Ästhetik des Verschwindens bei Christian Kracht

Zur Regression in "Faserland", "1979", "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" und "Metan"


Thèse de Master, 2013

67 Pages, Note: 2,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definition der Ästhetik des Verschwindens

3. Verschwinden bei Christian Kracht
3.1 Jemand verschwindet
3.1.1 Faserland
3.1.1.1 Örtliches Verschwinden
3.1.1.2 Flucht vor Gesellschaft und Geschichte
3.1.1.3 Verschwinden aus dem Leben
3.1.2 1979
3.1.2.1 Herr-Knecht-Verhältnisse
3.1.2.2 Mavrocordato
3.1.2.3 Der Berg Kailas und das chinesische Arbeitslager
3.2 Alles verschwindet
3.2.1 Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
3.2.1.1 Genremix
3.2.1.2 Die SSR
3.2.1.3 Das Réduit
3.2.1.4 Regression der Technologie und der Gesellschaft
3.2.2 Metan
3.2.2.1 Pseudo-Sachbuch mit abstrusen Kausalketten
3.2.2.2 Der neue „Mensch“

4. Ästhetik des Verschwindens bei Christian Kracht

5. Schlussgedanken

Literaturverzeichnis

Eigenständigkeitserklärung.

„Alles lebt ausschließlich auf der Grundlage seines Verschwindens, und wenn man die Dinge in aller Hellsichtigkeit interpretieren will, muß man es unter Berücksichtigung ihres Verschwindens tun. Es gibt kein besseres Analyseraster.“

Jean Baudrillard

1. Einleitung

Christian Kracht wird gemeinhin als Popliterat bezeichnet, auch wenn er selbst behauptet, dass er mit diesem Label gar nichts anzufangen weiß.[1] Auf jeden Fall ist seine Prosa insofern Popliteratur, als sie eine breite Leserschaft anspricht. So erzeugen Krachts Romane immer wieder ein großes Medienecho. Schon das Debüt Faserland wurde in allen großen deutschsprachigen Feuilletons thematisiert, wenngleich nicht immer gefeiert. „Christian Krachts Deutschlanddurchquerung ‚Faserland‘ ist das am meisten mißverstandene Buch der neunziger Jahre“[2], stellte Georg Diez sieben Jahre später in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fest. Das Echo auf Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten war hingegen durchweg positiv und der Roman wurde sogar als Theaterstück aufgeführt.[3] Für Furore sorgte Christian Kracht dann wieder mit Imperium, das heiß diskutiert wurde, dem gar nachgesagt wurde, dass der Autor mit diesem Buch rechtes Gedankengut im Mainstream etabliere. Schließlich aber wurde der Roman mit dem Wilhelm-Raabe-Preis geehrt.[4]

In der Fachliteratur über das Werk Christian Krachts ist das Aussteigermotiv bereits ausgiebig beforscht worden; als Beispiele dafür seien die beiden Sammelbände Christian Kracht. Zu Leben und Werk von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter sowie Depressive Dandys der Herausgeber Alexandra Tacke und Björn Weyand genannt. In der vorliegenden Arbeit soll das mit dem Aussteigen verwandte, aber allgemeiner gefasste Verschwinden untersucht werden. Dieses ist nicht allein auf Einzelpersonen beschränkt und kann als globaler Diskurs im Gegensatz zu dem spezifischeren des Aussteigers verstanden werden.

Dem Verschwinden begegnet man nicht allein innerhalb der Bücher, sondern auch bei der Person des Autors: Kracht inszeniert zuweilen sein eigenes Verschwinden, beispielsweise in Bezug auf seine Selbstdarstellung im Web, die im Folgenden noch thematisiert wird.

Ziel dieser Arbeit ist es aufzuzeigen, wie das Verschwinden in den Büchern Christian Krachts behandelt wird, welche Funktion und Bedeutung es hat und welche Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Entwicklungen sich in Bezug auf das Verschwinden feststellen lassen. Als Ergebnis dieser Untersuchung soll anschließend eine Ästhetik des Verschwindens in den Romanen Christian Krachts formuliert werden.

