Justizialisierung in Deutschland?

Eine Einschränkung anhand zweier Fallbeispiele


Term Paper, 2012

19 Pages, Grade: 1,3


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Inhalt

1. Einleitung

2. Einflussmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts auf die Gesetzgebung
2.1 Verfassungsbeschwerde
2.2 Konkrete Normenkontrolle
2.3 Abstrakte Normenkontrolle

3. Die Justizialisierungsthese
3.1 Grundlagen des Justizialisierungsprozesses
3.2. Die Verrechtlichung des Gesetzgebungsprozesses
3.3 Die Politisierung des Rechts

4. Einschränkung der Justizialisierungsthese für die Bundesrepublik Deutschland
4.1 Autolimitation und Klagehäufigkeit
4.2 Umsetzungen von Gerichtsurteilen

5. Fallbeispiele
5.1 Fallbeispiel 1: Urteil zur Parteienfinanzierung
5.2. Fallbeispiel 2: Kruzifixurteil

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Bundesverfassungsgericht genießt durch seine unterschiedlichen Kontrollmechanismen –die abstrakte und konkrete Normenkontrolle und das individuelle Einspruchsverfahren– einen großen Einfluss auf die Gesetzgebungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland. Gleichzeitig wird dem Bundesverfassungsgericht von der Bevölkerung ein hohes Maß an Vertrauen entgegen gebracht, mehr als der Regierung und dem Bundestag (vgl Infratest dimap 2012; Kneip 2006: 271).

Vor dem Hintergrund des großen Einflusses europäischer Verfassungsgerichte auf das politische System des jeweiligen Staates entwickelte vor allem Alec Stone Sweet (vgl. 2000) die These der Justizialisierung der politischen Ordnung. Hierbei entwickeln die Verfassungsgerichte als Konfliktlöser einen immer größeren Einfluss und werden selbst zu einem gesetzgebenden Akteur. Sie unterwandern die klassische Form der Gewaltenteilung und die Souveränität des Parlaments, welches schon im Voraus mögliche Einwände der Verfassungsgerichtsbarkeit beachtet und sich selbst beschränkt. Der Begriff Justizialisierung schließt somit sowohl die Verrechtlichung der Politik als auch die Politisierung des Rechts mit ein. Diese steht allerdings auf einem empirisch schwachen Fundament (vgl. von Komorowski/Bechtel 2006: 282, Bornemann 2007: 78).

Gerichtsurteile – und somit auch Urteile des Bundesverfassungsgerichts – sind immer abhängig von der Umsetzung durch andere Akteure im politischen System, Gerichte haben keine eigenen Mittel zur Anwendung von Zwang. Theoretisch ist es daher möglich, aber praktisch unwahrscheinlich, dass Urteile der Verfassungsgerichtsbarkeit ignoriert werden, ein neuer Gesetzesentwurf eingebracht wird, der sehr nah an der ursprüngliche Version ist, oder die Verfassung geändert wird. Letzteres scheidet aufgrund der hohen Hürden für eine Verfassungsänderung jedoch meist aus (vgl. Stone Sweet 2002: 90-92).

Das Bundesverfassungsgericht ist vor allem dann stark, wenn die öffentliche Meinung auf seiner Seite ist. Vor dem theoretischen Rahmen eine Kontextualisierung des Bundesverfassungsgerichts und einer Einschränkung der Justizialisierungsthese wird anhand zweier Fallbeispiele – der Parteienfinanzierung und dem Urteil zu Kruzifixen in Klassenzimmern – argumentiert, dass Urteile mit einer höheren Wahrscheinlichkeit nicht vorbehaltlos umgesetzt werden, wenn die Kosten für die gesetzgebenden Akteure hoch ausfallen. Dies war beim Kruzifixurteil aufgrund der gegen das Bundesverfassungsgericht gerichteten öffentlichen Meinung und beim Urteil zur Parteienfinanzierung aufgrund der hohen Einbußen für die politischen Parteien der Fall. Die beiden ausgewählten Fälle stellen somit zwei der seltenen Gelegenheiten dar, bei denen die öffentliche Meinung gegen das Bundesverfassungsgericht eingestellt war. Die These der Justizialisierung ist in Deutschland nicht auf alle Fälle vorbehaltlos anwendbar.

2. Einflussmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts auf die Gesetzgebung

Das Bundesverfassungsgericht wird grundsätzlich nur auf einen Antrag hin tätig, es kann nicht aus eigenem Antrieb Verfahren eröffnen. Dabei umfassen seine Aufgaben die Prüfung von Normen auf die Verfassungskonformität hin, die Regelung von Organstreitigkeiten innerhalb des politischen Systems sowie die Sicherung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vor dem Hintergrund der streitbaren Demokratie (vgl. Rudzio 2011: 299). Für die Theorie der Justizialisierung sind hierbei die verschiedenen Arten der Normenprüfung am bedeutendsten. Da die Lösung von Organstreitigkeiten[1] nicht unmittelbar in den legislativen Prozess eingreift und bisher nur acht Parteienverbotsverfahren in der Bundesrepublik durchgeführt wurden, können diese beiden Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts vernachlässigt werden (vgl. Bundesverfassungsgericht 2011). Das Bundesverfassungsgericht greift gleichzeitig in die Sphäre des Rechtlichen und des Politischen ein, indem es einerseits Gerichtsurteile selbst höchster Gerichte als nicht verfassungskonform erklären kann und andererseits Akte des Bundestags als legitime Vertretung des Souveräns für nichtig erklären kann (vgl. Bornemann 2007: 86).

2.1 Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde stellt den Großteil der Arbeit des Bundesverfassungsgerichts dar. Im Zeitraum von 1951 – 2011 fielen 96,5 % der anhängigen Verfahren unter diese Kategorie (vgl. Bundesverfassungsgericht 2011). Grundsätzlich kann sowohl jede natürliche Person als auch jede juristische Person, auf die die Grundrechte anwendbar sind – diese also keine öffentlichen Aufgaben als Hoheitsträger wahrnehmen (vgl. Säcker 2003: 55) – eine Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze, Behördenakte und Gerichtsurteile einreichen. Falls die juristische Person dem Bereich, der durch die Grundrechte geschützt werden soll, direkt zuzuordnen ist, hat sie ebenfalls das Recht zur Verfassungsbeschwerde. Hierzu zählen beispielsweise Universitäten. Der Beschwerdeführer muss allerdings von der vermeintlichen Grundrechtsverletzung selbst betroffen sein und den regulären Rechtsweg in der Fachgerichtsbarkeit durchlaufen haben. Dessen Ausschöpfung ist allerdings nicht nötig, wenn ein Bürger direkt durch ein Gesetz, und nicht erst durch den Gesetzesvollzug, in seinen Grundrechten vermeintlich eingeschränkt wird. In diesem Fall kann eine Beschwerde direkt an das Bundesverfassungsgericht gerichtet werden. Für eine Individualbeschwerde ist kein Anwalt nötig, die schriftliche Form allein ist ausreichend. Um eine Überlastung des Gerichts zu verhindern, findet eine Vorprüfung der Beschwerden in Kammern zu je drei Richtern statt. Wenn eine Beschwerde nicht angenommen wird, können Gebühren erhoben werden (vgl. Rudzio 2011: 299-301; Säcker 2003: 55-62).

2.2 Konkrete Normenkontrolle

Falls einem Gericht innerhalb eines Rechtsstreits Zweifel an der Verfassungskonformität der anzuwendenden Rechtsnormen erwachsen, können diese zur Prüfung an das Bundesverfassungsgericht weitergegeben werden. Dabei verweist das reguläre Gericht die fragliche Regelung an das Bundesverfassungsgericht, da nur dieses über die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm entscheiden darf. Gleichzeitig soll mit der konkreten Normenkontrolle den regulären Gerichten die Möglichkeit gegeben werden, Zweifel an geltenden Gesetzen zu äußern. Sie bezieht sich immer auf einen realen Rechtsstreit. Jedes reguläre Gericht ist berechtigt, eine konkrete Normenkontrolle zu beantragen (vgl. Kranenpohl 2004: 40-41; Rudzio 2011: 300; Säcker 2003: 63-65).

2.3 Abstrakte Normenkontrolle

Bei der abstrakten Normenkontrolle wird ein Gesetz – im Gegensatz zur konkreten Normenkontrolle – losgelöst von einem realen Rechtsstreit auf seine Verfassungskonformität hin kontrolliert. Eine Überprüfung der Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht fällt ebenfalls unter die abstrakte Normenkontrolle. Diese können entweder ein Drittel der Mitglieder des Bundestags, die Bundesregierung oder eine Landesregierung beantragen. Vor allem für die Opposition stellt die abstrakte Normenkontrolle ein wichtiges Instrument zur Wahrung ihrer Interessen dar, sofern sie über mindestens ein Drittel der Bundestagsabgeordneten verfügt (vgl. Rudzio 2011: 299-300; Säcker 2003: 65-67). Abstrakte und konkrete Normenkontrolle zusammengenommen machten bis 2011 jedoch nur 1,89% der Verfahren aus (vgl. Bundesverfassungsgericht 2011).

