Psychologische Folgen von Migrationserfahrungen bei Kindern und Jugendlichen


Examensarbeit, 2004

84 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Migration und Migrationsforschung
2.1. Migration
2.2. Migrationsforschung
2.3. Europa und Migration
2.4. Deutschland und Migration

3. Die Ursachen von Migration
3.1. „Freiwillige“ und „unfreiwillige“ Migration
3.2. Deprivation
3.3. Push- und Pull-Faktoren
3.3.1. Flucht
3.3.1.1. Historische Ursachen
3.3.2. Fluchtursache politische Verfolgung
3.3.3. Ethnizität und Religion
3.3.4. Fluchtursache Krieg bzw. Bürgerkrieg
3.3.5. Wirtschaftliche Probleme und Naturkatastrophen

4. Psychologische Ansätze in der Migrationsforschung - Migrationshintergründe
4.1. Die Rolle der Motivation
4.2. Die Entscheidung zur Migration
4.2.1. Soziale Faktoren
4.2.2. Kulturelle Aspekte
4.2.3. Reaktanztheorie
4.2.4. Heuristische Entscheidungen

5. Psychologische Folgen von Migrationserfahrungen bei Kindern und Jugendlichen Eine Einführung - Die psychosoziale Situation der Einwanderer
5.1. Historischer Rückblick
5.2. Ingroup – Outgroup: Intergruppenkonflikte und Gewaltbereitschaft
5.3. Ethnizität und Migration
5.4. Kulturkonflikt – Akkulturation
5.4.1. Ein theoretisches Modell der Akkulturation
5.4.2. Psychosoziale Probleme in der Identitätsfindung mit zwei Kulturen
5.4.2.1. Kultur und Identität
5.4.2.2. Kultur und Kulturwechsel
5.4.2.3. Sprache und Identität
5.5. Das „Fremdsein“ und Fremdenfeindlichkeit
5.6. Heimweh als Migrationskrankheit?
5.7. Psychische und psychosomatische Störungen
5.7.1. Begriffsbestimmung
5.7.2. Merkmale der Normabweichung
5.7.3. Merkmale der Beeinträchtigung
5.8. Angst
5.9. Depressionen
5.10. Aggression

6. Schlussgedanken

7. Anhang

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen die psychologischen Folgen von Migrationserfahrungen bei Kindern und Jugendlichen. Ziel dieser Arbeit ist es, die Migrationshintergründe, Ursachen und die Folgen für die Kinder und Jugendlichen unter psychologischen und psychosozialen Aspekten zu verdeutlichen. Die Arbeit soll besonders auf die kulturellen, ethnischen und individuellen Ebenen der Kinder und Jugendlichen eingehen und mit der psychosozialen Situation verbinden.

Die Legitimation für diese Arbeit ist unter zwei Aspekten zu finden:

Erstens, da die multikulturelle Gesellschaft in Deutschland schon existiert und die Folgen dieser Migration erhebliche psychologische Probleme mit sich bringen;

Zweitens, weil in der Literatur meistens entweder nur auf die Ursachen, oder nur auf die Folgen Rücksicht genommen wird. Es liegen auffallend wenige Publikationen aus psychologischer Sicht vor.

Die Reihenfolge der Themen ist nach den realistischen Stufen eines Migrationsprozesses aufgebaut.

Die Arbeit ist in vier Hauptteilen untergliedert:

Im Kapitel 2 wird die Migrationsforschung vorgestellt und die ersten Forschungen verdeutlicht. Die Heranführung an das Thema Migration findet mit der Lage der Migration in Europa und Deutschland statt. Aktuelle Zahlen der Migranten werden dargestellt.

Die Migration findet entweder freiwillig oder unfreiwillig statt. Das heißt, es gibt so genannte Schub- und Sogkräfte. Um die psychologischen Folgen besser verstehen zu können werden vorerst im Kapitel 3 die Migrationsgründe und Ursachen vorgestellt.

Kapitel 4 dient als eine Einleitung zu den psychologischen Folgen. Das Kapitel beinhaltet die Faktoren, die zur Entscheidung der Auswanderung führen. Dabei stehen das Individuum und seine Emotionen in enger Beziehung zum sozialen Umfeld im Mittelpunkt.

Kapitel 5 soll die Folgen der Migrationserfahrungen bei Kindern und Jugendlichen unter psychologischen Aspekten verdeutlichen.