Den Untersuchungsgegenstand bilden die drei ersten Romane von Christian Kracht, die in der Fachliteratur als eine Trilogie bezeichnet werden: Faserland (1995), 1979 (2001) und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008). Obwohl diese drei Bücher weder vom Autor noch vom Verlag als Trilogie deklariert worden sind, wird sich zeigen, dass zwischen ihnen zahlreiche Gemeinsamkeiten, insbesondere mit Blick auf den Verschwindens-Diskurs, bestehen. Des Weiteren wird das Werk Metan analysiert, das Kracht 2007 zusammen mit Ingo Niermann veröffentlicht hat. Die beiden Autoren haben bereits gemeinsam am von Joachim Bessing herausgegebenen Sammelband Tristesse Royale (1999) mitgearbeitet. Metan, ein literarisches Experiment, stellt eine scheinbar wissenschaftliche Behandlung des Verschwindens dar, obwohl es sich bei diesem Buch eigentlich um Prosa handelt. Obgleich in einem ganz anderen Stil geschrieben, ist dieser Roman (?) eng mit der Trilogie Krachts verknüpft. Dessen neuestes Buch Imperium (2012) verfolgt eine neue Strategie, die am Ende dieser Arbeit erklärt wird, und wird deshalb hier nicht behandelt.

Die vorliegende Arbeit ist dreigeteilt: Im ersten Teil wird dargestellt, wie die Ästhetik des Verschwindens in der Philosophie von Jean Baudrillard und Paul Virilio verstanden wird, welche sich umfassend mit ihr beschäftigt haben und eine „Kunst des Verschwindens“ beschreiben, die wiederum trefflich auf die Literatur übertragen werden kann. Die philosophischen Überlegungen sollen einen gedanklichen Ausgangspunkt für die Betrachtung der Prosa im zweiten Teil darstellen. Dort nämlich werden die vier Bücher analysiert. Dieser Teil unterteilt sich in zwei Unterkapitel: das Verschwinden eines Einzelnen und das der gesamten Gesellschaft. Die Bücher werden separat untersucht, wobei die jeweilige Entwicklung und Bedeutung des Verschwindens festgestellt werden soll. Die Schwerpunkte der einzelnen Unterkapitel ergeben sich aus den Romanhandlungen. In diesem Teil der Arbeit werden also Einzelbetrachtungen vorgenommen, aber eine Progression in Bezug auf das Verschwinden in den Büchern wird sich auch hier bereits andeuten. Im dritten Teil werden schließlich die Ergebnisse zusammengefasst und strukturiert. Indem die Erkenntnisse über den Verschwindens-Diskurs vereint werden, ergibt sich eine Ästhetik des Verschwindens bei Christian Kracht.

Als Grundlage für den ersten Teil dienen die Werke Warum ist nicht alles schon verschwunden? von Jean Baudrillard und Ästhetik des Verschwindens von Paul Virilio. Aus dem vielschichtigen Sammelband von Birgfeld und Conter sind insbesondere die Artikel „Antihumaner Ästhetizismus. Christian Kracht zwischen Ästhetik und Moral“ von Sebastian Domsch für den Roman Faserland sowie Gonçalo Vilas-Boas’ „Krachts 1979: Ein Roman der Entmythisierungen“ und Leander Scholz’ „Anmerkungen zu 1979“ für die Untersuchung von 1979 hervorzuheben. Verschiedene Ideen zur Betrachtung von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten liefern die „Intensitätsräume“ von Brigitte Krüger. Für alle Bücher der Trilogie bietet Richard Langston interessante Ansätze („Escape from Germany: Disappearing Bodies and Postmodern Space in Christian Kracht’s Prose“). Über Metan gibt es bisher nur wenig Literatur, aber einige Aspekte des Verschwindens werden in den Artikeln von Fabian Lettow sowie von Eckard Schumacher aus Christian Kracht. Zu Leben und Werk thematisiert.

2. Definition der Ästhetik des Verschwindens

Bevor die Funktion des Verschwindens in den Romanen von Christian Kracht untersucht und im Anschluss daran eine Ästhetik des Verschwindens formuliert werden soll, wird in diesem Kapitel eine philosophische Definition der Ästhetik des Verschwindens skizziert. Die Grundlage dazu bilden der essayistische Band Warum ist nicht alles schon verschwunden? (2008) des Poststrukturalisten Jean Baudrillard, die letzte von ihm verfasste philosophische Schrift, welche in der Tradition seines medientheoretischen Schaffens steht, sowie das Buch Ästhetik des Verschwindens des Medienkritikers und Philosophen Paul Virilio, die 1980 erschien. Während Virilio bei seinen Überlegungen Medien im Allgemeinen anführt, werden in Warum ist nicht alles schon verschwunden? Aussagen anhand der Fotografie konkretisiert, welche aber uneingeschränkt auf andere Medien übertragen werden können. Beide Autoren thematisieren das Verschwinden beim Menschen, welches im Gegensatz zu Verschwindensvorgängen in der Natur, „physikalische[n] Prozesse[n] oder Naturphänomene[n]“[5], nichts Natürliches, sondern eine Art Kunst sei.[6] Grundsätzlich wird unterschieden zwischen dem Verschwinden des Realen und dem des Subjekts, welches sich wiederum aus zwei Warten betrachten lässt: das Verschwinden eines einzelnen Subjekts und das der gesamten Gesellschaft.

