Der revolutionäre Charakter: Fromms Gegenentwurf zur Überwindung der autoritären Persönlichkeit


Trabajo, 2010

50 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis:

1 Einleitung

2 „Studies in Prejudice“ und die autoritäre Persönlichkeit
2. 1 Das Wesen des autoritären Charakters

3 Der Gegenentwurf: Erich Fromm und die revolutionäre Charakterstruktur
3.1 Was der Revolutionäre Charakter nicht ist
3.2 Das Wesen des revolutionären Charakters
3.2.1 Fromms Menschenbild
3.2.2 Seelische Gesundheit
3.2.3 Der produktive Charakter
3.2.4 Haben oder Sein
3.2.4.1 Die Existenzweise des Habens
3.2.4.2 Die Existenzweise des Seins

4 Schritte auf dem Weg zur Sein-Orientierung
4.1 Allgemeine Bedingungen der Erlernung einer jeden Kunst
4.2 Die Kunst des Lebens
4.3 Die Kunst des Liebens
4.3.1 Spezielle Bedingungen der Erlernung der Kunst des Liebens

5 Die Hauptdifferenzen zwischen den beiden Charaktertypen

6 Schritte im Schul- und Bildungsbereich
6.1 Produktive Autorität
6.2 Produktive Unterrichtsplanung und Durchführung
6.3 Weitere institutionelle Schritte und Ausblick

7 Schluss

8 Epilog

9 Literaturverzeichnis
9.1 Primärliteratur:
9.2 Sekundärliteratur:
9.3 Quellen im Internet:

1 Einleitung

Das Institut für Sozialforschung in Frankfurt a. M. wurde am 3. Februar 1923 gegründet und begann mit seinen Forschungsaktivitäten offiziell im Juni 1924. Mit der Gründung des Institutes wurde das Ziel verfolgt, historische Sozialforschung auf der Grundlange eines moskautreuen Marxismus durchzuführen.[1] „Von Anfang an meinte Sozialforschung als Aufgabe des Instituts mehr, als der Begriff heute deutlich macht. Es ging in wissenschaftlicher wie in praktischer Absicht um die ‚Kenntnis und Erkenntnis des sozialen Lebens in seinem ganzen Umfang’, um das Geflecht von ‚Wechselwirkungen zwischen der wirtschaftlichen Grundlage, den politischjuristischen Faktoren bis zu den letzten Verästelungen des geistigen Lebens in Gemeinschaft und Gesellschaft’ [...], wie es der designierte erste Direktor, Gerlach, 1922 im Gründungsmemorandum formulierte. Aber nicht die interdisziplinäre Zusammenarbeit als solche, sondern deren erkenntnisleitendes Interesse, der wissenschaftliche Marxismus, bestimmte die Institutsstiftung.“[2]

Als erster Direktor wurde Karl Albrecht Gerlach vorgeschlagen. Dieser starb jedoch plötzlich und so wurde sein Nachfolger Carl Grünberg. Ersterer war ein unabhängiger Sozialist, letzterer ein Marxist und „(…) überzeugt, dass der Sozialismus den Kapitalismus ganz und gar ablösen werde, und verstand seine Aufgabe darin, diese Entwicklung nachhaltig zu fördern, allerdings nicht tages- und parteipolitisch, sondern vielmehr durch die wissenschaftliche Arbeit mit der marxistischen Forschungsmethode.“[3] 1929 trat Grünberg jedoch aufgrund eines Schlaganfalls zurück. Der Rücktritt Grünbergs stellte die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät und das Institut für Sozialforschung vor ein – personelles – Problem.[4] Keine der beiden Seiten konnten eine Übereinkunft hinsichtlich eines geeigneten Nachfolgers erzielen. Man entschied sich schließlich für einen Kompromiss: An der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät wurde Adolph Löwe auf den Lehrstuhl für Staatswissenschaft berufen, zudem wurde ein Lehrstuhl für Sozialphilosophie in der Philosophischen Fakultät eingerichtet, und dieser war zugleich mit der Aufgabe der Leitung des Institutes für Sozialforschung geknüpft, somit war der jeweilige Lehrstuhlinhaber gleichzeitig Leiter des Institutes. Auf diesen Lehrstuhl für Sozialphilosophie wurde sodann Max Horkheimer berufen. Horkheimer war damit der zweite Direktor des Institutes für Sozialforschung.

