJ. Im dritten Teil schließlich greife ich auf die vorherigen Ausführungen zurück und analysiere den Europäisierungsprozess anhand des Fallbeispiels.
2. Merkmale, Entwicklung und offene Fragen in der Europäisierungsforschung
Der Begriff „Europäisierung“ wurde zu Beginn der 1980er Jahre sehr selten genutzt, ist aber seit Ende der 1990er Jahre weit verbreitet (vgl. Olsen 2002: 922) und steht mittlerweile für einen neuen politikwissenschaftlichen Forschungsansatz. Olsen (2002: 932) spricht auch von zwei Generationen in der Europäisierungsforschung: Während die erste Generation Europäisierungsprozesse hauptsächlich aus der „bottom-up“-Perspektive analysierte, d.h. die nationalen Einflussfaktoren auf die Politikinhalte und -formulierung auf europäischer Ebene betrachtete (vgl. Börzel 2002: 193-194), wird seit einigen Jahren verstärkt erforscht, wie umgekehrt in einem „top-down“-Prozess die europäische Ebene nationale politische Systeme verändert und welche intervenierenden Variablen (z.B. Institutionen, Parteien, Interessengruppen) dabei wirken.
Allerdings besteht nach wie vor Uneinigkeit darüber, was genau „Europäisierung“ analytisch und empirisch eigentlich ist und auch eine sorgfältig ausgearbeitete und allgemein akzeptierte sowie auf verschiedene Untersuchungsgegenstände anwendbare Theorie existiert bisher nicht (vgl. Auel 2006: 294). Vielmehr besteht ein „erstaunliche[r] Mangel an Konsens darüber, was der Begriff „Europäisierung“ denn nun eigentlich bedeutet und was er zu erklären sucht“ (dies.: 295). Zwar ist mittlerweile allgemein anerkannt, dass man grundsätzlich zwei Ebenen bei der Untersuchung von Europäisierungsprozessen unterscheiden kann und zwar zum einen die europäische und zum anderen die nationalstaatliche Ebene, die beide als Ausgangspunkt für Studien genommen werden können. Allerdings bleibt oft unklar, inwiefern sich die beiden Ebenen beeinflussen, ob man von einem Kausalzusammenhang sprechen kann, inwiefern intervenierende Variablen mit berücksichtig werden müssen und wenn ja, welche. Ferner ist umstritten, ob man überhaupt beide Dimensionen der Europäisierung in einem Modell unterbringen sollte, da solche Zwei-Ebenen-Ansätze dem Problem der Zirkularität ausgesetzt sind, so dass ein kausaler Zusammenhang nicht mehr nachweisbar ist (vgl. Auel 2006: 311-312).
Hilfreich für das konzeptionelle und analytische Vorgehen ist grundsätzlich die Unterscheidung zwischen, erstens, dem Objekt der Europäisierung (Was?), ferner dem Mechanismus, dem Ausmaß und der Richtung der Europäisierung (Wie?) und zum dritten die Frage nach dem Anlass oder dem Auslöser dieser Prozesse (Warum?) (vgl. Auel 2006: 299; Olsen 2002: 922-923). Das Ausmaß der Europäisierung ist schwierig zu messen und letztlich nur qualitativ, aber nicht quantitativ zu bestimmen, auch wenn dies gelegentlich zumindest implizit versucht wird (Töller 2008). Aber einen überzeugenden quantitativen Ansatz, der über eine reine Deskription hinausgehen würde, gibt es bisher nicht. Auch wenn, wie üblich, eine möglichst präzise Klassifizierung unabdingbar erscheint, um einen möglichst hohen empirischen und analytischen Erklärungsgehalt zu gewährleisten, fällt dies im Rahmen der Europäisierungsforschung besonders schwer. Es ist fast unmöglich, Europäisierungseffekte von anderen nationalen, globalen oder lokalen Einflussfaktoren eindeutig zu trennen (Olsen 2002: 937). Außerdem ist eine Vergleichbarkeit der Untersuchungsergebnisse nur begrenzt möglich, weil dieselben Mechanismen in jedem Mitgliedstaat aufgrund der unterschiedlichen nationalen politischen Systeme völlig verschiedene Ergebnisse liefern können.