Der Mensch habe Technik erschaffen, damit er mit ihr die Welt um sich herum verstehen kann. So dienen beispielsweise die Naturwissenschaften dazu, Dinge und Ereignisse erklären zu können, ohne auf Götter oder andere Vermittler verweisen zu müssen. Doch die reale Welt beginne „paradoxerweise genau zu jenem Zeitpunkt zu verschwinden, da sie zu existieren beginnt“, denn eine wissenschaftliche, eine technisch ermöglichte, Betrachtung der Welt bedeute gleichzeitig eine Analyse dieser. Analysieren wiederum sei die Auflösung der „rohen Realität“. Indem der Mensch die Welt verändert und analysiert, entledige er sich ihrer.[7] An ihre Stelle trete dann eine technisch erschaffene Konzept-Realität, die durch Technisierung das Reale immer mehr verschwinden lässt.[8]

Diese Art von Verschwinden durch Analysieren kann man anschaulich am sprachlichen Zeichen verdeutlichen: Wird einem Konzept ein Begriff zugeordnet, so wird sich der Mensch dieses Zeichens überhaupt bewusst. Der Begriff lässt das Konzept also erst existieren, aber es gehört nicht der „rohen Realität“ an, sondern dem Zeichensystem – das heißt einer Konzept-Realität. „Der Moment, da eine Sache benannt wird, da sich die Vorstellung und der Begriff ihrer bemächtigen, ist eben jener Moment, da sie beginnt, ihre Energie einzubüßen – auf die Gefahr hin, zu einer Wahrheit zu werden oder sich als Ideologie aufzuzwingen.“[9]

Einen Schritt weiter gedacht, könnten Ideen und ganze Utopien sich in ihrer Realisierung verflüchtigen. Utopien seien ein Antrieb für Fortschritt, den der Mensch stets anstrebe und deshalb immer neue Technologien erschaffe, um diesen Utopien näherzukommen. Durch beständig fortschreitende Technisierung und Automatisierung, die wiederum ein standardisiertes Verhalten vom Individuum verlangten, damit jene optimal umgesetzt werden können, mache der Mensch einer künstlichen Welt Platz, die er selbst erschaffen hat und welche „rein operational“, das heißt ohne Bedarf unserer Vorstellungen, funktioniere.[10] Letztendlich wird laut Baudrillard eine künstliche Welt existieren, in der der Mensch selbst überflüssig ist.

Nun stellt sich die Frage, warum der Mensch eine solche Entwicklung würde provozieren wollen, an deren Ende sein eigenes Verschwinden steht. Baudrillard sieht den Antrieb für diese Evolution keinesfalls in „irgendeinem Todestrieb, einer involutiven oder regressiven Veranlagung in Richtung undifferenzierter Formen“, sondern im menschlichen Drang, seine Macht auszuleben und all seine Fähigkeiten so weit wie nur möglich einzusetzen. Zudem deutet Baudrillard an, dass die menschliche Evolution dadurch beschleunigt wird, dass sie selbst verursacht wird – ein schneller technischer Fortschritt provoziere wiederum technische Fortschritte.[11]

Für Paul Virilio stellt der dem Menschen eigene Geschwindigkeitsdrang den einen Antrieb des Verschwindens dar. Das verdeutlicht er am Beispiel des Individualverkehrs, der sich ihm zufolge nicht zum bloßen Zurücklegen von Strecke entwickelt habe, sondern als

eine neue Situation des Reisens. Für den Voyeur der Reise ist es offenbar ganz selbstverständlich, daß er nirgendwo hinfährt, ja sogar in einem ausgestorbenen Viertel oder auf einem verstopften Autobahnring im Kreise herumfährt. Anhalten und Parken aber wird ihm lästig, denn der passionierte Fahrer fährt nur ungern an einen bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Person; jemanden zu besuchen oder mit dem Auto zu einer Veranstaltung zu fahren, erscheint ihm als übermenschliche Anstrengung.[12]

