Der Volksnarr und Schwankheld Nasreddin Hoca. Zur Identitätsfrage eines beliebten Protagonisten humoristischer Kurzprosa im islamischen Orient


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2003

26 Pages, Note: 1.5


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Nasreddin Hoca als historische Person: Ein Forschungsüberblick

3. Nasreddin Hoca mit einer „spezifisch türkischen Mentalität“
3. 1. Pazarkaya: Identifikationsfigur des anatolischen Volkes
3. 2. Melzig: Echter Charakter aus dem Volksmund
3. 3. Akidil: Konkretes Erscheinungsbild im anatolischen Akşehir

4. Nasreddin Hoca als „Integrationsfigur islamischer Erzähltraditionen“
4. 1. Der arabischen Ğuhā
4. 2. Die Methode der vergleichenden Erzählforschung
4. 2. 1. Tekinay: „Der fahrende Schüler aus dem Paradies“
4. 2. 2. Marzolph: „Von den Wissenden und Unwissenden“

5. Schlusswort

6. Bibliographie

1. Einleitung

Der Volksnarr und Schwankheld Nasreddin Hoca zählt zu den beliebtesten literarischen Figuren der gesamten islamischen Welt. Charakterisiert wird er oft als ein Schalk,

„eine Person, die mit Heiterkeit und Freude jemandem eine Posse spielt“ (Goethe),

ein weiser Tor, der hinter das Allbekannte, hinter alles Selbstverständlich Geltende

ein sinnendes, oft verblüffendes Fragezeichen setzt, aber auch ein das Diesseits bejahender Materialist und Freigeist.[1] Er ist bekannt von Istanbul bis Aden, von Marrakesch bis Peking, von Samarkand bis Wanne-Eickel, geliebt und geschätzt bei den judäo-spanischen Exilgemeinden auf dem Balkan wie bei den zentralasiatischen Uiguren wie in oberägyptischen Gemeinden, in den Dörfern Siziliens wie in den Hochhaussiedlungen

der Teheraner Vorstädte, bei den in ganz Europa verstreut lebenden türkischen Arbeitnehmern wie bei der seit Mitte des 19. Jh. stetig wachsenden nicht-islamischen Fangemeinde.[2]

Seine Anekdoten haben sich in sprichwörtlichen Redewendungen in vielen Sprachen niedergeschlagen.[3]

Im allgemeinen Bewusstsein der Bewunderer seiner Schwänke und Anekdoten verkörpert Nasreddin Hoca das Bild eines mittelalterlichen Gelehrten mit Turban und Talar und verkehrt auf einem Esel sitzend. Der Protagonist der beliebten Schwänke wird dazu oftmals in einen konkreten historischen Kontext eingebettet: Der „ursprüngliche Schwankheld“, um den sich die zahlreichen Anekdoten ranken, soll im 13. oder 14. Jahrhundert in der Gegend von Akşehir im südlichen Zentralanatolien gelebt haben

und Zeitgenosse einiger bekannter Persönlichkeiten gewesen sein. So skizziert Goethe Nasreddin Hoca als „launigen Zug- und Zeltgefährten“ Timurs in den Anmerkungen

zum „Westöstlichen Diwan“. Auch viele Wissenschaftler scheinen von einer „spezifisch türkischen Originalität“ des bekannten islamischen Schwankhelden überzeugt zu sein.

Auf der anderen Seite gibt die weit verbreitete Popularität Nasreddin Hocas anderen Erzählforschern den Anlass, die ihm so oft zugeschriebene „türkische Mentalität“ in Abrede zu stellen. Provozierend stellt der Wissenschaftler Ulrich Marzolph die Frage, ob denn

eine so weitverbreitete, in vielen Hunderten von kurzen Erzählungen charakterisierte Figur überhaupt geographisch und historisch bestimmt werden kann. Mehr noch: Es sei sehr fragwürdig, „... dass ein derartiger Kosmopolit (...) von der türkischen Überlieferung

als unveräusserliches Eigentum beansprucht wird.“[4] Statt dessen würde es sich bei

Nasreddin Hoca um eine der populärsten Kristallisationsgestalten humoristischer Kurzprosa im islamischen Orient handeln.