3. Die Justizialisierungsthese

Stone Sweet erläutert zwei kausale Prozesse. Die Verfassungsgerichtsbarkeit erweitert ständig ihren Einfluss auf die Gesetzgebung und über die Gesetzgeber, „legislators are gradually placed under […] the pedagogical authority of constitutional case law“ (Stone Sweet 2000: 194). Somit findet eine Verrechtlichung der Politik statt und die Vorgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit schränken den Gesetzgeber in erheblichen Maßen ein. Im nächsten Schritt der Justizialisierung werden verfassungsrechtliche Argumente und Entscheidungsmuster von anderen Akteuren im politischen System und Gesetzgebungsprozess übernommen. Hierdurch wird ein ursprünglich juristischer Diskurs in einen gesetzgeberischen Zusammenhang gebracht. Es findet eine Politisierung des Rechts statt (vgl. Stone Sweet 2000: 195).

3.1 Grundlagen des Justizialisierungsprozesses

Grundlage für die Ausbreitung der Justizialisierung ist ein triadisches Konfliktlösungskonzept und ein Prinzipal-Agenten-Problem.

Bei einer triadische Konfliktlösung entscheiden sich zwei kooperierende Parteien, wenn sie sich nicht gemeinsam auf eine Lösung einigen können und nicht eine Partei der anderen ihren Willen aufzwingen kann, eine dritte Partei mit der Lösung eines auftretenden Konflikts zu beauftragen. Dies ist für die streitenden Parteien langfristig günstiger, als die Zusammenarbeit zu beenden. Um von den konfligierenden Parteien als legitim anerkannt zu werden, muss diese die konfliktlösende Partei für neutral halten. Daher rechtfertigt die dritte Partei ihre Lösungen normativ. Sie versucht zusätzlich, indem die Positionen der Streitenden antizipiert werden, ein Resultat zu finden, das auch befolgt wird. Somit werden neue Regeln für das soziale Zusammenleben geschaffen. Es besteht jedoch immer die Gefahr, dass die konfliktlösende Partei durch ihre Entscheidungen ihre Legitimation verliert (vgl. Stone Sweet 2000: 12-19).

Mit der Delegation der Konfliktlösung geht das Prinzipal-Agenten-Problem einher. Der Prinzipal ist derjenige, der zum Zeitpunkt der Delegation in einer Machtposition ist. Agenten empfangen vom Prinzipal die Autorität eine Aufgabe durchzuführen. Dabei kann es allerdings vorkommen, dass die Agenten zu ihrem eigenen größten Nutzen anstatt zum größten Nutzen des Prinzipals handeln. Eine vollständige Kontrolle der Agenten ist nie möglich.

Als Prinzipal beauftragt der Gesetzgeber[2] die Gerichte als Agenten mit der Anwendung von Gesetzen zur Konfliktlösung. In jedem Rechtssprechungsprozess findet immer auch ein eigenständiges Verhalten der Gerichte statt. Gleichzeitig setzt jede Gerichtsentscheidung neue Normen und Regeln. Im Allgemeinen kann der Prinzipal das Verhältnis zu seinen Agenten neu definieren und deren Macht und Eigenständigkeit beschränken (vgl. Stone Sweet 2000: 23-25). Im Fall der Verfassungsgerichtsbarkeit ist dies jedoch schwierig, da zum einen die Verfassungsgerichte die Regeln des politischen Systems definieren, zum anderen eine Änderung der Verfassung notwendig wäre, um die Gültigkeit von Urteilen der Verfassungsgerichtsbarkeit zu unterwandern. Eine Verfassungsänderung ist jedoch nur schwierig umzusetzen. Somit ist der Gesetzgeber im Verhältnis zur Verfassungsgerichtsbarkeit nur sehr bedingt ein Prinzipal, das Verfassungsgericht steht für sich selbst (vgl. Stone Sweet 2002: 89).

[...]


[1] Das 1. Fallbeispiel ist zwar eine Organstreitigkeit, ist aber ohne weiteres als ein Normenkontrollverfahren oder eine Verfassungsbeschwerde denkbar.

[2] Der seine Legitimität aus der Verfassung erhalten hat, welche ihre Legitimität daraus bezieht, dass sie den Willen des Volkes - des Souveräns – ausdrückt (vgl. Stone Sweet 2002: 81).

Excerpt out of 19 pages

Details

Title
Justizialisierung in Deutschland?
Subtitle
Eine Einschränkung anhand zweier Fallbeispiele
College
Technical University of Darmstadt
Grade
1,3
Author
Year
2012
Pages
19
Catalog Number
V232333
ISBN (eBook)
9783656488736
ISBN (Book)
9783656493396
File size
611 KB
Language
German
Keywords
justizialisierung, deutschland, eine, einschränkung, fallbeispiele
Quote paper
Martin Hock (Author), 2012, Justizialisierung in Deutschland?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/232333

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