Mit Horkheimer kam es zu einer Veränderung der theoretischen Ausrichtung des Institutes: Es ging nun verstärkt um Sozialphilosophie und um Theoriebildung, dabei wurde von der „orthodoxen“ Form des Marxismus stark abgewichen: „ Die Zusammenarbeit der Fachwissenschaften, der Soziologen und Nationalökonomen, Historiker und Psychologen sollte angeleitet werden durch philosophische Reflexion, bestimmt von den Fragestellungen einer als Gesellschaftstheorie verstandenen Sozialphilosophie.“[5] In seinem 1937 verfassten Aufsatz „Traditionelle und Kritische Theorie“ formulierte Horkheimer, auf der Grundlage der Soziologie von Karl Marx, die Hauptaufgabe der Sozialphilosophie wie Folgt: „Die Aufgabe der Sozialphilosophie ist (…) die Formulierung theoretischer Gesamturteile über die Gesellschaft.“ (KORTE 2004, S. 140) Diese Form der Sozialphilosophie nennt Horkheimer nun Kritische Theorie. Die Zielperspektive, an der die Kritische Theorie ihre (theoretischen) Gesamturteile über die Gesellschaft ausrichten soll, ist nach Horkheimer die klassenlose Gesellschaft. Im Gegensatz zur Marx gibt es jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen der Kritischen Theorie und dem Marx’schen Ansatz: „Die wichtigste Differenzierung im Vergleich zu Marx geschieht in der Umorientierung von den ökonomischen Bedingungen hin zu Phänomenen des Überbaus.“ (KORTE 2004, S. 142) Mit Überbau ist die gesamte kulturelle Sphäre einer Gesellschaft gemeint: Recht, Philosophie, Moral, Lebensstil etc. Die Sozialphilosophie ist in der Perspektive Horkheimers keine Einzeldisziplin (Soziologie), sondern eine kritische Bewegung innerhalb der Gesellschaft, mit dem Ziel, die bestehenden Verhältnisse dergestalt umzuwälzen, dass sie klassenlos wird. Die Kritische Theorie konzentriert sich dabei auf die Analyse der kulturellen Entwicklungen und Dynamiken.

Am 30. Januar 1933 gelangten jedoch die Nationalsozialisten – mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler – an die Macht und beendeten die Weimarer Republik. Dies läutete den Niedergang der parlamentarischen Demokratie in Deutschland ein: Kritische Stimmen und Anhänger links-orientierter Gruppierungen sowie jüdische Mitbürger wurden fortan gejagt, gefoltert und getötet. Auch die Universitäten wurden von den Nazis „gesäubert“: „Das ‚Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums’ erlaubte den Nazis Beamte aus ‚rassischen’ und ‚politischen’ Gründen vom Dienst zu suspendieren, vorzeitig zu pensionieren oder schlicht zu entlassen. Übrig blieben in der Soziologie nur diejenigen, die sich mit den braunen Machthabern arrangieren wollten oder konnten.“ (KORTE 2004, S. 135) Im Ergebnis führten die Aktivitäten der NSDAP dazu, dass auch das Institut für Sozialforschung am 16. März 1933 geschlossen wurde. Die meisten Mitglieder flohen daraufhin nach Amerika, „(…) wo an der Columbia University das Institute of Social Research für die emigrierten deutschen Sozialwissenschaftler wiedererstand.“ (MIKL-HORKE 1994, S. )

In New York forschten die Mitglieder des Institutes über die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Weltwirtschaft und über die globale Ausbreitung des Faschismus.[6] Zwar gab es zum Phänomen des Faschismus eine in den 1930ern verfasste Arbeit, in der es um den Zusammenhang von familiärer Sozialisation und klassenspezifischem Verhältnis zur Autorität ging („Autorität und Familie“), jedoch waren die größtenteils jüdischstämmigen Forscher in den Vereinigten Staaten immer mehr von der quälenden Frage durchdrungen, wie der Holocaust in Deutschland – dem Land der Dichter und Denker – aufkommen und Millionen von Menschen in den Tod stürzen konnte. „In diesem Zusammenhang entstand am Institut für Sozialforschung in New York eine über viele Jahre durchgeführte, empirisch aufwendige und theoretisch gründliche Arbeit über die Frage, ob und unter welchen Bedingungen in den USA eine ähnliche politische Entwicklung wie in Deutschland möglich werden könne.“ (KORTE 2004, S. 146) Die Ergebnisse dieser Studie – „Studies in Prejudice“ – wurden 1949/50 der amerikanischen Öffentlichkeit vorgestellt.