Der Schwerpunkt dieser Hausarbeit liegt darin, diese beiden unterschiedlichen Antworten zur Frage nach der Identität dieses beliebten Schwankhelden darzustellen. Dazu soll zunächst ein kurzer Forschungsüberblick zur Frage der Historizität des „türkischen Hocas“ einleiten. Anschliessend soll die Ansicht, dass die Figur des Nasreddin Hoca mit einem spezifisch türkischen Kontext und einer entsprechenden Mentalität untrennbar verbunden sei, anhand von drei Autoren vorgestellt werden, die mit unterschiedlichen Methoden versuchen, ihre Theorie zu untermauern. Dem gegenüber stehen die Forschungen von Autoren, die Nasreddin Hoca als eine Art Integrationsgestalt unterschiedlicher humoristischer Kurzprosa im islamischen Orient betrachten. Auch hier soll ein Überblick der grundsätzlichen Theorien und der verwendeten Methoden geschehen, welche die Autoren zur Stützung ihrer Überlegungen anführen.

Als Literatur dienten mir hauptsächlich verschiedene Sammlungen von Hoca-Anekdoten, darunter Ulrich Marzolphs „Nasreddin Hodscha - 666 wahre Geschichten“,

„Wer den Duft des Essens verkauft“, übersetzt und herausgegeben von Herbert Melzig und „Das Wort des Esels“ von Orhan Veli Kanik, übersetzt von Yüksel Pazarkaya.

Weitere Werke bildeten „Nasreddin Hodscha und Till Eulenspiegel - Eine Studie zur vergleichenden Schwankforschung“ von Inci Krause-Akidil und das Buch

der Erzählforscherin Alev Tekinay „Materialien zum vergleichenden Studium von Erzählmotiven in der deutschen Dichtung des Mittelalters und den Literaturen des Orients“.

2. Nasreddin Hoca als historische Person: Ein Forschungsüberblick

Die Frage nach der Historizität einer legenderen Persönlichkeit mag für viele Wissenschaftler eine fast schon überflüssige Anstrengung bedeuten. „(Nasreddin Hodscha) existiert de facto und erfreut sich im gesamten islamischen Orient nach wie vor grosser Beliebtheit“,

versucht der Erzählforscher Ulrich Marzolph dieses umstrittene Problemfeld zu relativieren.[5] Doch im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit scheint ein Forschungsüberblick

zu der Frage, ob Nasreddin Hoca überhaupt, und wenn, wo und in welchem Zeitraum gelebt hat, berechtigt, denn mit der Frage der Historizität scheint oft auch die Zuordnung Nasreddins in einen spezifisch türkischen Kontext verbunden. „Schliesslich ist Nasreddin mit seiner stetigen Präsenz nicht nur in Geschichten, sondern vor allem auch in Denkmälern und Reiseandenken schon fast eine Art türkischer Nationalheiliger.“[6]

In der ältesten in einer Turksprache überlieferten Geschichte der Anekdotensammlung

des Lāmi´i Čelebi (gest. 1531) wird Nasreddin Hoca als Zeitgenosse des mystischen Dichters Seyyād Hamza (13. Jahrhundert) geschildert. Der türkische Reisende Evliyā Čelebi besuchte zwischen 1648 und 1650 Nasreddins angebliche Grabstätte in der mittelanatolischen Kleinstadt Akşehir, schrieb ihm Kontakt mit dem Herrscher Timur (Tamerlan: 1336-1404)[7] zu und bezeichnete ihn als Zeitgenossen von Yildirim Beyazit I (1390-1403).

Die bis 1918 angestellten Nachforschungen beziehen sich fast durchgehend auf dieses Reisetagebuch. M. Fuat Köprülüzade[8], Professor für türkische Literaturgeschichte

an der Universität Istanbul, tritt in der Einleitung zu seinem Buch dieser allgemein überlieferten Auffassung entgegen und versucht den Nachweis, dass Nasreddin Hoca

ein ganzes Jahrhundert früher – also im 13. Jahrhundert – gelebt hat und als ein Zeitgenosse

der seldschukischen Sultane Alaeddin Keykubat I (1210-1219) und Alaeddin II (1249-1257) war. Um seine These zu untermauern, zieht er als Beleg die Inschrift der angeblichen Grabstätte Nasreddin Hocas heran, die das Jahr 683 (1284) als Todesdatum vermuten lässt.[9]

I. H. Danĭşmend versucht 1940, Nasreddin Hoca mit dem Finanzminister Nasirüd-din Mahmud, Sohn von Yavlak Arslan zu identifizieren. Dieser Würdenträger herrschte zuerst

in Kastamonu als Bey, dann lebte er in Konya (1283-1291) unter dem seldschukischen Sultan Mesud II (1283-1298)[10]

Die These von Danĭşmend hält Boratav[11] für nicht haltbar, weil sie sich im Wesentlichen

auf die Ähnlichkeit des Namens gründet. Ausserdem steht die soziale Position dieses hohen seldschukischen Beamten im Gegensatz zu dem Nasreddin Hoca, der in grosser Armut

sein Leben führt, wie es sich in den Schwänken widerspiegelt.