Die schnelle Fortbewegung sei eine willentliche Flucht vor der Realität, die durch den Genuss der Technik ermöglicht werde.[13] Den Gipfel dieser Entwicklung stellten die „PS-Dandys“ dar, Leute, die sich schnelle Autos leisten können, welche überhaupt nicht mehr als Transportmittel benutzt werden, sondern ausschließlich dem Geschwindigkeitsrausch dienten.[14] „[D]ie Schnelligkeit der Fortbewegung verstärkt […] die Absence“.[15] Unter Absencen versteht Virilio Wahrnehmungsaussetzer, vergleichbar mit einem Flow, die durch intensive Nutzung von Technologie erzeugt werden und deren Dauer und Häufigkeit sich mit fortschreitender Technisierung steigern, wodurch der Mensch aus der Realität verschwinde.[16] Die sich steigernde Präsenz von Absencen spiegle sich an der Begeisterung an Science Fiction, Religionen und Sekten sowie dem Eintauchen in „Parallel- und Zwischenwelten, bis hin zu jenem black hole“ wider, in welchem es nichts mehr außer dem exzessiven Tempo von Eindrücken gebe.[17] Diese Entwicklung sei bereits in der Gegenwart in Wirtschaftsprozessen zu erkennen, welche den Grundstein zur Desindividualisierung und dem universellen Konsumenten gelegt hätten:

In Fords Sozialplan für die amerikanische Wirtschaft kündigte sich bereits das entstehende Zusammenwirken zwischen Produktionstechniken, hergestelltem Produkt und Produzenten an – alle geeint in einer und durch eine unteilbare Geschwindigkeit.[18]

Paul Virilios Zukunftsvision lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Es würden nur noch die Maximen Fortschritt, Fortbewegung und Geschwindigkeit – besonders der Massenproduktion – gelten. Immer schneller würden die Übergänge zwischen gegenwärtigen und neuen Produkten werden, sodass das Gegenwärtige schon in der Gegenwart wieder veraltet ist und allein die neuere Version interessant sei.[19] So werde die Unterscheidung zwischen Utopie und Realität aufgehoben.[20]

Jean Baudrillard bezeichnet den Punkt, ab dem der Mensch seine Realität und die Geschichte unbemerkt völlig verliert, als den „vanishing point“. Dieser Moment der totalen Technisierung wäre dadurch geprägt, dass das menschliche „Denken [als] Kinderkrankheit der künstlichen Intelligenz“ hinter sich gelassen würde,[21] denn die technisierte Welt wäre auf das menschliche Denken und seine Vorstellungen nicht mehr angewiesen – Vorstellungen eines einzelnen Individuums wären auch gar nicht mehr möglich.[22]

Am Ende der Machtergreifung [der digitalen Intelligenz], die die gesamte menschliche Intelligenz in sich zusammenfaßt und sich von nun an völliger Autonomie gewiß ist, wird deutlich, daß der Mensch nur um den Preis seines eigenen Todes existiert. Unsterblich wird er nur um den Preis seines technologischen Verschwindens, seiner Einschreibung in die Ordnung des Digitalen[23].

Doch dieses Verschwinden muss nicht beängstigend sein, sondern es kann durchaus angestrebt werden, um zu fragen, wie die Welt ohne einen selbst wäre. Oder wie sie ohne Werte, das Reale, Ideologien oder Endzwecke wäre. Das Bestreben, den vanishing point zu erreichen, wenn auch nur gedanklich, ist der Wunsch, über den Horizont des Verschwindens hinauszublicken. Dies alles wären die Prämissen einer Kunst des Verschwindens.[24]

Wie oben bereits angeklungen, verschwinde das einzelne Subjekt; „das Subjekt als Instanz des Willens, der Freiheit, des Vorstellens, das Subjekt der Macht, des Wissens, der Geschichte verschwindet, aber es läßt sein Gespenst zurück“. Dieses Gespenst stelle man sich als eine „diffuse[], schwebende[], substanzlose[] Subjektivität“ vor, ein „Ektoplasma“, das alles „in eine riesige Oberfläche verwandelt, die ein leeres, der Realität entfremdetes Bewußtsein widerspiegelt“.[25] Diese Art von Subjektivität kann dann keine individuelle mehr sein, weshalb das Subjekt dann verschwunden ist.