Die „Studies in Prejudice“ wurden von Max Horkheimer und Samuel H. Flowerman herausgegeben und vom „American Jewish Committee“ (AJC) finanziell unterstützt. Sie war das Ergebnis der Forschungen am Department of Scientific Research des AJC. „Als ihr Erkenntnisziel formulierten sie nicht wie früher gesamtgesellschaftliche Veränderungen, vielmehr geht es um die Bekämpfung von Vorurteilen durch wissenschaftlich fundierte Erziehungsmaßnahmen.“ (TARR 2001, S. 1)[7] Die Studie setzte sich insgesamt aus folgenden Arbeiten zusammen (Vgl. WIGGERSHAUS 1991, 454 – 455):

- „The Authoritan Personality“
- „Dynamics of Prejudice. A Psychological and Sociological Study of Veterans“
- „Anti-Semitism and Emotional Disorder. A Psychoanalytic Interpretation”
- „Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator”
- „Rehearsal for Destruction. A Study of Political Anti-Semitism in Imperial Germany”

„Besondere Bedeutung kam hierbei der von Theodor W. Adorno u.a. geleiteten Studie über ‚Die autoritäre Persönlichkeit’ zu.“ (MIKL-HORKE 1994, S. 159) Hier verfolgte Adorno das Ziel, mit empirisch-psychologischen Methoden herauszuarbeiten, welche Denk- und Charaktereigenschaften einen Menschen dazu verleiten, faschistischer Propaganda zu erliegen. Bei den Studien zur autoritären Persönlichkeit handelt es sich zugleich um eine der bekanntesten Forschungen der Frankfurter Schule. Bei dieser Untersuchung wurden über 2000 Menschen mit Hilfe von diversen empirischen Verfahren befragt, um den Zusammenhang von Charakterstruktur und Ideologie zu erhellen: „Mittels Fragebögen, face-to-face-Interviews und Tiefeninterviews sowie Inhaltsanalysen wurde eine Unmenge an standardisierten, aber auch sehr individuellen und konkreten Informationen über das faschistische Potential ausgerechnet in jener demokratischen Gesellschaft zusammengetragen, die gerade das diktatorische Hitler-Deutschland bekriegt und besiegt hatte und dabei war, es durch Umerziehung auf eine Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Völker vorzubereiten.“ (ARTUS 2003, S. 8) Zwar wurde das faschistische Potential in den USA erforscht, aber es ging den Forschern vorrangig darum, ein allgemeines Bild von der Psyche des „Faschisten“ zu entwickeln, um verstehen zu können, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Menschen beim Massenmord an den Juden zu „Vollstreckern“ wurden und mitmachten. In diesem Zusammenhang entwickelten die Forscher als Erklärungskonzept die sogenannte autoritäre Persönlichkeit. Dieser zeichnet sich durch bestimmte Denkmuster und Vorurteile aus: „(…) starres Festhalten an Konventionen, Machtorientierung und Unterwürfigkeit, Destruktion und Zynismus. Menschen mit diesem Denkmuster sind, so behaupteten die Autoren, ‚potentiell faschistisch’; sie werden, wenn es eine passende Situation nahe legt, ihren Vorurteilen entsprechend handeln. Dies gilt vor allem, wenn Autoritarismus mit einer totalitären Ideologie gekoppelt ist.“[8]