Als Ergänzung wurden noch einige Daten zur Statistik als Anhang zur Verfügung gestellt (Kapitel 7).

Die psychiatrische Ebene wird in dieser Arbeit nicht behandelt. Die Arbeit soll dabei helfen, einen Überblick und Hintergrundwissen zu erschaffen. Die Relevanz dieses Wissens ist für Lehrer/innen, die mit ausländischen Kindern und Jugendlichen Kontakt aufnehmen bzw. in der Schule unterrichten, von großer Bedeutung.

2. Migration und Migrationsforschung

2.1. Migration

Das Wort „Migration“ wird im deutschen Sprachraum als Überbegriff für die verschiedensten Formen von menschlichen Wanderungsbewegungen gebraucht.[1] Als Migranten werden demnach alle Individuen oder Gruppen bezeichnet, die ihre Heimat freiwillig oder gezwungenermaßen verlassen. Die Hintergründe solcher Migrationen können unterschiedlicher Natur sein. Meistens handelt es sich jedoch um politische, religiöse, ökonomische oder ökologische Motive.

„Wanderungsbewegungen sind in erster Linie Ausdruck der Lebensbedingungen und der Entwicklung der Bevölkerung in einzelnen Regionen. Die Umstände, die Menschen veranlassen, sich einen neuen Wohnort zu suchen, haben sich in der letzten Zeit dabei ständig ausgeweitet. Sie erstrecken sich von politischer Unterdrückung, lokalen Differenzen auf ethnischer und religiöser Basis bis zu ökologischen Katastrophen, von Arbeitslosigkeit oder allgemeiner gesagt: von äußerst schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen bis hin zu fehlenden Zukunftsaussichten.“ (Reichow, 1992, S. 52)

2.2. Migrationsforschung

Die Migration wird schon seit einer längeren Zeit von wissenschaftlichen Disziplinen als Gegenstand betrachtet. Seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts haben die Sozialwissenschaften sich damit beschäftigt und die Bedeutung der Migration als einen Faktor im sozialen Wandel erkannt. Auch in der Psychologie wurde die Relevanz erkannt. „Die Psychologie der Migration (Wanderung)“ begann vermutlich mit der Bearbeitung des Themas „Heimweh“ durch HOFER (Jaspers, 1948, Zit. in: Masumbuku, 1994, S. 10), der den Begriff der Nostalgie geprägt hat (siehe Kapitel 5.6.).

Das menschliche Verhalten im Entscheidungs-, Wanderungs- und Anpassungsprozeß unterscheidet sich nicht viel von anderen Formen des Verhaltens. Dieses Phänomen bietet der Soziologie und Psychologie einen gleichen Standpunkt an. Weniger Einigkeit herrscht bezüglich der Erforschung der Wanderungsursachen.[2]

Die Psychologie und Sozialpsychologie thematisieren persönlichkeitsbedingte Ursachen von Migration und Fragen der Identitätsentwicklung im Zuge der Migration.“ (Vgl. Cropley u. a. 1994, 1995, Zit. in: Treibel, 1999, S. 18).

Die Soziologie interessiert sich für die individuellen und gesellschaftlichen Folgen der Migration, wobei sie versucht, dies weniger an einzelnen Wanderungsereignissen festzumachen; sondern zu generellen Aussagen zu gelangen. Diese Aussagen betreffen die Verhaltensmodelle der Migranten und der Einheimischen und die Frage, welche Funktion die Zuwanderung für die Aufnahmegesellschaft erfüllt und wie sie sich dadurch verändert.“ (Zit. in: Treibel, 1999, S. 18).

Trotz der verstärkten Auseinandersetzung bleibt die Migrationsproblematik ein nur bruchstückhaft bearbeitetes Feld der psychologischen Forschung.[3] Einigkeit besteht darüber, dass die Analyse des Phänomens auf verschiedenen Ebenen ansetzen muss, die im Allgemeinen als:[4]

(1.) inter-/intraindividuelle,
(2.) inter-/intragruppale und
(3.) kulturelle/soziopolitische Perspektive beschrieben werden.