Das ist das Bild einer Subjektivität am Ende der Welt, aus der das Subjekt als solches verschwunden ist, da es mit nicht mehr in Verbindung steht. Das Subjekt ist Opfer dieses fatalen Umschwungs, ihm steht gewissermaßen nichts mehr gegenüber, weder der Gegenstand (als Objekt) noch das Reale oder der Andere.[26]

Dieses Verschwinden sei allerdings nicht als finale, sondern als eine immanente Dimension zu verstehen: Alles sei immer im Verschwinden.[27] Will man nun (literarisch) thematisieren, was die heutige Gegenwart ausmacht, so müsse man das Verschwinden thematisieren, denn aus dem Grunde, dass heute alles nur im Verschwinden existiere, folgt, dass man die Dinge am besten interpretieren könne, wenn man ihr Verschwinden berücksichtigt: „Alles lebt ausschließlich auf der Grundlage seines Verschwindens, und wenn man die Dinge in aller Hellsichtigkeit interpretieren will, muß man es unter Berücksichtigung ihres Verschwindens tun.“[28] Laut Baudrillard gibt es kein besseres Analyseraster.

Nun sollen im Folgenden nicht die Thesen Baudrillards und Virilios an den Roman Christian Krachts festgemacht werden. Vielmehr dienen sie als Grundlage der Analyse, bei der sich herausstellen wird, dass viele Aspekte der hier dargestellten Ästhetik des Verschwindens in den untersuchten Büchern aufgezeigt werden können; an anderen Stellen gibt es jedoch auch Widersprüche.

3. Verschwinden bei Christian Kracht

Im Folgenden wird analysiert, wie der Verschwindens-Diskurs in den vier Büchern Faserland, 1979, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten und Metan dargestellt wird. Dabei wird jedes Buch für sich betrachtet, wobei an der Gliederung schon zu erkennen ist, dass sich die ersten und zweiten beiden Bücher darin gleichen, wer verschwindet. Deshalb werden bereits in diesem Kapitel zwangsläufig gedankliche Verbindungen zwischen den Büchern gezogen. Letztlich sollen die hier erarbeiteten Ergebnisse in Kapitel 4 verknüpfend zusammengefasst werden, um somit eine Ästhetik des Verschwindens bei Christian Kracht zu formulieren.

Das Hauptziel der Popliteratur sei laut Janina Gesche die Identifikation des Lesers mit dem Protagonisten.[29] Bezeichnet man Christian Krachts Literatur als solche, sollte sich der Leser folglich mit den Protagonisten aus den hier untersuchten Büchern identifizieren können. Doch da jene wenig von sich preisgeben, zuweilen unsympathisch sind und scheitern, wird bei den wenigsten Lesern eine Identifikation stattfinden. Daher fordert Ruf, die Prosa Krachts als „journalistische[] Literatur zu beschreiben“,[30] weil sie den Zeitgeist einzufangen versucht:

Vielmehr bilden seine Essays, Erzählungen und Romane so etwas wie eine ästhetizistisch überformte Globalisierungsbricolage, in der sich die politischen und ästhetischen Kategorien seiner Beschreibungen ununterscheidbar überlagern und in dandyistischer Manier die Welt zwischen Krieg und Stil verhandeln.[31]

In dieser „Bricolage“ ist das Verschwinden omnipräsent: In Faserland verschwindet der Protagonist letztlich auf dem/im Zürichsee, in 1979 im Arbeitslager und in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten verschwindet die Menschheit in einer Dystopie von ewigem Krieg. Metan beschreibt das Verschwinden der Menschheit und zeigt eine Vision auf, was danach kommen wird. Ob nun unter dem Label Popliteratur oder nicht, diese Literatur setzt sich mit dem Zeitgeist auseinander und bedient sich dazu des Verschwindens.

3.1 Jemand verschwindet

Zuerst werden die beiden Romane Faserland und 1979 untersucht, denen gemein ist, dass sie von einem Protagonisten handeln, der verschwindet. Es wird aufgezeigt, auf welche Weise sie verschwinden und welche Funktion das Verschwinden für die Romane besitzt.

3.1.1 Faserland

Im Jahr 1995 erschien Christian Krachts erster Roman Faserland, der gemeinhin dem Genre der Popliteratur zugesprochen wird. Er handelt von der Reise eines namenlosen Protagonisten, auf Sylt beginnend, längs durch Deutschland und schließt im schweizerischen Zürich.

Der Ich-Erzähler, der Privatier zu sein scheint, macht Urlaub auf Sylt und lernt Karin kennen, mit der er Gespräche über Mode und Marken führt – insbesondere über Barbourjacken, die immer wieder im Roman Erwähnung finden – und mit welcher er in Begleitung eines anderen Paars den Abend verbringt, wobei sich alle betrinken und der Protagonist plötzlich feststellt, dass er keine Urlaube mehr auf Sylt verbringen möchte.