Die Untersuchungen sollten insgesamt einen Beitrag dazu leisten, menschenverachtende faschistische Bewegungen gänzlich zu verhindern, und falls dennoch vorhanden, dabei Helfen, ihr Ausmaß abzuschwächen. Dabei wurde vorrangig am Subjekt geforscht, und die kritische Erforschung objektiver gesellschaftlicher Bedingungen bewusst ausgeklammert. In den Vorworten, die den Studien jeweils vorgeschaltet waren, versuchten die Herausgeber dem Publikum diese Herangehensweise plausibel zu machen, und verwiesen auf den praktischen Nutzen: „Dass der Schwerpunkt auf dem subjektiven, psychologischen Aspekt lag, erklärten sie durch das Interesse an praktischer Abhilfe. Bekämpfung des Vorurteils bedeute ‚re-education’, und die setze bei den Individuen und ihrer Psychologie an.“ (WIGGERSHAUS 1991, 455) Insofern enthielten die Studien keine ökonomischen Analysen von den Vereinigten Staaten oder anderen Industrienationen.

In der Anfangphase des Institutes ging es den Mitgliedern, auf dem Boden des Marxismus, zwar um die Emanzipation des Menschen, im Zuge der Entwicklungen in Deutschland ab den 1940er Jahren veränderte sich jedoch die Motivlage der Forscher grundlegend, vor allem bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: „Es geht nicht länger um die Verbesserung der Lebenswelt, um die Befreiung der Menschen, sondern nur noch um die Verhinderung des Schlimmsten, nämlich eine Wiederholung des Holocaust in einer faschistischen Welt.“ (KORTE 2004, S. 149) Die Konfrontation mit der Realität der Judenvernichtung ließ den Forschern keine Ruhe mehr.

Dennoch kehrten Horkheimer und Adorno nach Deutschland zurück, in ein Land, dass Tod und unvorstellbares Leid über Millionen von Menschen gebracht hatte, ein Land, das als aufgeklärt und fortschrittlich galt, und, in dem trotz aller Aufklärung, die industrielle Vernichtung von Menschen brutale Realität geworden war. „Ihre marxistischen Wurzeln wussten sie in der Phase des Adenauer-Konservatismus der 50er Jahre geschickt zu verbergen. Trotzdem waren sie, vor allem in den späten 50er und frühen 60er Jahren, die Mentoren einer akademischen Linken, die der Kern der Studentenbewegung der zweiten Hälfte der 60er Jahre war, mit der die Phase der Restauration in der Bundesrepublik zu Ende ging.“ (KORTE 2004, S. 150)

In dieser Arbeit soll es nun um die Frage gehen, wie die Entstehung einer autoritären Persönlichkeitsstruktur – mit Hilfe von selbsterzieherischen und institutionellen Maßnahmen – vermieden werden kann. Dazu soll die psychische Struktur des autoritären Charakters offengelegt und dem revolutionären Charakter gegenübergestellt werden, den Fromm in den 1960er Jahren explizit als Gegenmodell zu diesem entworfen hat.[9] In seinem Konzept des revolutionären Charakters versucht Fromm diejenige Charakterstruktur zu fassen, die er als geistig-seelisch gesund einstuft. Der gesunde Mensch ist für Fromm also das Gegenmodell zur autoritären Persönlichkeit. Dies ist zugleich die Lösung die Fromm anbietet: Will man der Anfälligkeit für faschistische und totalitäre Ideologien vorbeugen, muss dafür Sorge getragen werden, dass die Menschen Mittel und Möglichkeiten an die Hand bekommen, sich seelisch gesund zu entwickeln und ihre psychische Gesundheit zu erhalten.

Zunächst sollen (2) die „Studies in Prejudice“ vorgestellt und in das (psychische) Wesen der autoritären Persönlichkeit eingeführt werden. Sodann soll (3) der Fromm’sche Gegenentwurf zu diesem Charaktertypus – der revolutionäre Charakter – in seinen wesentlichen Merkmalen dargestellt werden. Nachdem beide Charaktertypen dargestellt worden sind, sollen (4) die individuellen Schritte, die Fromm auf dem Weg zur Förderung der revolutionären Charakterstruktur vorschlägt, aufgezeigt werden. Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit soll auf diesen individuellen Maßnahmen liegen, weil die Studien zur autoritären Persönlichkeit ebenfalls primär psychologischer Natur sind.[10] D.h. es soll primär untersucht werden, wie die geistig-seelische Gesundheit gefördert werden kann, die zwangsläufig zur Überwindung der autoritären Struktur führt. Erst nach der Darstellung dieser Schritte soll (5) ein zusammenfassender Vergleich zwischen den beiden Charaktertypen vorgenommen werden, da sie erst jetzt deutlich und präzise zu Tage treten. Es sollen fernerhin aber auch (6) institutionelle Maßnahmen zur Förderung der revolutionären Charakterstruktur vorgestellt werden. Abschließend sollen (7) die zentralen Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst werden.