Es gibt bisher auch keinen Konsens darüber, welche Fälle von dem theoretische Konzept der Europäisierung erfasst werden (sollten) und welche nicht. Fallen etwa Prozesse wie jene zur Entstehung der Schengener Abkommen und des Prümer Vertrages darunter, auch wenn sie nur von einer Minderheit der Mitgliedstaaten und noch dazu außerhalb des EG-Vertrages und der EU-Strukturen initiiert wurden? Ist es hierbei entscheidend, dass sie später in den EGV bzw. in den EUV integriert worden sind? Meiner Meinung nach macht es keinen Sinn, beispielsweise eine Mindestanzahl an EU-Mitgliedstaaten festzulegen, ab der man von einem Europäisierungsprozess sprechen kann. Außerdem sollte man Europäisierungsprozesse nicht mit „EU-isierung“ gleichsetzen, d.h. ein bewusst intergouvernementales Vorgehen außerhalb des Rahmens der EU nicht von vorneherein als Indikator für eine geringe Europäisierung der nationalen Akteure annehmen (vgl. die Festlegung bei Balzacq et al. 2006: 3). Denn die Vertiefung von Zusammenarbeit auf der zwischenstaatlichen Ebene kann im Gegenteil auch bewirken, dass das Ausmaß der Europäisierung auf EU-Ebene oder in anderen Mitgliedstaaten größer ist, wenn diese zwischenstaatlichen Abkommen später in das europäische Regelwerk überführt werden. Genau das war bei den Schengener Abkommen der Fall und auch durch den Prümer Vertrag sind ähnliche Europäisierungseffekte zu erwarten. Und wenn vier oder fünf mächtige EU-Mitgliedstaaten gemeinsame Politiken durchsetzen, kann das unter Umständen ein größeres Ausmaß an Europäisierung hervorrufen als einzelne Beschlüsse der EU.
Integriert man all diese verschiedenen Prozesse der Politikformulierung und –gestaltung in den Europäisierungsansatz, besteht natürlich die Gefahr einer zunehmenden Unschärfe. Aber da sich die Europäisierungsforschung trotz großer Fortschritte und Bemühungen in den letzen Jahren immer noch in der Experimentierphase befindet, ist Europäisierung wohl nach wie vor „less useful as an explanatory concept than as an attention-directing device and a starting point for further exploration“ (Olsen 2002: 943).
Ferner ist es wichtig, die theoretischen Ansätze der Europäischen Integration und der Europäisierung klar voneinander zu trennen. Nach Eising (2006: 396) definiere ich Europäische Integration als „den Aufbau und die Entwicklung europäischer Institutionen und Politiken“ und „die zunehmende Dichte und Intensität sowie die Verstärkung der Charakteristika in den Beziehungen auf der Ebene der Europäischen Union.“ Das heißt, die Untersuchung der Europäischen Integration beschränkt sich auf die Erforschung der Ereignisse auf der europäischen Ebene, ohne einen Zusammenhang zwischen der nationalen oder subnationalen Ebene und der europäischen Ebene herzustellen.
Eine hilfreiche Definition von Europäisierung liefern Sturm/Pehle (2005: 12): „Europäisierung ist ein politisch-gesellschaftlicher Prozess, der angetrieben von der Geschwindigkeit und Reichweite der europäischen Integration einen Veränderungsdruck auf Nationalstaaten und europäische Gesellschaften ausübt, aber auch europäische Institutionen zur Responsivität gegenüber nationalen Interessen zwingt und damit diese zu fortwährendem politischen Wandel und zum Teil auch zu institutioneller Anpassung bewegt. Europäisierung erweitert den Wahrnehmungshorizont und den politischen Handlungsraum von Nationalstaaten um die europäische Dimension.“ Zum einen wird dort Europäisierung klar von Europäischer Integration abgegrenzt, gleichzeitig aber betont, dass sich beide Prozesse wechselseitig beeinflussen und die Europäisierung die Nationalstaaten nicht nur zu Anpassungen zwingt, sondern ihnen vielmehr auch aktiven Gestaltungsspielraum eröffnen kann. Das heißt, nationale Akteure können je nach Kontext „policy-taker“ und/oder „policy-shaper“ sein (Börzel 2003). Wichtig ist zudem, dass Europäisierung in der Forschung als prozess- und nicht als zustandsorientiert konzeptioniert wird (vgl. Eising 2003: 399) und dass es keinen vorgegebenen Ablauf in diesem Europäisierungsprozess geben muss. So kann Europäisierung zwar eine Folge der Europäischen Integration sein, jedoch auch gleichzeitig mit dieser beginnen, parallel zu ihr verlaufen (ohne gegenseitige Beeinflussung) oder auch Integrationsprozesse fördern und überhaupt erst auslösen (vgl. Eising 2003: 408).[1]
Oftmals wird Europäisierung nur eindimensional untersucht, etwa indem die europäische Ebene als unabhängige Variable gesetzt wird. Eine solche Limitierung macht durchaus Sinn, da die Untersuchung dadurch einfacher zu operationalisieren ist und verschiedene Europäisierungsmechanismen klar voneinander abgegrenzt werden können. Außerdem kann erforscht werden, welche Wirkung sie unter Einbeziehung der jeweiligen Verhältnisse auf nationalstaatlicher Ebene erzielen oder nicht bzw. unter welchen Umständen diverse Europäisierungsstrategien Erfolg haben können (Knill 2001).