Fluchtartig reist er am nächsten Morgen mit dem Zug nach Hamburg, wo er kurzentschlossen seinen Schulfreund Nigel besucht. Mit diesem sucht er abends eine Party auf, auf der allerhand Drogen kursieren. Auch der Ich-Erzähler berauscht sich und begibt sich während seines Drogen-Trips zurück zu Nigels Wohnung. Dort spielt sich eine sexuelle Orgie in Nigels Bett ab, nach deren Anblick der Protagonist kurzerhand beschließt, nach Frankfurt zu fliegen.

In Frankfurt lebt sein Schulfreund Alexander, den er zwar nicht besucht, aber der ihm in einer Bar begegnet, den Erzähler jedoch nicht erkennt. Dieser stiehlt daraufhin Alexanders in der Bar liegende Barbourjacke und reist mit dem Zug weiter.

Eigentlich will er nach Karlsruhe fahren, doch um einem unangenehmen Gespräch im Zug aus dem Wege zu gehen, steigt er in Heidelberg aus und gerät dort in eine Gruppe Studenten, die ihn auf eine weitere Party mitnehmen, auf welcher exzessiv gekokst und Heroin gespritzt wird. Er wird von dieser Feier von Rollo, einem Freund aus der Kindheit, weggebracht.

Zusammen begeben sich die beiden nach München auf einen Rave, von dem sie allerdings schnell wieder flüchten, als dort eine Schlägerei ausbricht. Von München aus fahren sie mit Rollos Porsche an den Bodensee, an dem seine Eltern eine Villa besitzen.

Der psychisch labile, tablettensüchtige Rollo veranstaltet abends eine ausladende Geburtstagsfeier. Nachdem seine wahre Gemütslage bis zu diesem Zeitpunkt lediglich vom Ich-Erzähler prophezeit worden ist, verfällt jener in einem Moment, als die beiden von der Festgesellschaft separiert auf dem Bootssteg stehen, in einen Weinkrampf. Der Protagonist entflieht dieser Situation, überlässt Rollo der Umsetzung seines Suizids – er wird am kommenden Morgen im Wasser ertrunken aufgefunden werden – und fährt mit dem Porsche, den er spontan entwendet, nach Zürich.

In diesem „anderen Deutschland“ angekommen, fühlt er sich zum ersten Mal wohl; er isst und trinkt ausgewogen, anstatt sich zu betrinken. Nach einer Beschreibung der Vorzüge der Schweiz macht sich der Protagonist auf die Suche nach dem Grab Thomas Manns, kann es jedoch aufgrund der einsetzenden Dunkelheit nicht finden. Schließlich begibt er sich zurück nach Zürich und lässt sich von einem Bootführer auf die Mitte des nächtlichen Zürcher Sees bringen.

Das Verschwinden in Faserland kann in vier verschiedene Aspekte unterteilt werden: das Verschwinden von Sylt, dass die Handlung in Gang setzt, das stationäre Verschwinden von den Aufenthaltsorten, die der Protagonist besucht, das Verschwinden als Flucht vor der Gesellschaft und ihrer Geschichte sowie das finale Verschwinden aus dem Leben.

Am letzten Abend erklärt der Protagonist, „daß das [s]ein letzter Tag auf Sylt“[32] sei und dass er am darauffolgenden Tag abfahren werde. Wohin er reisen wird, sagt er nicht. Es kann angenommen werden, dass dem Protagonisten zu dem Zeitpunkt noch gar kein Ziel vorschwebt. Nun könnte der Leser vermuten, dass es sich bei Faserland um einen Entwicklungsroman handelt, wenn im ersten Kapitel Aufbruchsstimmung erzeugt wird. Doch der Protagonist durchläuft während des Romans keine Entwicklung. Das Verschwinden von Sylt ist bloß die erste Station einer „Verschwindens-Tour“ durch Deutschland.