Während auf der ersten Ebene die Bereiche Kognition, Emotion und Persönlichkeit angesprochen sind, kommt es auf der zweiten zu einer Thematisierung der Kontakt- und Konfliktmuster des Gruppenkontaktes. Auf der dritten Ebene werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Migrationsprozesses zusammengefasst (z.B. soziale Stellung, Immigrationspolitik der Aufnahmegesellschaft). Obwohl sich die Psychologie auf die Ebenen eins und zwei konzentriert, darf sie die soziopolitische Ebene nicht außer Acht lassen. Die Unvollständigkeit der psychologischen Analyse durch eine Vernachlässigung der Kontextbedingungen muss zu einer Fehlinterpretation der Migrationsprozesse führen[5].

Im späten neunzehnten Jahrhundert formulierte E.G. RAVENSTEIN (1885) die „Migrationsgesetze“ auf der Grundlage der empirischen Analyse über Migration in England und schuf so den ersten theoretischen Rahmen zur Analyse dieses gesellschaftlichen Phänomens. Nach der kritischen Analyse der Volkszählung, die in den Jahren 1871 und 1881 stattfand, berechnete RAVENSTEIN[6] das Ausmaß der Migration in Großbritannien und versuchte die „Gesetze“ zu finden, die diese beschreiben. Damit wollte er seine Beobachtungen sichern. Er stellte sieben „Gesetze“ in seinem Vortrag auf, die seiner Meinung nach der Migration zugrunde liegen, mit der Anerkennung, dass die Bezeichnung „Gesetz“ „somewhat presumptuous“ sei.

Gesetze der Wanderung

(1885/1889, deutsche Übersetzung: Ravenstein 1972 in: Masumbuku, 1994, S. 10f.) :

1.a) Migration über kurze Distanzen ist häufiger als Migration über lange Distanzen.
1.b) Die Migrationsströme bewegen sich in Richtung der großen Handels- und Industriezentren, die die Migration „absorbieren“.

2. Der Absorptionsprozess verläuft schrittweise. Zunächst wandert die in unmittelbarer Nähe der Städte wohnende Landbevölkerung in diese ein. Die dadurch entstehenden Lücken werden durch Migranten aus entfernt liegenden Gebieten aufgefüllt, so dass sich die Anziehungskraft der großen Städte über eine „step by step“-Migration schließlich bis in die entferntesten Gebiete des Landes auswirkt. Verbesserungen des Verkehrssystems können dabei dem Nachteil der weiten Entfernung von Städten entgegenwirken.

3. Jeder Migrationsstrom erzeugt einen gegenläufigen Migrationsstrom.

4. Die Bewohner von Städten neigen weniger zu Migration als die ländliche Bevölkerung.

5. Der Dispersionsprozess[7] verläuft invers (umgekehrt) zum Absorptionsprozess, zeigt aber sonst ähnliche Züge.

6. Migranten, die längere Strecken zurücklegen, gehen vornehmlich direkt in die großen Handels- und Industriezentren.

7. Weibliche Personen neigen stärker zur Migration als die ländliche Bevölkerung.“

Seine Typologien geben einen systematischen Aufschluss über den Verlauf und die Ströme von Wanderungen in der ´Hoch-Zeit´ der britischen Industrialisierung und Urbanisierung.[8]

Obwohl einige der von RAVENSTEIN formulierten „Gesetze“ keineswegs jene Universalität besitzen, die der Begriff „Gesetz“ suggeriert, so beinhalten sie doch jene Prinzipien, die den Großteil der Migrationsforschung im 20. Jahrhundert dominieren. Es wurde in der wissenschaftlichen Diskussion der externe Ansatz als Ursache der Migration behandelt.[9] Die Forschungsarbeit von RAVENSTEIN gilt als erste beachtenswerte Migrationforschung, die jedoch aus wissenschaftslogischer Sicht gesehen nur den Status empirischer Regularitäten beanspruchen kann.[10]

Eine der wichtigsten soziologischen Migrationstheorien wurde von Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny vorgelegt. HOFFMANN-NOVOTNY (1970) gibt die Aussagen von RAVENSTEIN in abgeänderter Form wieder. Als „Gesetz“ formuliert er, dass alle Menschen das Bedürfnis haben, ihre materiellen Lebensbedingungen zu verbessern. Im Verhältnis zu den Ressourcen bestehen in den Städten eine Unterbevölkerung und ein höherer Lebensstandard, auf dem Lande eine Überbevölkerung und ein geringerer Lebensstandard. Zum Schluss formuliert er folgendes:

Migrationsströme bewegen sich vom Land in die Städte

(Hoffmann-Novotny, 1970, S. 45, Zit. in: Masumbuku, 1994, S. 11).