I. H. Konyali[12] bringt, nachdem auch er diese These Danismends zurückgewiesen hat,

in seinem Buch ein neues Dokument. Er verweist auf eine Marmorsäule des Grabes von Nasreddin Hoca in Akşehir und eine dort eingelassene Inschrift[13], von einem Soldaten

von Yildirim Beyazit geschrieben und datiert 796 (1398). Dieses Zeugnis würde beweisen, dass Nasreddin Hoca zu diesem Zeitpunkt tot war; folglich konnte er auch nicht Timur begegnet sein, da dieser erst 1402 nach Anatolien kam.

Auf eine spezifische Lokalisierung des Schwankhelden konzentrieren sich die Forscher M. Önder und M. H. Yınanc.[14] Sie versuchen, eine Inschrift auf einem Grabstein zu entziffern, der auf dem Friedhof von Sivrihisar gefunden worden ist. Der Grabstein soll einer Frau namens Fatima, Tochter von Nasreddin Hoca, gehört haben, die 726 (1326) gestorben sei.[15]

Zusammenfassend lassen die verschiedenen Forschungsergebnisse vermuten, dass nur wenig historisch Verlässliches zu Nasreddin Hoca existiert. Hinlänglich belegt scheint,

dass eine Person mit dem Namen Nasreddin, ein offenbar für seine Witze bekannter Hoca

(ein religiöser Lehrer oder Gelehrter), zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert im südlichen Zentralanatolien gelebt hat. Ob diese historische Person auch mit dem Protagonisten

der zahlreichen Schwänke übereinstimmt, ist eine andere Frage. Nimmt man den Inhalt seiner Schwänke als indirekte Hinweise für seine Biographie, so erscheint ein weitaus konkreteres Bild, wie es in der Zusammenfassung des Werkes „Moi, Hoca Nasreddin, Jamais je ne mourrai: Une analyse thematique des contes de Hoca“ von Ilhan Başgöz und Pertev N. Boratav deutlich wird:

„(Nasreddin Hoca) kam im Vorort Hortu von Sivrihisar zur Welt und starb in Akşehir.

Sein Vater Abdullah Efendi war der Geistliche des Dorfes Hortu. Seine Mutter Sıdıka (Hatun) war aus demselben Dorf. Er besuchte die Medrese (Hochschule für Theologie) in Sivrihisar. Nach dem Tod seines Vaters ging er in sein Dorf zurück und wurde so der Geistliche des Dorfes Hortu. 1237 ging er nach Akşehir. Dort besuchte er die Vorlesungen von Seyyid Mahmud Hayrani und Seyyid Hacı Ibrahim und brachte seine Untersuchungen im Bereich des Islams fort. Nach einem Gerede soll er in der Medrese unterrichtet und im Landrat gearbeitet haben. Aufgrund dieser Dienstleistungen hat man ihn mit den Namen Nasuriddin Hâce beehrt. Später nahm dieser Name die Form von Nasreddin Hoca an.

Durch die Zuneigung des Volkes wurde die Information über sein Leben von Munde zu Munde übertragen und gewann somit eine aussergewöhnliche Besonderheit. Innerhalb von diesen Gerede kommt es sogar vor, dass er die Bekanntschaft mit dem Sultan der Seldschuken, dem Mevlânâ Celâleddin, dem Timur, der 70 Jahre später als er zur Welt kommt, gemacht hätte und dass er an verschiedenen Orten zugleich erscheinen sei.“[16]

[...]


[1] Melzig, Duft des Essens, S. 224.

[2] Marzolph, 666, S. 8.

[3] Ebd., vgl. Nr. 338 (Nasreddins Kessel), Nr. 176 (Die Decke) oder Nr.561 (Der Nagel).

[4] Ebd., S. 8.

[5] Marzolph, Überlieferung, S. 285.

[6] Marzolph, 666, S. 11.

[7] Ebd., S. 10.

[8] Köprülüzade, Nasreddin Hoca.