3.1.1.1 Örtliches Verschwinden

Die Enden der Kapitel beziehungsweise die Übergänge zwischen den Kapiteln fallen mit dem jeweiligen Verschwinden des Protagonisten an und von einem Handlungsort zusammen. So endet das erste Kapitel mit dem Satz „Ich glaube, ich werde nicht mehr nach Sylt fahren.“[33] und das zweite beginnt damit, dass der Protagonist im Zug nach Hamburg sitzt. Das zweite Kapitel schließt mit einer Taxifahrt weg von einer Party, bei welcher der Protagonist, wie so häufig, spontane Referenzen auf den Nationalsozialismus aufzeigt:

Das Taxi fährt los, und ich beobachte, wie der Rauch sich aus dem Fenster schlängelt, das ich einen Spalt weit geöffnet habe. Hamburg wacht auf, denke ich, und dann muß ich plötzluch an die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg denken und an den Hamburger Feuersturm und wie das wohl war, als alles ausgelöscht wurde […].[34]

Das Besondere bei diesem Verschwinden ist, dass der Protagonist bewusst zu Nigels Wohnung zurückkehrt, obwohl er sich sonst treiben lässt. Er verschwindet also einerseits – fluchtartig – von der Party, kehrt aber an einen bereits bekannten Handlungsort zurück. Aufgrund der Orgie in Nigels Bett[35] verlässt er die Wohnung sofort wieder und fliegt mit dem Flugzeug nach Frankfurt. Dem Leser erklärt der Ich-Erzähler die Wahl des Reiseziels nicht. Es darf angenommen werden, dass er es selbst nicht weiß. Auf jeden Fall genießt er beim Fliegen den Gang zwischen Flughafen und Maschine:

Dieser Moment ist fast das Beste am Fliegen, wenn man aus dem Bus steigt und der Wind den Mantel hochweht und man den Koffer fester mit der Hand umschließt, […]. Das ist so eine Art Übergang von einem Leben ins andere oder eine Mutprobe. Irgend etwas ändert sich im Leben, alles wird für einen kurzen Moment erhabener.[36]

Das Gefühl von Glück, das durch einen „Übergang“ ausgelöst ist, wird der Protagonist im Verlauf des Romans noch zweimal wahrnehmen: einmal beim Übergang von Deutschland in die Schweiz, wo er dieses Glücksgefühl auch explizit äußert und nochmals beim von ihm selbst angekündigten „Übergang von einem Leben ins andere“, beim Übergang von seinem jetzigen Leben in den Tod durch den Suizid am Ende des Romans.

Am Ende des dritten Kapitels wird die Ankunft in Frankfurt geschildert.[37] Der Wechsel des Handlungsortes vom Flughafen zur Innenstadt könnte als ein Verschwinden verstanden werden. Eine andere Lesart wäre, dass der Flug und der Flughafenbetrieb den Protagonisten so sehr ablenken und beschäftigen, dass an dieser Stelle keine Flucht erforderlich ist. Zum Schluss seines Frankfurt-Aufenthalts hingegen ereignet sich wieder ein rasantes Verschwinden. Nach dem Diebstahl der Barbourjacke von Alexander ist der Protagonist „dann ziemlich schnell weg aus Frankfurt.“[38] Noch betrunkener als in dieser Situation ist er danach auf dem Weg von Heidelberg nach München:

Wie ich genau aus Heidelberg rausgekommen bin und schließlich in München gelandet bin, das ist mir immer noch ein Rätsel. Einen Zug werde ich wohl genommen haben, aber die Reise ist ausgelöscht in meinem Gehirn, einfach nicht mehr da.[39]

Die ansteigende Verzweiflung des Protagonisten wird darin sichtbar, dass er immer exzessiver trinkt und gar nicht mehr isst. Dass er im Anschluss an die Zugreise einen Rave aufsucht, was er lapidar damit begründet, dass er Raver im Zug getroffen hat („Im Zug muß ich wohl mit jungen Leuten gesessen haben, die zu einem Rave wollten, auf einer Wiese außerhalb von München. Ich schätze, ich habe ihnen ein Taxi ausgegeben, vom Bahnhof zur Wiese.“[40] ), erscheint unglaubwürdig. Vielmehr hat es den Anschein, dass der Protagonist der Ablenkung wegen verzweifelt Kontakt zu anderen Menschen sucht – nicht zu seinen Freunden, wie später noch erklärt wird – und solch ein Rave Drogen und die Möglichkeit zur Realitätsflucht verspricht.

Ein scheinbarer Wendepunkt in der Entwicklung stellt sich in der Handlung ein, wie sie im sechsten Kapitel beschrieben wird: Der Protagonist logiert bei Rollo und die beiden scheinen sich gut zu verstehen. Das Verschwinden zwischen dem sechsten und siebten Kapitel erfolgt gemeinsam: Rollo und der Protagonist fahren mit dem Porsche 912 zum Ferienhaus nach Lindau.[41] Dieses Verschwinden erfolgt nicht fluchtartig, nicht allein und weder betrunken noch verkatert. Stattdessen scheint die Fahrt einem „Übergang“ wie dem zum Flugzeug zu gleichen.