Die allgemeine Basishypothese bei HOFFMANN-NOVOTNY lautet: „Strukturelle Spannungen sind die zentralen Determinanten des Wandels sozialer Systeme“.[11]

Die Erklärungen von RAVENSTEIN und HOFFMANN-NOVOTNY zur Gesetzmäßigkeit der Migration sind heute teilweise nicht mehr aktuell:[12]

- Der „rural exodus“ in den meisten Industriestaaten ist stark zurückgegangen
- In den Industriestädten haben sich die Arbeitsmöglichkeiten für Migranten drastisch verschlechtert.
- Die Arbeitssuchenden Migranten und ihre Familien sind in vielen Ländern keine willkommenen Gäste mehr.
- Früher war die Migration über kurze Distanzen mit der Arbeits- und Wohnmöglichkeit verbunden. Heutzutage werden Umweltbedingungen als Ursache für die Migration über kurze Strecken angegeben.

HEBERLE (1955) hebt einige Mängel der klassischen Wanderungstheorie hervor und er beschreibt die Forschungssituation mit der treffenden Feststellung, dass „die außerordentlich umfangreiche Literatur über menschliche Wanderungen nicht sehr viel zur Förderung prinzipieller Erkenntnis beigetragen hat“.[13] HOFFMANN-NOVOTNY (1970, S. 95 Zit. in: Masumbuku, 1994, S. 11f.) resümiert darüber hinaus: „Die psychologische und sozialpsychologische Richtung der Migrationsforschung konnte ebenfalls wenig zu allgemeineren Gesetzmäßigkeiten beitragen“.

2.3. Europa und Migration

Die bedeutendste Form der Migration bildeten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ethnische Säuberungen bzw. Vertreibung und Umsiedlung ethnischer Gruppen nach dem ersten Weltkrieg sowie während und nach dem zweiten Weltkrieg.[14]

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs gelang es den Volkswirtschaften der westeuropäischen Länder zunächst, die meisten Flüchtlinge, Vertriebenen und Kolonialheimkehrer ökonomisch zu integrieren. Ab Mitte der 50er Jahre begannen einige Staaten Westeuropas, ihren zusätzlichen Bedarf an billigen, wenig qualifizierten Arbeitskräften durch Zuwanderung aus ehemaligen oder damals noch bestehenden Kolonien und Überseegebieten zu decken. Andere Länder - darunter auch die Bundesrepublik Deutschland - holten Gastarbeiter aus dem Mittelmeerraum: zuerst aus Italien, Spanien, Portugal und Griechenland, später aus Marokko, Algerien, Tunesien, schließlich aus der Türkei und dem früheren Jugoslawien.[15] In einigen westeuropäischen Ländern - besonders in Großbritannien und Frankreich - führte 1973 die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation der „sichtbaren“ Immigrantengruppen und der einheimischen Unterschichten schon damals zu beträchtlichen sozialen Spannungen.[16]

In der zweiten Hälfte der 70er Jahre bewirkten Anwerbestopp und Einwanderungsbeschränkungen in einigen Ländern eine Verkleinerung der ausländischen Wohnbevölkerungen. Am stärksten sank der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz. Dort gab es schon damals eine politisch einflussreiche fremdenfeindliche Lobby.[17] Unter dem Eindruck steigender Einwandererzahlen wurde schon im März 1963 eine erste staatliche Maßnahme ergriffen, um die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte zu beschränken. Diese Begrenzungsmaßnahmen wurden mit der „Abwehr der Überfremdung“ und mit „konjunkturpolitischen Gründen“ begründet.[18] Vor 1973 waren viele von den Arbeitsmigranten bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses ausgereist und bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit wiedergekommen. Den „Anwerbestopp“ haben viele von ihnen so verstanden, dass dies in der Zukunft nicht mehr möglich sein würde. Also blieben viele ausländische Arbeitskräfte im Zielland, auch wenn sie hier gerade keine Arbeit hatten. Sie holten Ehepartner und Kinder nach oder gründeten in Deutschland oder anderswo in Westeuropa eigene Familien. Aus Arbeitsmigranten auf Zeit wurden somit erst nachträglich Einwanderer.[19]