[9] Krause-Akidil, S. 9: Dies ist das Grabmal des verewigten, des selig verstorbenen, der Gnade seines verzeihenden Herrn bedürftigen Nasreddin Effendi. Für seine Seele eine Fatiha. 386; Die Jahreszahl 386 (996) ergibt rückwärts gelesen das Todesdatum von Hoca 683 (1284). Dann führt Köprülüzade noch zwei Urkunden frommer Stiftungen an, von Seyyid Mahmud-i-Hayrani (gest. 1268), die im Jahre 655 (1257), und von Haci Ibrahim Sultan, die im Jahre 665 (1266) geschrieben sind. In diesen Urkunden erscheint der Hoca vor dem Richter.

[10] Dieser Nasirüd-din Mahmud verhinderte in Anatolien böse Taten des mongolischen Königs Keygatu. Da von ihm überliefert ist, dass er unterhaltsam war und dadurch bei dem mongolischen König Gefallen fand, meinte Danĭşmend, er könnte kein anderer sein als Nasreddin Hoca, vgl. Danĭşmend, Nasreddin Hoca kim?

[11] Boratav, Tentatives, S. 22.

[12] Konyali, Akşehir, S. 472.

[13] „Die Schrift ist unvergänglich, das Leben ist vergänglich. Der Mensch ist rebellisch, Gott ist allbarmherzig. Diese Schrift hat Hakir Mehmet, ein Soldat des hochwürdigen Y. Beyazit im Jahre 796 geschrieben.“ Vgl. Krause-Akidil, Schwankforschung, S. 11.

[14] Önder, Yınanc, Nasreddin Hoca., S. 266.

[15] Önder gibt weitere Auskünfte über Nachkommen von Hoca, die aus Sivrihisar stammen: Ein Enkel von Hoca, Hizir Bey (1407-1459) war, bevor er nach der Eroberung Istanbuls (1453) Richter dieser Stadt wurde, Richter und Professor in Sivrihisar. Sowohl Hizir Bey als auch sein Sohn Sinaneddin (gest. 1486) galten als witzig und zu allerlei lustigen Spässen aufgelegt. Die Leute aus Sivrihisar standen insgesamt ebenfalls in diesem Ruf, wie folgende Geschichte zeigt: „Unter Murad III. (1574-1595) kam ein Mann aus Sivrihisar, der ein angeblicher Nachkomme Hocas war, an die erhabene Pforte in Istanbul, um eine Bittschrift zu holen. Er stieg von seinem Pferd vor der grossen Tür des Palastes und band sein Pferd an eine grosse Trommel, die in der Nähe des Tores war. Nach einiger Zeit erschrak das Pferd und scheute, warf die Trommel hin und her und begann zu laufen. Es brachte in kurzer Zeit die ganze Stadt in Panik. Die Leute im Palast gerieten in Unruhe und meldeten es dem Sultan, berichteten über das Geschehen. Sultan Murad befahl unverzüglich die Bittschrift des Mannes zu bewilligen, indem er sagte: Dieser Mann bewies durch dieses Verhalten, dass er Hocas Abkömmling ist, alle anderen Beweise sind überflüssig.“; vgl. Önder, Nasreddin Hoca, S. 67; Boratav, Tentatives, S. 22; Spies, Türkischer Eulenspiegel, S. 8.

[16] http://www.kultur.gov.tr/portal/default_DE.asp?BELGENO=922: Buchpräsentation für Başgöz, Ilhan, Boratav, Pertev N., Moi, Hoca Nasreddin, 2001.

Fin de l'extrait de 26 pages

Résumé des informations

Titre
Der Volksnarr und Schwankheld Nasreddin Hoca. Zur Identitätsfrage eines beliebten Protagonisten humoristischer Kurzprosa im islamischen Orient
Université
University of Bern  (Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie)
Note
1.5
Auteur
Année
2003
Pages
26
N° de catalogue
V23376
ISBN (ebook)
9783638265119
Taille d'un fichier
550 KB
Langue
allemand
Mots clés
Volksnarr, Schwankheld, Nasreddin, Hoca, Identitätsfrage, Protagonisten, Kurzprosa, Orient
Citation du texte
Ann-Katrin Gässlein (Auteur), 2003, Der Volksnarr und Schwankheld Nasreddin Hoca. Zur Identitätsfrage eines beliebten Protagonisten humoristischer Kurzprosa im islamischen Orient, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23376

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