2 „Studies in Prejudice“ und die autoritäre Persönlichkeit

In der Untersuchung gingen die Forscher der grundsätzlichen Frage nach, ob es möglich wäre, aus der Gesamtbevölkerung Menschen herauszufiltern, die faschistische Denk- und Einstellungsweisen aufwiesen, und somit über eine potentiell faschistische Charakterstruktur verfügen. Es wurde dabei von der These ausgegangen, dass bestimmte subjektive Einstellungen zu wirtschaftlichen, politischen und sozialen Geschehnissen von einem spezifischen Charaktersystem produziert wird. „Zentral war die Frage nach der extremen Anfälligkeit bestimmter Menschen für faschistische Propaganda und warum solche Menschen so viele gemeinsame Charakteristika aufwiesen. Die Forschungsergebnisse hatten nämlich die Hypothese bestätigt, dass Personen, die dem Faschismus stark ablehnen, sich von anderen Menschen in ihren Charakterstrukturen viel stärker unterschieden als die Menschen mit einem faschistoiden Charakter.“ (KORTE 2004, S. 147) In der Studie ging es aber auch darum, herauszufinden, welche Funktionen die jeweiligen faschistischen Einstellungen für das subjektive psychische System erfüllten. Insgesamt wurden auf dem Boden psychoanalytischer Konzepte Vorurteile analysiert, um sie im Zusammenhang mit der Persönlichkeit des Menschen besser verstehen zu können; Antisemitismus war dabei nur eine Form, ein möglicher Ausdruck von Vorurteilen.

Um die Ideologie eines Menschen aufdecken zu können, um also die tiefsten Überzeugungen ans Tageslicht bringen zu können, wurden die Teilnehmer der Studie über die wahren Ziele der Untersuchung nicht unterrichtet. Es wurde davon ausgegangen, dass diese Überzeugungen tief in der Charakterstruktur wurzeln und unbewusst sind; sich also der direkten Befragung entziehen. Zudem musste damit gerechnet werden, dass die Befragten bei ihren Antworten eher das sozial erwünschte, also den gesellschaftlichen Kosens, reproduzieren würden, als ihre wahren Einstellungen zu offenbaren.

Die Forscher gingen bei ihrer Studie von der Grundthese aus, dass politisch-ideologische Anschauungen einen funktionalen Beitrag bei der Anpassung menschlicher Bedürfnisse an die Gesellschaft leisten. Vorurteile auf dem Gebiet des Antisemitismus und auf anderen Gebieten „(…) sollten daher nicht als isolierte Phänomene untersucht, sondern als integraler Bestandteil eines breiten ideologischen Syndroms sichtbar gemacht werden, dessen Attraktivität auf bestimmten psychischen Bedürfnissen von Individuen beruht.“ (SUTTERLÜTY 2006, S. 103) Primäres Ziel der Forschungen war die Erfassung derjenigen individuellen Charaktereigenschaften, die einen Menschen anfällig für faschistische Ideologien machten.

Die Studie sollte explizit zweierlei Dinge bewerkstelligen: Zum einen sollte die Charakterstruktur derjenigen Menschen offengelegt werden, die antisemitisch eingestellt waren, und zum anderen sollte ein Instrument erarbeitet werden, mit der der Antisemitismus einer Person gemessen werden konnte. „Beides ging Hand in Hand: die Feststellung und Einkreisung des faschistischen Charakters durch Fragebögen, mehrstündige Interviews und projektive Tests und die Gewinnung eines in großem Maßstab anwendbaren zuverlässigen Instruments zu seiner Feststellung und Messung.“ (WIGGERSHAUS 1991, S. 458)