Tatsächlich ist die Fahrt nach Lindau nur ein letzter nicht fataler Ortswechsel. Das Verschwinden von Rollos Geburtstagsfeier mit dem gestohlenen Porsche wird vom Protagonisten auffallend nüchtern und detailliert beschrieben:

[...]


[1] Vgl. Philippi, Anne und Rainer Schmidt: Wir tragen Größe 46.

[2] Diez, Georg: Christian Kracht: Faserland.

[3] Vgl. Dürr, Anke: Endzeit-Theater: Yoda in den Alpen.

[4] Vgl. Hammelehle, Sebastian: Trotz ‚Imperium‘-Debatte: Christian Kracht erhält Wilhelm-Raabe-Preis.

[5] Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, 6.

[6] Vgl. ebd., 11.

[7] Aναλύσειν bedeutet wörtlich „auflösen“ (vgl. Passow, Franz: Handwörterbuch der griechischen Sprache, s.v. αναλύσειν).

[8] Vgl. Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, 7f.

[9] Ebd., 8.

[10] Vgl. ebd., 9.

[11] Vgl. Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, 11f.

[12] Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens, 76.

[13] Vgl. ebd.

[14] Vgl. ebd., 71.

[15] Ebd., 73.

[16] Vgl. Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens, 9ff.

[17] Vgl. ebd., 85.

[18] Ebd., 98.

[19] Die sich immer weiter steigernde Geschwindigkeit führt neben der Auflösung der Unterscheidung Realität/Utopie letztendlich sogar zu einem völligen Zeitverlust, wie er in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten wiederzufinden ist.

[20] Vgl. Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens, 105.

[21] Vgl. Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, 12.

[22] Vgl. Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, 25.

[23] Ebd., 46.

[24] Vgl. ebd., 13f.

[25] Vgl. ebd., 18.

[26] Ebd., 19.

[27] Vgl. Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, 21.

[28] Ebd.

[29] Vgl. Gesche, Janina: Zum Problem der Selbstfindung in Christian Krachts Roman Faserland, 329.

[30] Vgl. Ruf, Oliver: Christian Krachts New New Journalism, 58.

[31] Lettow, Fabian: In der Leere des Empire, 239.

[32] Kracht, Christian: Faserland, 19.

[33] Kracht, Christian: Faserland, 23.

[34] Ebd., 47.

[35] Ebd., 49f.

[36] Ebd., 55.

[37] Vgl. Kracht, Christian: Faserland, 64.

[38] Ebd., 82.

[39] Ebd., 107.

[40] Ebd.

[41] Zwischen dem Wagen und den beiden Figuren, dem Protagonisten und Rollo, besteht übrigens folgende Analogie: Der 912 hat die äußere Form des legendären ersten Porsche 911, einer Ikone der Automobilindustrie, der dem Fahrer das Image eines reichen, erfolgreichen Bürgers verleiht. Der 912er verfügt allerdings nicht über einen Porsche-typischen Sechszylinder, sondern nur über einen leistungsschwachen Vierzylinder. Der Porsche 912 wird also mit seinen inneren Werten nicht den Erwartungen gerecht, die sein Äußeres weckt. Genauso verstehen sich der Protagonist und Rollo als erfolgreiche Lebemänner, die aufgrund ihrer finanziellen Stellung das Leben genießen können, doch ‚unter der Haube‘ gibt es Abstriche bei ihrer ‚psychischen Leistung‘; sie sind depressiv und suizidgefährdet.

Fin de l'extrait de 67 pages

Résumé des informations

Titre
Ästhetik des Verschwindens bei Christian Kracht
Sous-titre
Zur Regression in "Faserland", "1979", "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" und "Metan"
Université
Ruhr-University of Bochum
Note
2,0
Auteur
Année
2013
Pages
67
N° de catalogue
V266865
ISBN (ebook)
9783656582328
ISBN (Livre)
9783656580270
Taille d'un fichier
618 KB
Langue
allemand
Mots clés
Ästhetik, Verschwinden, Kracht, Faserland, 1979, Ich werde hier sein, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, Metan
Citation du texte
Sören Benjamin Sobbe (Auteur), 2013, Ästhetik des Verschwindens bei Christian Kracht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/266865

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