Dennoch gibt es wie oben erwähnt eben nicht nur eine, sondern zwei Dimensionen der Europäisierung. Börzel (2002; 2003) beschreibt Europäisierung daher als „two-way process“ mit einer „bottom-up“ und einer „top-down“-Dimension.[2] Ergänzt wird dieses Modell durch den „Goodness of fit“-Ansatz, der einen sog. „misfit“, d.h. eine gewisse Unverträglichkeit zwischen den Regelungen auf europäischer und nationaler Ebene voraussetzt damit es zu Anpassungsdruck und somit überhaupt zu Europäisierung auf nationaler Ebene kommen kann. Dabei sich wirkt die Größe des „misfits“ positiv verstärkend auf den Anpassungsdruck aus (vgl. Auel 2006: 304).[3] Die Mitgliedstaaten versuchen durch einen „uploading“-Prozess ihre eigenen Politikvorstellungen und -instrumente auf die europäische Ebene zu bringen, um dadurch den „misfit“ möglichst gering zu halten und somit Anpassungs- und Implementierungskosten während des „downloading“-Prozesses zu sparen (Börzel 2002; 2003). Außerdem ermöglicht das „uploading“ nationalen Regierungen, sich Problemen zu widmen, die auf nationaler Ebene nicht mehr effektiv lösbar erscheinen (vgl. Börzel 2002: 196). Der „downloading“-Prozess wiederum beschreibt die Wirkung des policy-making“ und der Strukturen der EU auf die nationalen Präferenzen und die nationale Politikgestaltung. Dieser Ansatz von Börzel ermöglicht eine Erweiterung der Gesamtperspektive, da er den Mitgliedstaaten eine aktive Rolle bei der Politikgestaltung auf europäischer Ebene zuspricht. Dadurch kann außerdem das Problem der Zirkularität vermieden werden, falls sich Fälle finden, bei denen klar zwischen der „uploading“ und der „downloading“-Dimension unterschieden werden kann (vgl. Auel 2006: 310-311).
In dieser Arbeit werde ich zeigen, dass die „uploading“-Perspektive einen guten Erklärungsansatz für den Entstehungsprozess des Prümer Vertrages darstellt sowie für den qualitativen Beitrag des Vertrages zum Ausmaß der Europäisierung in der PJZS und die zu Grunde liegenden Strategien der beteiligten Akteure liefert. Der Prümer Vertrag ist besonders gut geeignet, um die Handlungsspielräume der Nationalstaaten und die Mechanismen des „uploadings“ zu skizzieren, da die EU-Organe den Prozess höchstens reaktiv begleiten konnten. Auf „downloading“-Prozesse werde ich daher nicht eingehen.
3. Die Europäisierung im Bereich der Innen- und Justizpolitik
Verlief die Entwicklung der ZBIJ bis Mitte der 1980er Jahre noch sehr übersichtlich und eher schleppend, handelte es sich bereits Ende der 1990er Jahre um „the most active field for meetings convened under the Council of Ministers“ (Lavenex/Wallace 2005: 463) – obwohl besonders sensible Bereiche der staatlichen Souveränität betroffen sind und trotz der unterschiedlichen Rechtstraditionen und Regelungen im Zivil- und Strafrecht.[4] Grundsätzlich bleiben die rechtlichen Abkommen aber unverbindlich, da – nach der Einschätzung eines Kommissionsvertreters - „a great deal of time [is] spent negotiating legal texts which [are] later watered down to carry as little legal obligation as possible to ensure they are acceptable to all member states” (zitiert bei Apap 2004: 8).
[...]
[1] Daraus resultiert zum einen die notwendige programmatische Offenheit und Flexibilität zur Erklärung der verschiedenen Europäisierungsprozesse. Auf der anderen Seite aber impliziert dies, dass es oft unmöglich ist, die beiden Konzepte voneinander zu unterscheiden und selbst im Rahmen von Fallstudien eindeutige Aussagen über Wirkung und Richtung des Zusammenhangs zu treffen
[2] Siehe Schaubild 1 „Bottom-up“ und „top-down“ im Anhang für eine graphische Darstellung des Modells aus Börzel (2003).
[3] Ein „misfit“ ist aber lediglich eine notwendige, gleichwohl keine hinreichende Bedingung für Europäisierung, da weitere institutionelle Faktoren als Variablen wirken, „die eine Anpassung nationaler Politik erleichtern oder erschweren“ (Auel 2006: 304).
[4] Anfang Mai 2006 existierten insgesamt 1152 rechtsgültige Verordnungen, Richtlinien und andere Beschlüsse im Bereich der europäischen Innen- und Justizpolitik (vgl. Kietz/Maurer 2007: 9).