In einem Zeitraum von ca. 18 Monaten – zwischen 1945 und 1946 – wurden über 2000 Fragebögen ausgewertet. An verschiedenen Gruppen wurden dabei drei Fragebogenformen ausprobiert, die jeweils eine unterschiedliche Anzahl von Items enthielten. „Bei jeder neuen Fragebogen-Form suchte man mit weniger Items immer bessere Ergebnisse zu erzielen. Jeder der drei Fragebögen bestand aus drei Skalen, deren Items im Fragebogen vermischt waren, damit der Eindruck einer allgemeinen Meinungsumfrage gewahrt blieb (…).“ (WIGGERSHAUS 1991, S. 459)

Die Ergebnisse der Einstellungsuntersuchungen wurden sodann in Einstellungsskalen zusammengefasst, dabei waren die wichtigsten vier Skalen die A-, E-, PEC- und die F-Skala: Die A-Skala (Antisemitismus) sollte Vorurteile bezüglich jüdischer Mitbürger beleuchten. Mit der E-Skala (Ethnozentrismus) sollten nicht nur antisemitische, sondern auch Vorurteile gegenüber anderen Minderheiten gemessen werden; zudem sollte diese Skala auch patriotische Einstellungen erfassen. Mit der PEC-Skala wurde der politisch-ökonomische Konservatismus ermittelt und mit der die F-Skala die Anfälligkeit für faschistische Denkweisen gemessen. „Wenngleich die Studie von der Problematik des Antisemitismus als eines Systems von Vorurteilen ausging, wurde die F-Skala im Zuge der Untersuchungen zum verallgemeinerten Instrument zur Messung minoritätenfeindlicher Vorurteile.“ (MIKL-HORKE 1994, S. 160)

Das Herzstück der Untersuchung war die sogenannte F-Skala, die anhand von verschiedenen Verhaltensdimensionen die Grundorientierung der autoritären Charakterstruktur zu Tage treten lies. (Vgl. TARR 2001, S. 2) Die Items dieser Skala waren dabei so formuliert, dass sie psychische Grundmuster des Subjekts erkennen ließen, und so einen genauen Blick auf die psychische Befindlichkeit des faschistisch eingestellten Menschen ermöglichten: „Die F-Skala mit ihren nicht-ideologischen, rein ‚psychologischen’ Items eröffnete (…) einen fast unmittelbaren Zugang zur Persönlichkeitsstruktur.“ (WIGGERSHAUS 1991, S. 460)

Von den Aussagen, die der Fragebogen der F-Skala enthielt, und die den Zusammenhang zwischen psychischer Struktur und der Neigung zu bestimmten Vorurteilen näher beleuchten sollten, sollen hier exemplarisch einige wiedergegeben werden. Dabei wurde den Testpersonen eine Reihe von Aussagen vorgelegt:[11]

- Aussage Nr. 3: „Amerika hat sich so weit von echter amerikanischer Art entfernt, dass vielleicht Gewalt nötig ist, sie wiederherzustellen.“ (ADORNO et al. 1968, S. 388)
- Aussage Nr. 39: „Jeder Mensch sollte sich irgendeiner übernatürlichen Macht völlig anvertrauen, und ihrem Ratschluss sollte er sich fraglos unterwerfen.“ (ADORNO et al. 1968, S. 389)
- Aussage 46: „Die wilden Ausschweifungen der alten Griechen und Römer waren ein Kinderspiel im Vergleich zu gewissen Vorgängen bei uns, von denen man es am wenigsten erwarten sollte.“ (ADORNO et al. 1968, S. 390)
- Aussage 73: „Heutzutage bewegen sich überall so vielerlei ihrer Herkunft nach undurchsichtige Leute, und man kommt überall so unbesehen zusammen, dass man sich mit besonderen Vorsichtsmaßnahmen vor Ansteckung und Krankheit schützen muss.“ (ADORNO et al. 1968, S. 391)

Die Forscher definierten nun neun Variablen, von denen sie überzeugt waren, dass sie die – psychologische – Grundlage der F-Skala bildeten. Die einzelnen Variablen waren dabei jeweils Ausdruck eines spezifischen Teils der Persönlichkeitsstruktur des autoritären Charakters. „Nach der zugrundeliegenden Theorie bildeten diese Variablen zusammen ein Syndrom, d.h. ein mehr oder weniger stabiles Gefüge innerhalb der Struktur des Charakters, wodurch das Individuum für antidemokratische Propaganda anfällig wird.“ (ADORNO et al. 1968, S. 392)[12]

[...]