2.4. Deutschland und Migration

Betrachtet man in Deutschland „Migration“ unter historischen Gesichtspunkten, so zeigt sich, dass Wanderungsbewegungen von und nach Deutschland umfassend mit der Entwicklung des Landes verbunden sind. Im 16. Jahrhundert beispielsweise setzte ein Wanderungsstrom von Niederländern, Hugenotten, Waldensern und Salzburgern nach Deutschland ein. Diese Zuwanderer waren größtenteils sehr geschätzt, da beispielsweise die französischen Glaubensflüchtlinge zum Aufschwung der Tuch-, Seiden- und Samtproduktion beitrugen.[20]

Deutschland bildete auch den Ausgangspunkt für Wanderungsbewegungen. Zwischen 1816 und 1914 wanderten etwa 5,5 Millionen Deutsche in die Vereinigten Staaten aus. Diese Wanderungsbewegungen hatten hauptsächlich sozialökonomische Ursachen, da in Deutschland ein Missverhältnis zwischen Bevölkerungswachstum und dem Erwerbsangebot im Übergangsstadium von der agrarischen zur industriellen Produktion vorherrschte.[21]

Im Zweiten Weltkrieg hingegen wurden in Deutschland deportierte Fremdarbeiter beschäftigt. So waren 1944 etwa 7,8 Millionen ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene im Deutschen Reich im „Arbeitseinsatz“.[22] Sowohl die Ein- als auch die Auswanderung bilden also einen Bestandteil der deutschen Entwicklungsgeschichte im globalen Kontext. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte im Zuge des „Wirtschaftswunders“ schließlich erneut die gezielte Anwerbung von Arbeitskräften. So schloss die Bundesrepublik 1955 die deutschitalienische Vereinbarung über die organisierte Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften. Es folgten Anwerbeverträge mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Türkei (1961), mit Portugal (1964), mit Tunesien und Marokko (1965) sowie mit Jugoslawien (1968).[23] Damit begann die Zeit der Gastarbeiter, um Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen. An langfristige Entwicklungen mit vielen Folgeproblemen wurde dabei nicht gedacht. Im Vordergrund standen arbeitsmarktpolitische Kosten-Nutzen-Erwägungen und europäische Ideen.[24]

Die Situation der zugewanderten, ausländischen Bevölkerung ist von Generation zu Generation unterschiedlich gewesen:

Die erste Generation der Zugewanderten ist schwerwiegend von patriarchalischen Familienstrukturen und Traditionen des Herkunftslandes geprägt. Diese Generation ist vom „fremden“ Umfeld verunsichert und versucht als Minderheit an alten Werten festzuhalten. Die Tradition wird in der Familie weitergelebt. Dieses Verhalten führt zu einer Diskrepanz und erschwert den Eingliederungsprozess in die deutsche Gesellschaft.[25]

In der zweiten Generation verschärft sich diese patriarchalisch-traditionelle Struktur. Es entsteht nicht nur eine Diskrepanz zur deutschen Gesellschaft, sondern auch zur eigenen Familie. Besonders deutlich kann man das bei Mädchen und Frauen beobachten, die einerseits „das moderne Leben“ entdeckt haben, aber durch die Familie gezwungen sind an die heimatlichen Werte zu achten. „Die Selbständigkeit“ die sie in Deutschland kennen gelernt haben wird oft von den Familien nicht toleriert. Die Folgen sind meistens psychosomatische Krankheiten und oft auch Selbstmord. Diese Generation bezeichnet sich häufig selbst als „heimatlose“, „gespaltene“ Generation.[26]

Diese Problematik taucht in der dritten Generation der Zugewanderten weniger auf. Das Rollenverhalten der Familie, in dem sie aufwuchsen, hat sich bereits verändert. Sie erleben keine Integrationsprobleme, weil sie schon in die deutsche Gesellschaft hineingewachsen sind. Sie sprechen wie Deutsche, sie verhalten sich wie Deutsche. Diese Generation bezeichnet sich als „Inländer mit fremdem Pass“.[27] Die Problematik ist das „fremde Aussehen“. Oft gibt es Probleme mit Arbeitsstellen. Die Angst vor der Fremdenfeindlichkeit spielt für diese dritte Generation eine große Rolle.

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde das Thema „Fremdenfeindlichkeit“ wieder aktuell. Es begann zuerst mit Kampfparolen wie „Ausländer raus“ und „Deutschland den Deutschen“. Dem folgten nächtliche Brandanschläge auf die Unterkünfte, die vorwiegend mit Asylsuchenden bewohnt waren. Aber nicht nur zugewanderte Minderheiten waren betroffen, sondern auch Obdachlose, schwache und behinderte Menschen. Die Begründung für solche Taten liegt oft an Perspektivenmangel, Orientierungslosigkeit, sozialer Angst, Frustration und Aggression, Hass und Wut.[28]

Statistik:

Im Jahr 1991 lebten rund 5,9 Mill. ausländische Personen im Bundesgebiet, was einem Anteil von 7,3% an der Gesamtbevölkerung entsprach (Auszählung des Ausländerzentralregisters). Dieser Anteilswert stieg bis 1997 auf 9,0% (7,4 Mill. Ausländerinnen und Ausländer). Seit 1997 geht die Zahl der ausländischen Bürger in Deutschland zurück und betrug Ende 2001 rund 7,3 Mill. (8,9% der Gesamtbevölkerung). Dazu trugen die Einbürgerungen von ausländischen Personen in den Jahren 1999 (143 000), 2000 (186 700) und 2001 (178 100) bei.[29]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Ausländische Mitbürger in der Bundesrepublik Deutschland am 31. 12. 2001

Quelle: Bundesverwaltungsamt – Ausländerzentralregister (Aktualisiert: September 2003)

Diese Graphik (siehe Abb. 1) soll nur die Aufteilung bzw. die prozentuale Zahl der Kinder unter 16 Jahre verdeutlichen. Die Gesamtzahl hat sich natürlich verändert und sieht wie folgt aus:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1: Bevölkerung nach Geschlecht und nach Staatsangehörigkeit (Deutsche und Ausländer)

Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland (Aktualisiert: 16. September 2003)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 2: Räumliche Bevölkerungsbewegung (Ein- und Auswanderungen)

Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland (Aktualisiert: 1. Oktober 2003)

3. Die Ursachen von Migration

Die Ursachen der Migration sind in der Regel biographische Entscheidungsmodelle nach rationalistischem Muster. Die Soziologen bezeichnen diese Ursachen als Push- und Pull-Faktoren. Die wichtigsten Ursachen für freiwillige Wanderung weltweit sind die Arbeitssuche, die politische Situation und erst nachrangig die persönliche Situation.[30] Allerdings darf man die Folgen der „unfreiwilligen“ Migration nicht außer Acht lassen, die als Fluchtursachen (z.B. Vertreibung) gelten.

3.1. „Freiwillige“ und „unfreiwillige“ Migration

Die Migration wird nach den unterschiedlichen Migrationsursachen und dem Status unter zwei Aspekten behandelt. Zunächst „freiwillige“ und anschließend die „unfreiwillige“ Migration. Unter „freiwilliger“ Migration werden die „Wirtschaftsflüchtlinge“ und vertraglich geholte „Gastarbeiter“ verstanden. Die „unfreiwillige“ Migration bezieht sich auf politisch Verfolgte und Bürgerkriegsflüchtlinge. Die wichtige Frage bei der „freiwilligen“ Migration ist es, ob die Person tatsächlich freiwillig nur um zu arbeiten ausgewandert bzw. eingewandert ist? Oder hat die wirtschaftliche Situation des Herkunftslandes bzw. Ziellandes bei der Entscheidung eine bedeutende Rolle gespielt?

Diese Kategorisierung ist für vielfältige Formen von Wanderung zumindest zu grob und sogar falsch, wenn sie suggerieren will, dass Arbeitsmigration freiwillig sei:

Die eindrucksvollen sardischen Wandmalereien, mit denen sich die einheimische Bevölkerung mit der Emigration auseinandersetzt, zeigen oft die Parole „Emigration ist Deportation“ und drücken damit deutlich aus, wie die Betroffenen selbst ihre „freiwillige“ Arbeitsmigration auf das italienische Festland empfinden. (Thurau, 1985)

Sicherlich werden auch die meisten „freiwilligen“, also Arbeitsmigranten, eine Abneigung gegen Selbstentwurzelung haben, was im Empfängerland oft negativ als mangelnde Integrationsbereitschaft interpretiert wird. Auf der anderen Seite können Flüchtlinge, die in einem westlichen Industriestaat Asyl suchen, durchaus positive, originäre Motivation zur Migration haben.[31] Die Freiwilligkeit wird in den wenigen ausdrücklich handlungstheoretisch ausgerichteten Migrationstheorien hervorgehoben. Der Begriff „freiwillig“ wird von Zwangswanderung, wie Vertreibung und Flucht, differenziert.[32]

3.2. Deprivation

Deprivation wird in den Wörterbüchern wie folgt definiert:

Allgemeine Bezeichnung für einen Zustand des Entzugs, des Mangels, der Entbehrung oder Ausbleiben der Befriedigung eines Bedürfnisses“.