[1] Da die politische Lage in Deutschland nicht günstig für kommunistische Bestrebungen war, insbesondere vor dem Hintergrund der bolschewistischen Bewegung in der UdSSR, konnte das Institut seine Intention nicht explizit im Namen offenbaren, und so „(…) einigte man sich auf den Namen ‚Institut für Sozialforschung‘, um so Hinweise auf den Marxismus oder sonstige politische Inhalte vom Namen fernzuhalten. Dies machte es der Universität leichter, das Institut, das man heutzutage vielleicht als ein Institut ‚an der Universität‘ bezeichnen würde, zu akzeptieren.“ (KORTE 2004, S. 137) Neben dem Marxismus wurde die Psychoanalyse ebenfalls in die Forschungsarbeiten des Institutes mit einbezogen.

[2] Ludwig von Friedeburg: Geschichte des Instituts für Sozialforschung, 16 Seiten, S. 3 – 4. Quelle: http://www.ifs.uni-frankfurt.de/institut/ifs_geschichte.pdf - Stand: 02.02.2008.

[3] Geschichte des Instituts für Sozialforschung, S. 5.

[4] Bei der Institutsgründung hatte man sich darauf geeinigt, dass der Leiter des Institutes zugleich Ordinarius der Universität sein muss.

[5] Geschichte des Instituts für Sozialforschung, S. 7.

[6] Im amerikanischen Exil erschien auch eine eigene Zeitschrift, die – zwischen 1939 und 1941 – als „Studies in Philosophy and Social Sciences“ publiziert wurde.

[7] Es ging also nicht um Gesamturteile über die Gesellschaft als Ganzes.

[8] Fahrenberg, Jochen; Steiner, John M. (2004): Adorno und die autoritäre Persönlichkeit. 19 Seiten, S. 2. Quelle: http://www.jochen-fahrenberg.de/fileadmin/pdf/Adorno_und_die_ Autoritaere_Persoenlichkeit.pdf – Stand: 03.02.2008.

[9] Fromm war zwar auch Mitglied des Instituts für Sozialforschung, trennte sich jedoch nach einigen theoretischen Differenzen von diesem, und lies sich als Psychoanalytiker in den USA nieder. Berühmt wurde er – über die Fachwelt hinaus – durch seine Weltbestseller „Die Furcht vor der Freiheit“ (1941), „Die Kunst des Liebens“ (1956) und „Sein oder Haben“ (1976).

[10] Die psychologischen Ratschläge, die Fromm gibt, sind dabei enorm wichtig für die Erziehung, sowohl für den schulischen als auch für den außerschulischen Bereich, weil sie mit der Frage Hand in Hand gehen, wie es der Mensch bewerkstelligen kann, geistig-seelisch gesund zu werden und zu bleiben.

[11] Die Befragten mussten den Fragen entweder zustimmen, oder aber sie ablehnen.

[12] Somit hatte man ein Werkzeug entwickelt, um antidemokratische Tendenzen im Individuum zu messen.

Final del extracto de 50 páginas

Detalles

Título
Der revolutionäre Charakter: Fromms Gegenentwurf zur Überwindung der autoritären Persönlichkeit
Universidad
Ruhr-University of Bochum
Curso
Erziehung und Macht
Calificación
1,0
Autor
Año
2010
Páginas
50
No. de catálogo
V272555
ISBN (Ebook)
9783656644545
ISBN (Libro)
9783656644538
Tamaño de fichero
709 KB
Idioma
Alemán
Notas
Bei dieser Arbeit geht es um die pädagogische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Autoritären Persönlichkeit, und wie Erich Fromm diesem sein Modell des revolutionären Charakters entgegenstellt. Aus dieser Kontrastierung werden sodann Konsequenzen für den pädagogischen Bereich gezogen.
Palabras clave
charakter, fromms, gegenentwurf, überwindung, persönlichkeit
Citar trabajo
Serkan Sanivar (Autor), 2010, Der revolutionäre Charakter: Fromms Gegenentwurf zur Überwindung der autoritären Persönlichkeit, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272555

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