Um das Wort „Deprivation“ zu verdeutlichen, müssen wir zu SKINNERS Lerntheorie zurückgreifen. Seine Grundbegriffe sind: Reize und Verhalten. Manche nach einem Verhalten auftretende Reize steigern die Häufigkeit dieses Verhaltens; solche Reize heißen Verstärker.[33] Primäre Verstärker sind, die schon immer, von Geburt an, als Verstärker wirken. Sekundäre Verstärker sind gelernte Verstärker.[34] Wird der gleiche Verstärker allzu oft erlebt, sinkt seine Attraktivität und damit seine Wirksamkeit in Lernprozessen und wird als Sättigung bezeichnet. Umgekehrt kann der längere Entzug eines Verstärkers (Deprivation) zu einer Aufwertung führen.[35]

Die Beziehung zwischen Deprivation und Migration taucht oft in der Migrationsforschung als eine mögliche Ursache auf, aber außer einiger Studien gibt es wenige Hinweise auf die Details. Trotzdem hat man festgestellt, dass massive Auswanderung meistens während unerträglicher Bedingungen in ökonomischen und/oder sozialen Krisen auftreten. Sie soll immer mit absoluter oder relativer Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen oder den Zukunftsaussichten im Ursprungsland verbunden sein.[36]

Oft sind das die Existenzbedürfnisse, die im Heimatland nicht mehr existieren. In der Regel werden solchen Menschen diese Bedürfnisse geraubt. Mit „Existenzbedürfnissen“ meint man die drei Grundbedürfnisse „Unterhalt“, „Schutz“ und „Liebe“.[37] Wird einem politisch Verfolgten also zum Beispiel der „Unterhalt“ entzogen, kann das ganz unterschiedlich aussehen. Zum Beispiel kann man dafür sorgen, dass er weniger zu essen und zu trinken bekommt. Man kann ihn von Luft und Licht fernhalten, ihm den Schlaf entziehen und ihm keine Möglichkeit geben sich zu erholen, zu bewegen oder überhaupt Sinnesreize aufzunehmen. Die Arbeit kann man ihm wegnehmen, verbieten oder ihn zwingen unentgeltlich für andere zu arbeiten. Die Verunmöglichung sexueller Kontakte und Sterilisation sind weitere Praktiken. Deportation oder Aussetzung unter extremen Bedingungen, Verweigerung von Hilfsmitteln die das Überleben sichern, Raub, Körperverletzung und Tötung sind keine Seltenheit. Den „Schutz“ nimmt man einem Menschen, indem man ihm die Menge an Nahrung entzieht, die er zum Leben braucht, ihm Medikamente abnimmt und medizinische Untersuchungen verweigert. Jede Selbstverteidigung wird bestraft und Schutz vor Hitze, Trockenheit, Kälte, Nässe und schädliche Stoffe unmöglich gemacht. Das Grundbedürfnis ,,Liebe" nimmt man einem Menschen, indem man ihm die Selbstachtung und sein Selbstvertrauen zerstört. Respekt und Achtung kommen diesen Menschen nicht mehr zu, ebenso keine Hilfe und Solidarität von Freunden oder der Gemeinschaft.

3.3. Push- und Pull-Faktoren

Das Zusammenwirken der ökonomischen und demographischen Faktoren in der Herkunftsregion mit denen der Zielregion wird als „Push-Pull-Modell“ bezeichnet. In diesem Modell, das auf EVERETT S. LEE (1972) zurückgeht, werden zwei Gruppen von Faktoren unterschieden: Push-Faktoren und Pull-Faktoren.[38]

Die Push-Faktoren beinhalten die Ursachen der Vertreibung; die Pull-Faktoren, die Anziehung. Die Wanderung findet statt, wenn die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die in der Heimatregion des oder der Wandernden unzureichend und in der Zielregion attraktiver ist.[39] In der Heimatregion ist der Druck der Deprivation die größte abstoßende Kraft, die für die Auswanderung verantwortlich ist. Die Zukunftsaussichten und bessere Lebensqualität der Zielregion sind als anziehende Kraft zu bezeichnen.[40]

Die Erklärung, dass sich jemand von Ort A hinaus gestoßen fühlt, reicht nicht. Es ist notwendig, zu verstehen, warum sie Ort B als Ziel auswählen und nicht Ort C. Beide Push- und Pull-Faktoren zusammen sind entscheidend für die Auswahl des Zielorts.

Am Beispiel Mexiko – Vereinigte Staaten von Amerika (im Folgendem kurz USA genannt) wird es deutlich aus welchen Gründen die Bevölkerung das Heimatland verlassen und in die USA einreisen will (siehe Abb. 2). Die Deprivation und abstoßende Kräfte (Push-Faktoren) werden von den Anziehungskräften (Pull-Faktoren) ergänzt und als Antrieb für die Migration dargestellt.

[...]


[1] Vgl. Masumbuku (1994, S. 12)

[2] Vgl. Lüthke (1989, S.17)

[3] Vgl. Bierbrauer (1996, S. 174)

[4] Vgl. Bierbrauer (1996, S. 175)

[5] Vgl. Berry (1996, S. 171ff.)

[6] In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, hielt der Demograph und Kartograph Ernest George Ravenstein vor der „Royal Statistical Society“ seinen Vortrag über die „Gesetze der Wanderung“ (The Laws of Migration). Dieser Vortrag, den die Gesellschaft in zwei Folgen in ihrem Journal abdruckte, gilt als Beginn der Migrationsforschung. (Vgl. Treibel, 1999, S. 25)

[7] Als „Dispersion“ bezeichnet Ravenstein die Abgabe oder den Verlust von Migranten, den ein bestimmter Bezirk erfährt. (Zit. in: Masumbuku, 1994, S. 10)

[8] Vgl. Treibel (1999, S. 25)

[9] Vgl. Cropley (1995, S. 146)

[10] Vgl. Hoffmann-Novotny (1970, S. 45)

[11] Vgl. Hoffmann-Novotny (1970, S. 36)

[12] Vgl. Masumbuku (1994, S. 11)

[13] Vgl. Heberle (1955, S. 78)

[14] Vgl. Fassmann / Münz (1996, S. 13)

[15] Vgl. Fassmann / Münz (1996, S. 22)

[16] Vgl. Coleman (1996, S. 53ff.)

[17] Vgl. Fassmann / Münz (1996, S. 23)

[18] Vgl. Straubhaar / Fischer (1996, S. 183ff.)

[19] Vgl. Fassmann / Münz (1996, S. 23)

[20] Vgl. Bade (1994, S. 17)

[21] Vgl. Bade (1994, S. 21f.)

[22] Vgl. Bade (1994, S. 35)

[23] Vgl. Bade (1994, S. 36)

[24] Vgl. Bade (1992, S. 28)

[25] Vgl. Winkler (1992, S. 36)

[26] Vgl. Winkler (1992, S. 36)

[27] Vgl. Winkler (1992, S. 37)

[28] Vgl. Bade (1994, S. 65ff.)

[29] Vgl. Voit - Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Februar 2003).

[30] Vgl. Schönpflug (2003, S. 516)

[31] Vgl. Masumbuku (1994, S. 12ff.)

[32] Vgl. Esser (1980, S. 25)

[33] Vgl. Herkner (2001, S. 23)

[34] Vgl. Herkner (2001, S. 54)

[35] Vgl. Herkner (2001, S. 59)

[36] Vgl. Masumbuku (1994, S. 14ff.)

[37] Vgl. Boumans (1997, S. 11)

[38] Vgl. Blahusch (1992, S. 43)

[39] Vgl. Treibel (1999, S. 40)

[40] Vgl. Masumbuku (1994, S. 19)

Ende der Leseprobe aus 84 Seiten

Details

Titel
Psychologische Folgen von Migrationserfahrungen bei Kindern und Jugendlichen
Hochschule
Universität Lüneburg  (Institut für Psychologie)
Note
1,5
Autor
Jahr
2004
Seiten
84
Katalognummer
V25935
ISBN (eBook)
9783638284240
ISBN (Buch)
9783656619833
Dateigröße
1659 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychologische, Folgen, Migrationserfahrungen, Kindern, Jugendlichen
Arbeit zitieren
Okan Cagpar (Autor:in), 2004, Psychologische Folgen von Migrationserfahrungen bei Kindern und Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25935

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